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BMEL/Photothek/Xander Heinl

Europa gestalten heißt, Kompromisse möglich zu machen

Die „Grüne Woche“ findet dieses Jahr nur digital statt. Aus diesem Anlass hat die Redaktion die Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft Julia Klöckner um ein Statement gebeten: ein Rückblick auf die deutsche Ratspräsidentschaft und die Fortschritte der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP).

Wer immer Zweifel daran hatte, dass die Europäische Union die schwierige Phase der Corona-Pandemie ohne Blessuren überstehen würde, den kann ich beruhigen: Europa lebt, in all seiner spannenden und manchmal spannungsreichen Vielfalt. Für sechs Monate hatte Deutschland bis Ende des Jahres 2020 die Ratspräsidentschaft übernommen. Sechs Monate, in denen wir, als deutsche Fachministerinnen und Fachminister, die Verhandlungen im Rat geführt haben. Eine Aufgabe, bei der wir viele Hüte gleichzeitig aufhatten: Wir haben Themen gesetzt, moderiert, angetrieben, wir waren gleichzeitig im Maschinenraum und auf der Brücke, haben bei Kontroversen geschlichtet und vor allem eines gemacht – in jeder Situation den bestmöglichen Kompromiss gesucht.

Für mich persönlich war das eine intensive Erfahrung, oft ein Pendeln zwischen zwei Welten. Auf der einen Seite Brüssel und Luxemburg, mit einem Abtauchen in Verhandlungen, die in ihrer fachlichen und zum Teil auch emotionalen Intensität ihresgleichen suchen. Und auf der anderen Seite dann die Reaktion, die von außen auf uns prallte: bissige Kommentare von Interessenvertretern und NGOs, mit denen die in langen Nächten schwer errungenen Kompromisse bedacht wurden, nur Minuten nach der Veröffentlichung unserer Verhandlungsergebnisse. Da war Polemik, wo ich mir Respekt gewünscht hätte: Respekt gegenüber dem demokratisch gefundenen Kompromiss und damit denen gegenüber, die über ihren Schatten gesprungen waren, die bereit waren, über Stunden immer neue Lösungsmöglichkeiten auszutarieren – und denen am Ende gemeinsames europäisches Handeln und demokratische Entscheidungsprozesse wichtiger waren, als auf nationalen Interessen zu beharren.

Mein Fazit ist deshalb: Wenn wir der Europäischen Union etwas Gutes tun wollen, dann müssen wir neu lernen, den Wert von Kompromissen zu schätzen. Denn die Europäische Union ist der institutionalisierte Kompromiss, als Zusammenschluss von ganz unterschiedlichen Nationen, in der „die kleinen Länder genauso viel Achtung wie die großen“[1] verdienen, wie Helmut Kohl es formuliert hat. In der jede Stimme das gleiche Gewicht hat.

Der Erfolg gibt uns Recht: Denn es ist uns an entscheidenden Stellen gelungen, der Europäischen Union einen neuen Schub zu geben und die Anliegen von Verbraucherseite und Landwirtschaft näher zusammenzubringen. Vier Punkte sind mir im Ergebnis besonders wichtig:

Systemwechsel in der Agrarpolitik

Im Zentrum der Aufmerksamkeit stand die Zukunft der europäischen Agrarpolitik. Zu Recht, denn dabei geht es nicht nur um viel Geld, sondern um eine Frage, die uns alle betrifft: Wie sollen in Zukunft unsere Lebensmittel hergestellt werden?

Mit der Einigung im Ministerrat auf eine Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) haben wir einen echten Systemwechsel eingeleitet: Wir schaffen Sicherheit für unsere Landwirte und damit für die Lebensmittelproduktion, leisten aber gleichzeitig mehr für Nachhaltigkeit, Klimaschutz und Biodiversität. Jeder Euro, den Landwirte in der neuen GAP bekommen, ist an höhere Klima- und Umweltschutzstandards geknüpft. Durch Öko-Regelungen honorieren wir die Landwirte, die noch mehr für Umwelt und Klima tun. Junge Landwirte werden besser unterstützt. Damit wird unsere Ernährungsproduktion klimafreundlicher und das Einkommen der Betriebe stabilisiert.

Damit dieser Systemwechsel in der Praxis gelingt, müssen wir unsere Landwirtschaft dabei unterstützen, effizienter und gleichzeitig nachhaltiger zu werden. Deshalb war mir wichtig, dass wir die Digitalisierung zum Thema machen. Wir haben während der Deutschen Ratspräsidentschaft daher die Diskussion über EU-weite Regeln zu Austausch und Nutzung von Agrardaten vorangetrieben, um zu klären, welche Regeln wir brauchen, damit diese Daten bestmöglich genutzt werden können. Denn genau das ist die Grundlage dafür, dass unsere Landwirte die Chancen der Digitalisierung umfassend nutzen können.

Mehr Tierwohl in ganz Europa

Eine wichtige Weichenstellung ist uns beim Tierwohl gelungen – auch ein Thema, das für Verbraucher und für Landwirte in gleichem Maß wichtig ist. Der Ministerrat hat sich einstimmig auf ein EU-weites, einheitliches Tierwohlkennzeichen mit hohen Standards für alle Nutztierarten geeinigt. Das ist tatsächlich ein Meilenstein, denn nur so werden die Leistungen der Landwirte für mehr Tierwohl auch für Verbraucher sichtbar.

Jetzt liegt der Ball bei der EU-Kommission, die aktiv werden muss, ebenso wie bei den Tiertransporten. Denn auch hier haben wir die Ratspräsidentschaft genutzt, um Aufmerksamkeit für den Überarbeitungsbedarf der bestehenden Rechtsgrundlagen zu schaffen. Mit Erfolg, denn die EU-Kommission will die relevante Verordnung nun novellieren und somit die Transportbedingungen für Tiere verbessern.

Mehr Transparenz bei der Lebensmittelkennzeichnung

Für Deutschland habe ich mit dem Nutri-Score eine klar verständliche erweiterte Nährwertkennzeichnung eingeführt. Die Ratspräsidentschaft haben wir genutzt, um eine EU-weite Harmonisierung der erweiterten Nährwertkennzeichnung voranzutreiben. Denn die brauchen wir, um Verbrauchern sowie Unternehmen europaweit die Orientierung zu erleichtern. Es ist uns gelungen, dass alle EU-Mitgliedstaaten dem Ziel einer EU-Harmonisierung zugestimmt haben. Außerdem haben 23 Mitgliedstaaten den Schlussfolgerungen der Präsidentschaft zugestimmt und damit allgemeine Anforderungen zum Inhalt und zur Entwicklung eines künftigen EU-Modells aufgestellt.

Verantwortung für die Wertschätzung von Lebensmitteln und die Ernährungssicherung weltweit

Verantwortung: das war ein weiteres für mich zentrales Thema: Dafür, dass wir unsere Lebensmittel wertschätzen, dafür, dem Ziel näher zu kommen, den Hunger auf der Welt zu besiegen. Wir haben deshalb erneut das Problem der Lebensmittelverschwendung in den Mittelpunkt gestellt. 2016 waren dazu Ratsschlussfolgerungen verabschiedet worden. Und unsere Bestandsaufnahme hat deutlich gezeigt, dass alle Mitgliedstaaten inzwischen tätig geworden sind, zum Beispiel durch Strategien, Verbraucherinformation oder Dialogprozesse. Gemeinsam mit der Kommission und den Mitgliedstaaten geben wir damit einen neuen Impuls, entlang der kompletten Wertschöpfungskette Lebensmittelabfälle zu verringern.

Es ist uns auch gelungen, die Eckpfeiler der EU-Position für den Weltgipfel der Vereinten Nationen zu Ernährungssystemen 2021 zu formulieren: Hunger bekämpfen, Lebensgrundlagen schützen, Frieden schaffen. Ziel ist, für alle Menschen weltweit den Zugang zu sicheren und nahrhaften Lebensmitteln zu gewährleisten und Fortschritte bei allen Nachhaltigkeitszielen zu erreichen. Denn europäische Verantwortung endet nicht an den Grenzen, sie ist global.

Mein Fazit der sechs Monate ist deshalb: Ja, die Europäische Union ist manchmal schwer zu manövrieren. Aber unsere Erfolge zeigen: Sie ist weiter auf einem guten Kurs, gerade auch für die Millionen Verbraucher. Mir hat das einmal mehr gezeigt, dass wir ein starkes, geeintes Europa brauchen, um die Transformation zu einer nachhaltigen, zukunftssicheren Landwirtschaft zu leisten. Und um unserer Verantwortung in der Welt gerecht zu werden.

 

[1] https://www.kas.de/de/web/auslandsinformationen/ausgaben/detail/-/content/-kleine-staaten-in-der-internationalen-politik

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