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Der Preis für die Freiheit?

Ein Gasembargo ist keine nachhaltige Lösung für Deutschland und Europa, meint der USA-Experte Josef Braml.

Wer sich auf akademische Studien, etwa des UCLA-Ökonomen David Baqaee und seiner Co-Autoren beruft, wonach die deutsche Wirtschaft selbst in einem extremen Szenario eines Stopps russischer Gasimporte nur geringe Einbußen in Höhe von ein bis zwei Prozent ihres BIP zu schultern hätte, muss sich fragen, warum viele deutsche Politiker derartig zögern, ein Gasembargo gegen Russlands völkerrechtswidrigen Angriff auf die Ukraine einzusetzen. Bei genauerem Hinsehen stellt sich aber heraus, dass solche Szenarien eher Gedankenexperimente darstellen und auf theoretischen Annahmen hinsichtlich der Flexibilität unserer Volkswirtschaft und alternativer Beschaffungsmöglichkeiten beruhen. Auch ignorieren sie die Realität auf den Energiemärkten sowie geopolitische Zusammenhänge.

 

So sehr der politisch-moralische Handlungsdruck wächst, auf russische Kriegsverbrechen mit aller Entschiedenheit zu reagieren, so wenig lassen sich realpolitische Bedenken wegwischen: Es ist für Deutschland reines Wunschdenken, dass sich russische Gaslieferungen mittelfristig durch erneuerbare Energien und kurzfristig durch „Freiheitsgas“ aus den USA oder aus dem aus Menschenrechtsperspektive fragwürdigen Katar kompensieren lassen.

 

Nach Deutschlands Ausstieg aus Kernenergie und Kohle bleibt Erdgas auf absehbare Zeit – bis das volle Potenzial von Wind- und Solarenergie ausgeschöpft ist – eine notwendige Übergangsenergie. Deutschland kann Erdgas nicht aus anderen Quellen beziehen; es verfügt noch über keine Flüssiggasterminals, um russische Gaslieferungen aus Übersee zu ersetzen. Selbst wenn es ein Überangebot auf dem Europäischen Markt gäbe, wären die Kapazitäten der innereuropäischen Gaspipelines zu gering.

 

Sollte Deutschland (oder Putin) die russischen Gasimporte stoppen, beträfe das etwa die Hälfte der Deutschen, die ihre Wohnungen mit Gas beheizen. Die von Gasimporten abhängige deutsche Industrie wäre noch stärker beeinträchtigt. Wie lange wären deutsche Bürgerinnen und Bürger bereit, „für den Frieden zu frieren“ und mit der Ukraine solidarisch zu sein, während sie ihre Kaufkraft durch Inflation oder Arbeitsplatzverluste schwinden sehen? Dass Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Die Grünen), Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) und auch Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU) zumindest vorerst nicht die politische Verantwortung für absehbare wirtschaftliche und soziale Verwerfungen übernehmen wollen, ist also durchaus nachvollziehbar; zumal der innenpolitische Druck sehr schnell auch die westliche Geschlossenheit in Sachen Sanktionen infrage stellt. Deren beabsichtigte Wirkung, das Verhalten des Machthabers im Kreml zu verändern, ist ohnehin nicht erwiesen.

 

Nur auf lange Sicht, in etwa drei bis fünf Jahren, wird es Deutschland möglich sein, mit einer LNG-Infrastruktur russisches Gas durch Flüssiggas aus anderen Teilen der Welt zu ersetzen. Doch bis dahin verfügt aber auch Russland über andere Lieferoptionen: Pipelines, die den künftig größten Energiekonsumenten China beliefern. Seit Längerem unternimmt die russische Führung enorme Anstrengungen, ihren Kundenkreis auszuweiten. Neben Europa sollen nach den Plänen des Kremls auch energiebedürftige asiatische Länder, allen voran aber China, mit russischen Rohstoffen versorgt werden. Über eine östliche Route („Power of Siberia“) und eine noch ehrgeizigere, westlicher verlaufende Route („Altai Gas Pipeline“) soll künftig russisches Gas dorthin gepumpt werden.

 

Die seit Putins Angriffskrieg auf die Ukraine forcierten westlichen Sanktionen, vor allem im Energiebereich, machen Russland umso abhängiger von China. Peking ist allerdings nicht nur an Rohstoffen, sondern auch an Waffen aus Russland interessiert. Und Moskau ist gern bereit, beides zu liefern, braucht es doch dringend Devisen, die ihm vom Westen vorenthalten werden. Einige Beobachter sehen sogar eine „umfassende strategische Partnerschaft“ zwischen beiden Ländern am Horizont.

 

Strategisch denkende US-Sicherheitsexperten befürchten längst, dass Sanktionen gegen Russland, besonders im Energiebereich, den Interessen der USA schaden, da sie Russland „zwingen“, sich noch stärker nach Asien zu orientieren. Für Washington ist die Perspektive eines festen strategischen Bündnisses zwischen Russland und China ein Bedrohungsszenario: Bereits heute seien die USA nicht mehr in der Lage, eine militärische Auseinandersetzung als „Zweifrontenkrieg“, also gegen Russland in Europa und gegen China in Asien, zu gewinnen – so die Aussage amerikanischer Verteidigungsbeamter und Militäranalysten aus dem Jahr 2019. In Planspielen der Rand Corporation, des größten und renommiertesten amerikanischen Think-Tanks, wurden Großmachtkonflikte simuliert: mit dem Ergebnis, dass in einer gleichzeitigen Auseinandersetzung mit Russland und China eine Niederlage der USA vorprogrammiert sei.

 

Nach Putins Waffengang in der Ukraine ist es also durchaus denkbar, dass sich die amerikanische Russland-Politik schnell wandeln wird und die Europäer vor – völlig anders geartete – Probleme gestellt sind. Analog zum machtpolitischen Kalkül des damaligen US-Sicherheitsberaters Henry Kissinger, der Präsident Nixon nahelegte, die Verbindung mit dem damals schwächeren China zu suchen, um die mächtigere Sowjetunion einzudämmen, könnte es perspektivisch ratsam sein, das heute schwächere Russland möglichst bald wieder politisch einzubeziehen, um dem aufsteigenden und für die USA bedrohlicher werdenden China zu begegnen. Nach Putins völkerrechtswidrigem Angriff auf die Ukraine dürfte das nicht einfach werden. Doch die USA haben, so Charles Kupchan, der am Council on Foreign Relations außenpolitische Ideen schmiedet, „eine beeindruckende Bilanz“, um auch mit „unappetitlichen Regimen“ eine gemeinsame Basis zu finden.

 

Wenn Putin und der Welt aktuell in der Ukraine die Leistungsgrenzen seiner Militärmacht vor Augen geführt werden, dann könnte darin für Washingtons Geostrategen ein weiterer Anreiz bestehen, die offengelegte Schwäche zum eigenen Vorteil zu nutzen. Schließlich hat auch Putin ein Interesse daran, Chinas raumgreifende Aktivitäten in Zentralasien einzudämmen: Nach einem für Russland und die Ukraine akzeptablen Friedensschluss könnten die westlichen Sanktionen – die nicht zuletzt auch der amerikanischen Wirtschaft schaden – schnell wieder gelockert werden, um russisches Wohlverhalten in anderen, für Amerika wichtigeren Regionen zu erwirken. Ob es diese Perspektive trägt, wird sich zeigen. Noch ist ein solcher Frieden freilich nicht in Sicht.

 

Trotzdem darf nicht übersehen werden, dass die geopolitische Grundkonstellation erhalten bleibt: Amerika sieht sich mit einem revisionistischen Russland und einem wiederaufsteigenden China gleichzeitig konfrontiert. Diese komplexe Herausforderung wird Washington trotz seiner werteorientierten Rhetorik realpolitische Entscheidungen abverlangen, die vor allem Europas Sicherheit und Wohlstand beeinträchtigen. Auch deswegen sollte Europa auf seine eigene Stärke bedacht sein und sich nicht sehenden Auges durch Sanktionen derart selbst schwächen, dass es zum Spielball anderer Interessen zu werden droht.

C.H.Beck

Dr. Josef Braml ist USA-Experte und Generalsekretär der Deutschen Gruppe der Denkfabrik Trilaterale Kommission – einer Plattform für den Dialog politischer und wirtschaftlicher Entscheider Amerikas, Europas und Asiens zur kooperativen Lösung geopolitischer, wirtschaftlicher und sozialer Probleme. Sein neues Buch „Die transatlantische Illusion. Die neue Weltordnung und wie wir uns darin behaupten können“, ist soeben beim Verlag C.H.Beck erschienen.

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