Cees Nooteboom ist ein wunderbarer Erfinder und Erzähler von Geschichten. Einmal bat ihn die Accademia della Crusca in Florenz, über einen Buchstaben des Alphabets zu schreiben. Nooteboom entschied sich für das „L“, weil es fürs Lesen und fürs Laufen stehe. Dieses Bekenntnis hängt wiederum mit der Freiheit, der libertà, zusammen und mit der Einheit von Denken und Bewegung. Das freie Wandern durch Länder, Städte und Bücher zeichnet sein gesamtes Werk aus. Cees Nooteboom, der Literaturpreisträger der Konrad-Adenauer-Stiftung 2010, ist ein philosophierender Weltbürger, für den Reisen und Sehen im Beschreiben der Welt zusammenfallen.
Geboren ist Cees Nooteboom am 31. Juli 1933 in Den Haag. Die Kindheit während der nationalsozialistischen Besatzungszeit sensibilisierte ihn früh für die Schrecken von Krieg und Diktatur. Am 16. Mai 1940 marschierte die Wehrmacht in Amsterdam ein, die Königin wandte sich hilflos an ihr Volk. Polizei und Verwaltung führten die Befehle der Besatzer aus, der Widerstand beschränkte sich auf „kaum hörbare Töne in einem Meer des Schweigens“, wie Barbara Beuys schreibt. Cees Nooteboom erinnert sich an den Einmarsch der Deutschen: „Die Straße ist breit, die Menschen am Rand sind still, und dazwischen, in der prächtigen Mitte, zieht und rattert die endlose graue Armee“. Sein Vater kam 1940 beim englischen Bombardement auf Den Haag ums Leben; die Familie war evakuiert. Der Junge mit dem Taufnamen Cornelis Johannes Jacobus Maria wuchs fortan in katholischen Klosterschulen in Eindhoven und Venray auf.
In der Ferne
Sein erstes Geld verdiente Cees Nooteboom in Werbebüros und bei Banken. Vom Stiefvater aus dem Haus geprügelt, lief er in Amsterdam als „Dandy ohne Geld“ herum, mit Samtjacke, buntem Schal und Spazierstöckchen. Er schrieb im Alter von zwanzig Jahren seinen ersten Reiseroman Philip en de anderen, der 1955 erschien, ihn über Nacht bekannt machte und in der deutschen Übersetzung Das Paradies ist nebenan zum Longseller wurde. 1957 heuerte er eines Mädchens wegen als Leichtmatrose auf einem Klipper nach Surinam an und hielt dort beim Vater seiner Braut um deren Hand an – vergeblich. Das hinderte ihn nicht, sie in New York zu heiraten. In den folgenden beiden Jahrzehnten schrieb Nooteboom neben Songtexten, Gedichten und Lyrikübersetzungen vor allem Reiseberichte, um seinen Unterhalt zu sichern. In der neunbändigen Werkausgabe des Suhrkamp Verlages (2008) bilden sie das Kernstück eines an Themen und Formaten vielfältigen Werkes.
Als Reiseschriftsteller ist Cees Nooteboom ein Weltbürger. Der Autor lebt in Amsterdam, in Berlin, auf Menorca, er hat fünf Erdteile, darunter fast alle europäischen Länder, bereist. „Ich ziele wie ein Pfeil / auf die Ferne, / aber in der Ferne / bin ich / weg“, heißt es in dem Gedicht „Weg“. Der Blick zurück in die Geschichte gehört zur Grundausstattung von Nootebooms reiseliterarischem Schaffen. Poseidon ist Adressat und zugleich divinatorischer Stifter der auf den Reisen und Meerfahrten entstehenden „Legenden der Welt“.
Anfang und Ende
Der zweite Pfeiler des Werkes sind Romane. Sein Durchbruch gelang Nooteboom 1980 mit Rituale. Der Roman erschien 1984 in einem DDR-Verlag, 1985 in der Bundesrepublik und wurde 1989 verfilmt. Auch hier geht es um weltbürgerliche Themen, um kulturelle Rituale, um die versuchte Rückkehr ins Paradies. Auch das in Los Angeles geschriebene Berlin-Epos Allerseelen (1999), der in Australien und Österreich spielende Liebesroman Paradies verloren (2004) und vor allem Die folgende Geschichte (1996), die kein Ende finden kann, weil die Poesie mit jedem Ende, also auch mit dem Tod, etwas anfangen kann, erzählen unaufdringlich und untragisch von der Suche nach den letzten Dingen. Ein Altphilologe schläft in Amsterdam ein, wacht in Lissabon wieder auf und begegnet am Ende auf einem Schiff Figuren aus seiner Vergangenheit – auf einem Totennachen.
Nooteboom wäre nicht Nooteboom, wäre er nicht auch ein wachsamer politischer Zeitgenosse. Das dokumentiert sein Berlin-Reisebuch Berlin 1989 | 2009. Es ist persönliche Chronik und historischer Kommentar der einst geteilten, jetzt wiedervereinigten Stadt, aufgebaut auf Erfahrungen aus fast fünfzig Jahren. Im Januar 1963 bekam er in Ostberlin einen ideologischen Stadtführer in die Hand gedrückt, in dem Respekt vor der „Schutzmauer“ gefordert wurde. Im November 1989 erlebte er den Fall dieser Mauer. Während die Menschen in den Westen strömten und Trabis auf dem Kurfürstendamm fuhren, ging er in den Ostteil der Stadt und beobachtete dort die unmittelbaren Folgen der Selbstbefreiung des Volkes. Zwanzig Jahre später liest er, ein „Mann, in Worte eingewickelt“, in einem Lokal „Zum Nußbaum“ Zeitungen „randvoll mit Krise“.
„Sokratisches Europa“
Dass der Schriftsteller nichts anderes tut, als die Stimmen der Dichter zu sammeln, ihre Arbeitsorte aufzusuchen und ihre Lebensgeschichten fortzuschreiben, ist der Grundeinfall des Romans Der Ritter ist gestorben. In diesem dialogischen Imaginationsraum kann sich ein „sokratisches Europa“ (Adolf Muschg) entfalten. „Die Phantasie hat keinen anderen Ausgangspunkt als sich selbst. Sie ist nicht wertfrei, liefert allerdings auch keine Werte auf Bestellung. Sie wirkt in der Welt als subversive Kraft, als Trost, als Enthüllung, als Widerstand, als Besinnung, sie hat die tausend Gesichter des Unbenennbaren, sie geht ihrer Wege und taucht immer dort auf, wo sie von keinem erwartet wird, und stets wird sie sich über unsere Fragen und Forderungen wundern“ – so Cees Nooteboom.
Auf solche Weise versetzt der Autor Berge, und sei es In den niederländischen Bergen in der gleichnamigen Novelle, in der die Provinz Limburg, der südliche Zipfel der Niederlande, kartografisch so langgezogen wird, dass das Land über den Balkan bis zur griechischen Grenze verläuft und als interkultureller Musterkorridor Europas gelesen werden kann.
Auf diese Weise überträgt Cees Noteboom das kulturelle Erbe Europas in die nachmoderne Gegenwart, „jenseits von Ideologien und verengenden Weltanschauungen“ (Norbert Lammert).
Michael Braun, geboren 1964 in Simmerath, Leiter des Referates Literatur der Konrad-Adenauer-Stiftung Sankt Augustin und außerplanmäßiger Professor für Neuere deutsche Literatur und ihre Didaktik an der Universität zu Köln.
Literatur von und zu Cees Nooteboom:
„Ich hatte tausend Leben und nahm nur eins“. Ein Brevier herausgegeben von Rüdiger Safranski, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008.
Briefe an Poseidon. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen, Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
Der Augenmensch: Cees Nooteboom; herausgegeben von Daan Cartens. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1995.
Gesammelte Werke in neun Bänden. Übersetzt aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen u. a., Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008.
Hotel Nooteboom: Eine Bilderreise ins Land der Worte. Regie: Heinz Peter Schwerfel. DVD, filmedition suhrkamp, Berlin 2012.
Literaturpreis der KAS 2010: Cees Noteboom; herausgegeben von Günther Rüther,Sankt Augustin 2010.