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Eine kurze Geschichte der gewaltsamen Landnahme von der Antike bis in die heutige Zeit.

Seit am 24. Februar 2022 russische Truppen in die Ukraine einmarschiert sind, ist immer wieder vom Recht des Stärkeren die Rede. Dass in Europa ein Staat einen anderen überfällt, wurde stiefmütterlich wie aus der Zeit gefallen angesehen. Doch war es das jemals?

Unter dem „Recht des Stärkeren“ versteht man, dass ein – in egal welcher Hinsicht – Stärkerer seine Interessen durchsetzt. Ob der Rüpel auf dem Schulhof, ein Staat, ein Repressionsapparat. Wir werden zwangsweise mit diesem Phänomen, welches sich einer regelbasierten Ordnung entzieht, konfrontiert.

​​​​​​Das Konzept des Rechts des Stärkeren beschäftigt die Menschheit seit jeher. So befand der antike Geschichtsschreiber Thukydides, das juristische Recht komme nur in einem ausgewogenen Kräfteverhältnis zur Geltung. Wenn eine Partei der anderen überlegen sei, setze sich die stärkere durch[1]. Thukydides beschreibt das am Schicksal der Melier, der Bewohner der Insel Melos, die sich den mächtigeren Athenern nicht anschließen wollten. Zu guter Letzt ist Melos eingenommen, und die Athener haben alle erwachsenen Männer hingerichtet. Der Stärkere hatte sich durchgesetzt.

Auch die Anhänger des Sozialdarwinismus beriefen sich auf das Recht des Stärkeren. Während der Kolonialisierung und des Nationalsozialismus zeigte sich sein hässliches Antlitz. Die sogenannte „natürliche Auslese“ – wie sie etwa die Nationalsozialisten propagierten – wurde nicht mit einer rein körperlichen Kampfstärke begründet. Maßgeblich war – nach Darwin – inwieweit Lebensformen in der Lage seien sich anzupassen. Aus dem Kampf ums Überleben resultiere ein naturgemäßes Recht des Stärkeren. Der Stärkere überlebt, indem er sich auf Kosten des Schwächeren durchsetzt[2].

 

Der Territorialkrieg – ein Relikt aus der Vergangenheit?

Seine Interessen mit Waffengewalt durchzusetzen, ist in der internationalen Politik meist das letzte Mittel der Wahl. Kriege sind teuer. Man ist auf die Unterstützung der eigenen Bevölkerung angewiesen. Und nicht zu vergessen: Man könnte auch eine Niederlage erleiden.

In der Öffentlichkeit herrscht der Eindruck vor, die häufigste Art von Kriegen der vergangenen Jahre seien Bürgerkriege gewesen. Der „klassische“ Territorialkrieg zwischen zwei Staaten – war bis zum Krieg in der Ukraine – aus dem öffentlichen Bewusstsein in Deutschland verschwunden. Doch tatsächlich war bei den sechs letzten beendeten zwischenstaatlichen Kriegen ein Grenzkonflikt[3] ursächlich und nach allen dieser Kriege wurden Territorien der besiegten Partei langfristig besetzt oder annektiert,

Ob wirtschaftlicher Verflechtungen, transnationaler finanzieller Folgen oder drohender Sanktionen – ein militärischer Angriff ist für den vermeintlich Stärkeren heutzutage oft nicht zweckdienlich. Die gewaltsame Landnahme, wie sie seit Jahrtausenden praktiziert und auch akzeptiert wurde, ist international tabuisiert und wird durch mannigfaltige Rechtsregelungen ausdrücklich verurteilt. Solche Verurteilungen sind keineswegs mit der Durchsetzung besagter Regelungen gleichzusetzen, doch gibt es einen juristischen Rahmen, und der gilt für alle. Das war nicht immer so.

 

Gibt es so etwas wie das Recht zum Krieg?

Lange war das ius ad bellum, das Recht zum Krieg, unanfechtbar. Staaten und ihre Herrscher setzten ihre Interessen mit Waffengewalt durch: Sei es, um das eigene Reich zu erweitern, aus wirtschaftlichem Kalkül oder wegen konfessioneller Verwerfungen. Noch bis ins 19. Jahrhundert wurde der Angriffskrieg zelebriert. Das änderte sich nach dem Ersten Weltkrieg. Erste völkerrechtliche Verträge erklärten Angriffskriege für völkerrechtswidrig. Krieg wurde geächtet.

Der Expansions- und Vernichtungswillen Deutschlands, der in den Zweiten Weltkrieg mündete, trieben diese ersten zaghaften Entwicklungen des Völkerrechts voran. Die Nürnberger Prozesse läuteten ein neues Kapitel ein: Während bis dahin nur Staaten zur Verantwortung gezogen werden konnten, wurden nun auch Individuen für die Führung eines Angriffskrieges belangt.

Das Völkerrecht verbietet Angriffskriege, dem Aggressor drohen Sanktionen und internationale Ächtung. Und doch greifen Staaten immer wieder andere Staaten an und versuchen, mit aller Macht das Recht des Stärkeren durchzusetzen. Warum?
 

„Knapp 77 Prozent aller Kriege seit 2000 waren aus Sicht der Angreifer also erfolgreich. Was sollte einen militärisch überlegenen Staat davon abhalten, seine Interessen auf Kosten eines Schwächeren durchzusetzen? Zeigt doch die jüngere Geschichte, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit als Sieger vom Feld geht.“

Jona Thiel

Beispiele unserer Zeit

Die Antwort ist banal: Weil es funktioniert. Sehen wir uns alle seit dem Jahr 2000 beendeten zwischenstaatlichen Kriege an: Aus zehn der insgesamt dreizehn Kriege ging der militärisch stärkere Staat als Sieger hervor und erreichte seine Kriegsziele – wenn nicht gar vollständig, dann doch teilweise[4]. Knapp 77 Prozent aller Kriege seit 2000 waren aus Sicht der Angreifer also erfolgreich. Was sollte einen militärisch überlegenen Staat davon abhalten, seine Interessen auf Kosten eines Schwächeren durchzusetzen? Zeigt doch die jüngere Geschichte, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit als Sieger vom Feld geht.

Eine umfassende Sanktionsandrohung könnte einen potenziellen Angreifer abschrecken. Doch sie verlangt nach Einigkeit statt Wankelmut. Als sich Russland 2008 in einem 5-tägigen Krieg etwa zwanzig Prozent des georgischen Staatsgebiets de-facto einverleibte, waren Sanktionen auf dem Kaukasus-Sondergipfel der EU nicht durchsetzbar. Und als auf die völkerrechtswidrige Invasion des Iraks durch die US-geführte Koalition keine Konsequenzen folgten, hat der Westen im arabischen Raum viel Vertrauen verspielt. Auch die Ohnmacht der Bundesregierung angesichts der aserbaidschanischen Vertreibung der armenischen Bevölkerung aus Berg-Karabach (wenn es auch völkerrechtlich zu Aserbaidschan zählt) reiht sich ein in den laxen Umgang mit militärischen Offensiven gegen unterlegene Staaten. Die Signalwirkung solchen Nichthandelns ist zwar fatal, bleibt aber im Endeffekt unter dem Radar.

Ohne Abschreckungs- und Bestrafungsmechanismen fühlt sich ein Aggressor nachgerade ermutigt, seine neoimperialistischen Träume in die Tat umzusetzen. Und doch wird kein noch so ausgeklügelter Sanktionsplan einen kriegsbereiten Staat davon abhalten, Waffengewalt anzuwenden. Etwaige Sanktionen werden einkalkuliert, alternative Märkte werden erschlossen.

Nehmen wir Russland: Die zu erwartenden Sanktionen haben Russland nicht davon abgehalten, in die Ukraine einzumarschieren. Und nach ihrem Inkrafttreten haben sie das Land nicht derart geschwächt, dass es bereit wäre einzulenken. Aus eigener Kraft wird die Ukraine vermutlich nicht in der Lage sein, Russland von seinem Territorium zu vertreiben. Sie ist auf die Unterstützung des Westens existenziell angewiesen. Denn ohne massive militärische Durchbrüche der Ukrainer würde der Krieg damit enden, dass ein Teil des Landes von Russland besetzt bzw. annektiert wäre. Und der Beweis wäre erbracht, dass sich das Recht des Stärkeren auch in Europa eben doch durchsetzt.

Jona Thiel, geboren 1999 in Troisdorf (Nordrhein-Westfalen), ist studierter Geschichts- und Politikwissenschaftler. Er publiziert als freier Journalist und fungiert als Sprecher, sowie Autor der Forschungsgruppe "Afrika" des Think Tanks "Kölner Forum für Internationale Beziehungen und Sicherheitspolitik". Zudem ist der Historiker ebenfalls als Autor für die Forschungsgruppe "Friedens- und Konfliktforschung" tätig. Thiel führt einen Blog, welcher sich primär historischen und außenpolitischen Themen zuwendet (Instagram: @gepo.global).

 

[1] Thukydides 5. 89; S. 221.
[2] Ebert, Thomas, Soziale Gerechtigkeit- Ideen. Geschichte. Kontroversen, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, 2015, S. 260-267.
[3] Heglig-Krise (2012), Bergkarabach Konflikt (2016), Operation Spring Shield (2020), 2. Bergkarabachkrieg (2020), Kirgistan-Tadschikistan Grenzkonflikt (2022), Armenien-Aserbaidschan Konflikt (2022).
[4] Wertung der Palästinensischen Autonomiegebiete als Staat; Uganda-Ruanda-6-Tage Krieg (2000), 2. Intifada (2000-2005), US-Invasion Afghanistans (2001), US-Invasion Iraks (2003), Georgienkrieg (2008), Militärintervention in Libyen (2011), Heglig-Krise (2012), Bergkarabach-Konflikt (2016), 2. Bergkarabachkrieg (2020), Armenien-Aserbaidschan-Konflikt (2022).

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