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In Nordrhein-Westfalen wurde das Prinzip der Beteiligung von Betroffenen verletzt

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Wurde mit der Verabschiedung des 9. Schulrechtsänderungsgesetzes die Chance vertan, Inklusion in Nordrhein-Westfalen zu einer Erfolgsgeschichte zu machen? Der Philologenverband stellt in seinem Verbandsmagazin Bildung aktuell (1/2014) fest: „Die Unzufriedenheit mit der schulischen Inklusion wächst von Woche zu Woche.“ Und dies ist keine Wehklage von Lobbyisten, sondern Ausdruck der Stimmung vor Ort: Angst statt Zuversicht, Druck von oben statt Dialog mit den Betroffenen. Von Selbstständigkeit bei Schulen kann keine Rede mehr sein.

 

Eltern sind verunsichert

Das ganze Ausmaß der Unsicherheit lässt sich am besten am Beispiel einer betroffenen Familie mit einem behinderten Kind veranschaulichen. Wird bei der Schulanmeldung ein Förderbedarf und vielleicht ein zusätzlicher Bedarf an besonderen Hilfsmitteln festgestellt, damit das Kind am Unterricht teilnehmen kann, haben die Eltern nach neuem Recht die Wahl zwischen einer Förderschule und der Regelschule. Was sie in der Förderschule erwartet, kann sich die Familie bei einem Besuch dort anschauen. Alle Lehr- und Lernmittel sind vorhanden, eventuell notwendige Pflege kann gewährleistet werden. Sogar über den Zeitpunkt der Abholung durch den Bus können sich die Eltern informieren lassen. Und vor allem: Ausgebildete Sonderpädagogen erteilen den Unterricht.

Sollten die Eltern allerdings von ihrem Recht Gebrauch machen, die Regelschule zu wählen, weil das Kind sich wünscht, weiter mit den Freunden aus dem Kindergarten zur Schule gehen zu können, stellt sich die Informationslage schon ganz anders dar. Viele Schulen sind auf die anstehenden Herausforderungen nur schlecht vorbereitet.

 

Kommunen verprellt

Die Art und Weise, wie das „Inklusionsgesetz“ verabschiedet wurde, ließ den Kommunen keine Möglichkeit, ausreichende Vorbereitungen für die Inklusion an den Regelschulen zu treffen. Monatelang herrschte Verwirrung über die Umsetzungspläne der Landesregierung. Besonders die Frage nach der Kostenübernahme durch die Kommunen hemmte eine konstruktive Auseinandersetzung mit dem Thema. Die Kommunen, als wichtige Partner für eine gelingende Inklusion, wurden dadurch nachhaltig verprellt statt für eine gesellschaftliche Aufbruchsstimmung gewonnen.

Die unsichere Rechtslage, die durch das neue Inklusionsgesetz entstanden ist, lässt besonders bezüglich der finanziellen und gestalterischen Verantwortung wichtige Fragen offen. Das Recht der Kommunen, ihre Zustimmung zur Inklusion aus finanziellen Gründen zu verweigern, kann angesichts leerer kommunaler Kassen für die Eltern bedeuten, den im Gesetz nicht eindeutig formulierten Rechtsanspruch ihres Kindes erst einmal vor Gericht einklagen zu müssen. Damit ist die Situation für die betroffenen Eltern völlig unklar.

 

Fragen über Fragen

Hinsichtlich der konkreten Umsetzung des Inklusiven Unterrichts besteht außerdem keine verbindliche Zielsetzung, was Eltern und Schulen einer zusätzlichen Ungewissheit aussetzt. Folgende Fragen bleiben sämtlich unbeantwortet, wenn Eltern ein Kind mit Behinderung an einer Regelschule anmelden wollen: Wie kommen Eltern an die relevante Information über die Schule ihrer Wahl? Wird ein Sonderpädagoge/eine Sonderpädagogin den gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung begleiten? Wie viele Stunden wird er/sie in der Klasse sein? Wird jemand das Kind zur Schule bringen? Gibt es die notwendigen Hilfsmittel, die dem Kind das Lernen erleichtern?

Dringend nötig wäre es deshalb, Qualitätsstandards für die schulische Inklusion zu definieren und klare finanzielle Verantwortung zu übernehmen. Bei den Kommunen droht anderenfalls eine „Inklusion nach Kassenlage“. Reichere Städte können sich eben ein bisschen mehr Inklusion leisten.

 

Skeptische Lehrer

So problematisch die Lage aus Sicht der Eltern ist, so dramatisch ist sie auch aus Sicht der Schulen: Drei Viertel aller Lehrerinnen und Lehrer sehen inzwischen die Inklusion mit Skepsis und mit Ängsten. Sie fühlen sich überfordert. Die anfänglich vorhandene Aufgeschlossenheit ist mittlerweile in vielen Kollegien dem Gefühl gewichen, im Stich gelassen zu werden. Dabei stellt sich der Bedarf klar dar: Benötigt werden Fortbildungen, zusätzliches Personal in Form von Förderlehrern und eine zuverlässige – auch politische – Begleitung der wichtigen Veränderungsprozesse.

 

Grundsätze für ein Gelingen

Für eine erfolgreiche und an den Betroffenen orientierte Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung müssen folgende Grundsätze gelten:

Vor dem Hintergrund der dramatischen Finanzsituation nordrheinwestfälischer Kommunen ist die strikte Einhaltung des Konnexitätsprinzips Grundvoraussetzung für die Maßnahmen zur Inklusion.

Die Umstrukturierung des komplexen Systems von sonderpädagogischen Einrichtungen und allgemeinen Schulen stellt eine große Herausforderung für alle Beteiligten dar. Dabei muss die bestmögliche Qualität der Bildung und Versorgung aller Kinder im gemeinsamen Unterricht gewährleistet sein. Bei der schrittweisen Realisierung der Inklusion muss höchste Sorgfalt walten. Die Situation darf für kein Kind schlechter werden, nicht für Kinder mit Handicaps und nicht für Kinder ohne Handicaps. In keinem Fall darf das Niveau von Hilfe, Unterstützung und Förderung, das in den Förderschulen erreicht wurde, unterschritten werden. Der hohe Anspruch, die hohe Professionalität und der hohe Standard, mit denen heute bei uns Kinder und Jugendliche mit Behinderungen gefördert werden, müssen im gemeinsamen Unterricht erhalten bleiben.

Die Realisierung von Inklusion benötigt einen realistischen Zeitplan. Eilige Maßnahmen, die Qualitätsanforderungen und Ressourcenfragen außer Acht lassen, sind nicht verantwortbar.

Für das gemeinsame Lernen ist das Fach- und Erfahrungswissen der sonderpädagogischen Fachkräfte unverzichtbar. Die Bereitschaft der Lehrerinnen und Lehrer der allgemeinen Schulen und der Förderschulen, sich für diesen Prozess zu öffnen, ist notwendige Voraussetzung für das Gelingen der Inklusion. Auf diesem Weg müssen sie mit geeigneten Maßnahmen und der notwendigen Fortbildung unterstützt und begleitet werden. Willkürliche Zielbestimmungen und Terminierungen überfordern hingegen alle Beteiligten, insbesondere die Lehrerkollegien, die darauf nicht vorbereitet sind.

 

Gefahr erhöhter Spannungen

Sollte eine Neuformulierung eines fundierten Konzepts zur Durchführung der Inklusion nicht gelingen, werden einerseits Eltern von Kindern mit Handicaps in ihrer Hoffnung auf Inklusion enttäuscht werden. Eltern von Kindern ohne Handicaps werden andererseits die unzulängliche Praxis nicht akzeptieren. Statt mehr Inklusion wird es mehr Spannungen und Auseinandersetzungen geben, die die Lehrerkollegien nicht ausgleichen können.

Sowohl die Eltern von Kindern mit Behinderung als auch die Eltern von nichtbehinderten Kindern müssen auf eine gelingende Entwicklung hin zu einem inklusiven Schulsystem vertrauen können.

Das Recht der Eltern, das Leben ihrer Kinder eigenverantwortlich zu gestalten, ist zu respektieren und zu unterstützen. Eltern von Kindern mit Behinderung muss die freie Wahl des besten Förderorts für ihre Kinder möglich sein, das heißt, Eltern müssen gleichberechtigt wählen können, ob sie ihr Kind an einer Förderschule oder an einer allgemeinen Schule anmelden. Hierbei könnte besonders die Mindestgrößenverordnung zum Problem werden. Die Landesregierung leitet durch diese das stille Ende der Förderschulen ein, denn eine Förderschule, die die Mindestgröße unterschreitet, wird geschlossen. Wenn das Land nicht zumindest für einen Übergangszeitraum zusätzliche Mittel und Anreize bereitstellt, wird hier ein Experiment gestartet, das für die Belange der Kinder blind ist und nicht korrigiert werden kann, ehe noch der qualitative Erfolg der schulischen Inklusion nachweisbar ist. Auch eine unabhängige Beratung für alle betroffenen Eltern ist momentan nicht gewährleistet.

Wenn Eltern sich entscheiden, unter heute teils immer noch schwierigen Bedingungen ihrem behinderten Kind ein Leben mitten in der Gesellschaft zu ermöglichen, so sollten sie sich dafür nicht rechtfertigen müssen und keiner Diskriminierung ausgesetzt werden. Das unterstreicht auch die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und schließt die Möglichkeit ein, dass es für bestimmte Kinder mit Behinderungen weiterhin Förderschulen geben wird.

 

Betroffene beteiligen

Es ist allgemein bekannt: Inklusiver Unterricht lässt sich nicht schablonenhaft und an jeder Schule gleichzeitig einrichten. Vielfältige Lösungen unter Einbeziehung von Vorreiterschulen, wissenschaftlicher Begleitung und Unterstützung sowie einer stärkeren Eigenverantwortung von Schulen und Schulträgern müssen möglich, Leistungs- und Qualitätsansprüche aber weiter garantiert sein.

Die Verwirklichung der Inklusion ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, zu der sich die CDU NRW ausdrücklich bekennt und an der sie engagiert arbeitet. Inklusion kann aber nur gelingen, wenn sich innerhalb der Gesellschaft ein Bewusstseinswandel vollzieht und eine Kultur für Inklusion entwickelt wird. Reformen können dann gelingen, wenn Betroffene zu Beteiligten werden. In Nordrhein-Westfalen besteht, gemessen an diesem Grundsatz erfolgreicher Reformpolitik, noch großer Handlungsbedarf. Die Kernaufgabe muss deshalb sein, alle Betroffenen – Kommunen, Schulen sowie Eltern – in dieses gesellschaftspolitische Projekt zu integrieren.

 

Klaus Kaiser, geboren 1957 in Bremen (Kreis Soest), stellvertretender Vorsitzender der CDU-Fraktion des Landtages Nordrhein-Westfalen, dort Mitglied des Schulausschusses.

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