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Eine kurze Analyse der Europawahl in Deutschland

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„This time is different“ lautete der Slogan des Europäischen Parlaments zur Europawahl 2014. Doch folgt bereits seit der ersten Europawahl 1979 das Wahlverhalten eigenen Mustern. Generell wird von Nebenwahlen oder „Second-Order-Elections“ gesprochen. Treffender wäre der Begriff der „Fourth-Order-Election“, da selbst Kommunalwahlen für wichtiger gehalten werden. Weil Europawahlen eine geringere Bedeutung als nationalen Wahlen zugeschrieben wird, weicht das Wahlverhalten bei nationalen Wahlen erheblich ab. Bei jeder Europawahl kann über Denkzettelwahlen berichtet werden, unter denen meist die Partei des jeweiligen Regierungschefs zu leiden hat. Zudem bleiben die Wahlbeteiligungen zum Teil sehr deutlich unterhalb des Niveaus der nationalen Wahlen. Das ist mit größerer Experimentierfreudigkeit verbunden, wovon häufig Protestparteien profitieren. In Deutschland war vor dem diesjährigen Einzug der AfD in das Europaparlament lediglich einmal einer Protestpartei der Sprung über die damalige Fünf-Prozent-Hürde gelungen: 1989 waren die Republikaner mit 7,1 Prozent in das Europäische Parlament eingezogen. Gelegentlich taucht der Begriff der Ventilfunktion auf. Auch dass die kleineren Parteien zusammen auf etwa zweistellige Ergebnisse kommen, ist für Europawahlen in Deutschland nicht ungewöhnlich. Der Einzug einer populistischen Partei in das Europaparlament hat jedoch meist keine Relevanz für die nationalen Parlamente. Europakritische Parteien haben es somit leicht, in das Europaparlament zu gelangen, auf der nationalen Ebene gelingt es ihnen hingegen nur sehr schwer, von Europaskeptizismus zu profitieren. Obwohl das Parlament mittlerweile fast alle parlamentarischen Rechte erhalten hat, fristet es in der Bedeutungswahrnehmung ein Nischendasein. Ob die Personalisierung durch die vor allem von Martin Schulz verkündete Kandidatur für das Amt des Kommissionspräsidenten einen eigenen Effekt hat, ist schwer zu beantworten. Das europäische Mehr-Ebenen-System bietet den Menschen nicht die leicht verstehbare Konfrontation von Opposition und Regierung und somit nicht dieses Mittel, um politische Positionen zuordnen und verstehen zu können.

Vor allem der schwache Parteien- und Personenwettbewerb haben Einfluss auf die Wahlmotive, genauso wie die fehlende Konfrontation zwischen Opposition und Regierung das Wahlverhalten verändern – ein relatives Desinteresse und geringe Wahlbeteiligung sind die sichtbaren Folgen. Die Intensität der Mobilisierung von Wählern hatte bei der Europawahl einen maßgeblichen Einfluss auf das Ergebnis, wie der Vergleich mit der Bundestagswahl zeigt: Ein Drittel der Unionswähler, ein gutes Drittel der Linken-Wähler und etwa die Hälfte der AfD-Wähler zeigten sich wahlabstinent. Bei der SPD blieb hingegen nur etwa jeder vierte Wähler zu Hause (berechnet nach den Wählerwanderungsbilanzen von Infratest dimap sinkt die Zahl der Wähler insgesamt, so steigt der Einfluss kleiner Parteien). Immerhin gab es bei dieser Wahl einige Änderungen: Der Trend konstant sinkender Wahlbeteiligungen ist gebrochen. Die Wahlbeteiligung ist um 4,9 Prozentpunkte auf 48,1 Prozent gestiegen, wenn sie auch noch deutlich unter der der Bundestagswahl liegt. Und mit dem von den Sozialdemokraten inszenierten „Kampf“ um die Position des Kommissionspräsidenten ist so etwas wie „Personalisierung“ zumindest in den Wahlkampf eingezogen, selbst wenn der überwiegenden Anzahl der Wähler die Spitzenkandidaten unbekannt blieben.

 

Meinungsklima über die EU: so positiv wie selten zuvor

Deutschland ist nicht das Land der Euroskeptiker – im Gegenteil, es gibt bei aller differenzierten Betrachtung eher ein pro-europäisches Klima. Ein „Rekordniveau“ macht die Forschungsgruppe Wahlen in der Grundeinstellung zur EU aus. Noch nie habe seit dem Inkrafttreten der „Verträge von Maastricht 1992“ der Anteil der positiven Bewertungen so hoch gelegen. Trotz leichter Verluste kann die Union die Europawahl erneut als eindeutig stärkste Partei gewinnen. Dabei fällt das Abschneiden der Unionsparteien sehr unterschiedlich aus. Während die CDU bei geringen Verlusten von 0,6 Prozentpunkten ihr Ergebnis aus den Europawahlen 2009 etwa gehalten hat, hat die CSU 1,9 Prozentpunkte eingebüßt, was einem Minus von 7,6 Punkten in Bayern entspricht. Hierbei könnte die Bewertung der Koalitionäre eine Rolle spielen. Die Bundesregierung wird zwar von einer Mehrheit positiv bewertet, jedoch gibt es Unterschiede zwischen den Parteien. Während knapp die Hälfte aller Befragten mit CDU und SPD in der Bundesregierung zufrieden ist, kommt die CSU auf einen Wert von lediglich 29 Prozent. Mit dem schlechtesten Vorwahlergebnis von 20,8 Prozent war es höchst wahrscheinlich, dass die SPD zulegen würde. Zugute kommen ihr die positiven Bewertungen ihrer Politik und ihres Personals auf Bundesebene. Zu den Neuerungen zählt der Einzug der AfD und der „sonstigen“ Parteien in das Europäische Parlament. Bei der Anhängerschaft der AfD gibt es deutliche Hinweise, dass sie vor allem „Protestwahlmotive“ geltend machen. Während die Mehrheit von 67 Prozent aller Wähler die jeweilige Partei aus Überzeugung wählt, sagt dies gerade einmal ein Drittel der AfD-Anhänger. Dies bedeutet, dass sechzig Prozent „Enttäuschung von einer anderen Partei“ als Hauptwahlmotiv angeben. Lediglich die Linke kommt mit 41 Prozent an diesen hohen Enttäuschungsgrad heran. Die AfD findet etwas stärkeren Rückhalt bei jüngeren Männern. Sie kommt in der Gruppe der jüngeren Wähler (bis 34 Jahre) mit mittlerem Bildungsniveau auf ihren höchsten Wert (10,6 Prozent) und schneidet in Sachsen am besten ab. Sozialstrukturell sind dies keine typischen Merkmale einer konservativ-bürgerlichen Wählerschaft.

Die „Sonstigen“ Parteien konnten ihre Vorwahlergebnisse nur geringfügig verändern. Die Gewinne und Verluste belaufen sich auf weniger als einen Prozentpunkt. Somit kann man nicht davon ausgehen, dass der Wegfall der Fünfbeziehungsweise Drei-Prozent-Hürde einen Einfluss auf ihr Ergebnis hatte. Politisch hat die „Null“-Prozent-Hürde jedoch Auswirkungen, da folgende Parteien mit jeweils einem Abgeordneten im Europaparlament vertreten sein werden: Freie Wähler, Tierschutzpartei, FAMILIE, PIRATEN, ÖDP, NPD und „Die PARTEI“. Es gibt eine Gruppe, bei der diese „sonstigen“ Parteien, die AfD oder auch in ihrer Hochphase die PIRATEN, einen starken Rückhalt finden: Es haben sich fast zwanzig Prozent der unter 30-jährigen Männer für eine nicht „etablierte“ Partei entschieden. Die größte Unterstützung finden die „Sonstigen“ bei Wählern mit niedriger Bildung, die jünger als 34 Jahre sind. Hier kommen sie auf einen Anteil von 25,2 Prozent. Anscheinend neigen jüngere Männer zu einer gewissen parteipolitischen Experimentierfreude.



Viola Neu, geboren 1964 in Ludwigshafen am Rhein, Leiterin des Teams Empirische Sozialforschung, Hauptabteilung Politik und Beratung der Konrad-Adenauer-Stiftung.