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Der Westen braucht neue Fortschrittsutopien

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„Überspitzt gesagt“, schreibt Herfried Münkler in seiner Mythengeschichte der Deutschen, „löste der Mercedesstern das Eiserne Kreuz der Kriegsgeneration ab.“[1] Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland – nicht anders als die deutsche Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert überhaupt – war maßgeblich von Wissenschaft und Technik geprägt. Deutschland stieß als Letztes zum Konzert der europäischen Staaten und empfand sich lange als „verspätete Nation“. Dieser Aufstieg gelang nicht zuletzt durch die Gründerzeit.

Die den Deutschen heute oft unterstellte Technikfeindlichkeit ist somit ein Klischee, wenngleich auch die Technikkritik zur Geschichte der Technik gehört. Einer der wenigen positiven Mythen der deutschen Geschichte nach 1945 ist das Wiedererstarken der Industrie. Wo andere Länder Revolutionen, Befreiungskriegen oder der Entstehung der Demokratie gedachten, blickten die sich den Mythen der Vergangenheit entledigenden Deutschen nach vorn. Sie glaubten an die identitätsstiftende Wirkung ihrer weltweit gefragten Produkte. Sie schufen damit ein später zwar oft belächeltes, aber durchaus Frieden stiftendes Gegenbild zur bellizistischen Rhetorik vergangener Zeiten, als man vom „Platz an der Sonne“, vom „Raum im Osten“ und von anderem mehr träumte. Der Wohlstandsmythos des Wirtschaftswunders war ebenso wie die Konsumbegeisterung nach 1989 vieles, aber eines nicht: imperial.

 

Grüne Industrialisierung und Technikmythos

Es ist deshalb nicht übertrieben, zu sagen, dass auch die grüne Industrialisierung der Gegenwart an diesen Technikmythos anknüpft, die Energiewende ohne eine hohe Technikaffinität der Deutschen kaum denkbar wäre. Die Transformation der Industrie in Richtung Ressourcenbewusstsein ist zu einem Wert geworden, den viele Deutsche als Botschaft in die Welt hinein empfinden. Für manchen ist die Energiewende trotz ihrer offenkundig gewordenen Probleme nicht weniger als die „Reformation des 21. Jahrhunderts“.[2]

Wenn der britische Historiker Niall Ferguson (trotz seines bekannten Hangs zu publikumswirksamen Thesen) nun einen Niedergang des Westens beklagt, so ist dies auch ein Thema der Deutschen. Weniger deshalb, weil die vermeintlichen Anzeichen für diesen Niedergang – Überregulierung, Sicherheitsdenken, schwache Zivilgesellschaften – auch hier ein handfestes Problem darstellten. Sondern deshalb, weil Ferguson ein entlarvendes Licht auf das Hadern mit dem technischen Fortschritt und die Risikokultur der Gegenwart wirft.

Man muss deshalb nicht in die Vergangenheit zurückgehen, um zu sagen: Die Industrie war gerade in Deutschland immer ein ambivalentes Symbol des Fortschritts. Als Antwort auf den technischen Fortschritt formierte sich eine besonders engagierte Umweltbewegung am Beginn des 19. Jahrhunderts, entstand im Schatten der Stahlwerke die Wandervogel- und Heimatschutzbewegung. Das Pendel schlug in beide Seiten weit aus. Technisierung und Technikkritik: Sie sind bis heute zwei Seiten einer Medaille der deutschen Geschichte.

Man mag darum geteilter Meinung darüber sein, ob wir gegenwärtig in einer Phase des Aufbruchs oder der Stagnation leben und ob die Beantwortung dieser Frage überhaupt zeitgemäß und von Relevanz ist. Die Zufriedenheit der Jugend in Deutschland oder ein europaweit führender Industrieanteil am Bruttoinlandsprodukt scheinen die Richtigkeit des bisherigen Weges zu untermauern – und das Vertrauen der Menschen in ebendiesen.

 

Hadern mit der Moderne

Der Wahlkampf lebte folgerichtig nicht von Utopien und Vorschlägen, sondern vom Erhalt des Status quo. Das Fernsehduell zwischen der Kanzlerin und ihrem Herausforderer enthielt zwar viele Fragen zur Eurokrise, aber nur drei zur Energiewende und zur Ungleichheit des internationalen Wettbewerbs. Und keine einzige Frage richtete sich auf die Begeisterung für das Neue: Innovationen, Technologien, die an den Grenzen des Vorstellbaren rütteln, und für die Aufbrüche ins Ungewisse in einer volatilen Zeit.

„Damit Deutschland stark bleibt“ oder Ähnliches mehr: Nahezu alle politischen Kräfte gaben zu verstehen, dass die Zukunft bestenfalls eine Verlängerung der Gegenwart sei. An diesem Credo hat sich seit dem 22. September nichts geändert.

Das Problem an dieser Rechnung hat mit einer Haltung zu tun, die auch Ferguson benennt: So manche Volkswirtschaft zehrt bereits von der Substanz; es ist ein schleichender, kein lauter Prozess. Die öffentlichen Investitionen und jene der Unternehmen sind auch in Deutschland seit Jahren rückläufig. Abschreibungen werden im immer geringeren Maße reinvestiert. Die „natürliche“ Drift, die es bei neuen Produktionsstandorten in Richtung der Märkte etwa in Asien gibt, wird durch Energieverteuerung und andere politische Eingriffe verstärkt. 98 Prozent der Produktionszuwächse weltweit in den letzten zehn Jahren geschahen durch Nicht-OECD-Länder. Während 1992 nur sechzehn Prozent der Neuwagenkäufe in Schwellenländern vonstattengingen, waren es 79 Prozent im Jahr 2012.

Auf die deutschen Stärken zu verweisen und einer Eigendynamik der Prosperität zu vertrauen, greift deshalb bei allem Anlass zur Freude zu kurz. Die Deindustrialisierung ist zwar ein Schreckgespenst, das man partout nicht zum Fenster hineinlassen will. Zugleich leisten wir uns Verteilungs- und Wachstumsdebatten, fordern den „Abschied vom Überfluss“, während weltweit die Gaspreise purzeln und die Europäische Union ein neues Ziel ausgegeben hat: mehr Industrieanteil am Bruttoinlandsprodukt. Dass diese Warnungen nicht wirklich verinnerlicht oder als das übliche Klappern abgetan werden, das zum Handwerk gehört, das ist das eigentliche Dilemma.

 

Selbstentfaltung, aber nicht um jeden Preis

Wer glaubt, ein Ausweg aus diesem Dilemma liege in der schlichten Forderung nach mehr Selbstentfaltung statt Regulierung, übersieht die Ursachen der weltweiten Krisen. Anders, als es Ferguson tut, sollte man auch den Aufstieg von Volkswirtschaften wie China oder Indien nicht automatisch als Indiz für den eigenen Abstieg nehmen. Die Dialektik der Kräfte verkennt nicht nur die gewaltigen ökologischen und sozialen Probleme, die viele Schwellenländer haben: Gerade die Zivilgesellschaften sind dort vergleichsweise schwach ausgebildet. Mehr noch, es besteht ein Zusammenhang zwischen autoritärer Industrie- und Entwicklungspolitik und unterdrückten Zivilgesellschaften. Insofern müsste Ferguson dem Westen fast applaudieren, weil aktive Zivilgesellschaften das beste Mittel gegen Stagnation sind!

Doch er beklagt ja gerade das: Dass die Zivilgesellschaften auch im Westen nicht mehr das seien, was sie einmal waren, die Peergroups sich abgrenzten und Cocooning betrieben, anstatt sich für andere, Schwächere zu engagieren und die Logik des Eigengewinns konsequent über das volkswirtschaftliche Wohl zu stellen. Hier schließt sich der Kreis zur Energiewende und der Frage, was eigentlich gut für die Gesellschaft im Ganzen wäre. Freilich stellen diese Frage selten jene, die den Hebel besäßen.

Wer deshalb im Umkehrschluss an die vollständige Regulierung und eine zunehmende Verzichts- und Verbotsethik in der Gesellschaft glaubt, die von Parteien, Nichtregierungsorganisationen und auch Kirchen geübt wird, irrt. Denn er muss bedenken, dass gerade in diesem Punkt die Herausforderer dem Westen haushoch überlegen sind. Die westliche Welt, schrieb der frühere Verfassungsrichter Udo Di Fabio in seiner Kritik des Buches von Ferguson, sei dort am stärksten, wo sie die freie Entfaltung des Einzelnen zulasse, eigenverantwortliches Handeln und Unternehmergeist zum Wohle der Gesellschaft ermögliche.[3] Dass dies nicht ohne einen regulatorischen Rahmen geschehen kann, bedarf keiner Erklärung.

Man kann Prosperität und technischen Fortschritt aber ebenso wenig verordnen wie Solidarität. Beides hat auch mit Freiheit, Leidenschaft und Empathie zu tun. Wenn Ferguson somit mehr Wagemut, „Bildung“ im alteuropäischen Sinne (man denkt unweigerlich an Donald Rumsfeld) und unabhängiges Denken statt Sicherheitsfixierung fordert, mehr Risikobereitschaft statt Auf-Sicht-Fahren, macht er einen entscheidenden Punkt – mögen seine Diagnosen und Rezepte auch von gestern sein.

 

German Angst

Der Niedergang des Westens (im englischen Original The Great Degeneration) klingt in deutschen Ohren unweigerlich wie eine Anspielung auf Oswald Spenglers Klassiker Der Untergang des Abendlandes. Dies ist ein letzter Grund, warum sein Buch gerade hierzulande jene große Resonanz erfährt, die es hervorgerufen hat.

Spenglers Buch, das Europa und Amerika übrigens noch gemeinsam als „Abendland“ sieht, entstand als Antwort auf die Sattheit und Weltkriegserwartung des Jahres 1914, die Krise der bisherigen Kultur. Sein Autor gab sich darin wie viele konservative Intellektuelle der Weimarer Zeit von Gottfried Benn bis Martin Heidegger und Friedrich Georg Jünger als Feind der Technik. Er sprach vom „Satanismus der Maschine“, während die Linke ihren Fortschrittsbegriff an Wissenschaft und Technik nicht anders knüpfte als das aufstrebende Bürgertum des 19. Jahrhunderts. Die Krisis der Kultur zur Jahrhundertwende hatte entscheidend mit einem Wandel dieser Fortschrittsutopie zu tun.

Der Untergang des Abendlandes war das meistverkaufte geschichtskritische Werk der Weimarer Republik. Man las es also zu einer Zeit, als die gedankliche Freiheit in Deutschland objektiv so groß war wie noch nie zuvor. Es war aber auch die Zeit, in der die „German Angst“ in puncto Geldpolitik infolge der Inflationen der 1920er-Jahre und der Instabilität der Demokratie geboren wurde.

So mag auch Ferguson manchem lediglich ein Beweis dafür sein, dass Kassandrarufe zum Niedergang des Westens ein alter Hut sind, ja gerade der westlichen Fähigkeit zur Selbstkritik entstammen. Und doch lohnt es sich, über den gegenwärtigen Zustand dessen nachzudenken, was lange zu den Stärken des Westens gehörte.


Andreas Möller, geboren 1974 in Rostock, Historiker, Politikberater, Autor des Buches „Das grüne Gewissen. Wenn die Natur zur Ersatzreligion wird“.


[1] Herfried Münkler: Die Deutschen und ihre Mythen, 3. Auflage, Berlin 2009, Seite 11.
[2] Der Vergleich wird dem Berliner Wirtschaftswissenschaftler Christian von Hirschhausen zugeschrieben, siehe dazu die Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.11.2012.
[3] Udo Di Fabio: „Last der Freiheit“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.09.2013.
 

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