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Lothar Köthe

Ich will hinaus ins Offene

Komm! Ins Offene, Freund. Kultur im Ausnahmezustand.

Warum schreiben in schwierigen Zeiten? Welche Lektionen, wenn es sie denn gibt, hat die Literatur angesichts von Lockdown und social distancing für uns parat?

Quarantäne, Shutdown, Ausgangssperre? Aber doch nicht für uns! Nein, ich will hinaus ins Offene. Also sattle ich meinen Pegasus, der mich innerhalb eines Wimpernschlags zum Mond und zurück bringt, so schnell, dass der Wasserkrug, den ich vom Tisch stoße, bei meiner Rückkehr noch nicht auf dem Boden zerschellt ist und von mir aufgefangen wird, ohne dass ein Tröpfchen verloren geht.

Nur will ich gar nicht auf den einsamen Mond, sondern rund um die Welt reisen. Von Kontinent zu Kontinent. Ein Platz auf meinem Reittier ist noch frei. Kommst du mit? Die Mitfahrgelegenheit ist frei und kostenlos, sofern du mir zu sagen weißt, durch welches Land – durch wessen Kosmos – wir uns bewegen.

Abgemacht? Dann nicht lange gezagt. Schwing dich hinter mich auf das geflügelte Roß, und los geht‘s über Berge und Meere, Wüsten und Oasen.

Wo sind wir? Nun, das sollst du mir sagen!

"Der Weg, den ich wie ein Schlafwandler von der Porta San Giovanni bis hierher gefahren war, führte in Windungen, zwischen jahrhundertealten Bäumen, bis zur Porta San Benedetto und dem Bahnhof. Ich warf mich bäuchlings ins Gras, neben dem Fahrrad, das brennende Gesicht in die Ellenbeuge gepresst. Warm spürte ich die Luft um den ausgestreckten Körper wehen, und ich hatte nur den einen Wunsch, so, mit geschlossenen Augen liegenzubleiben. (...) Zu meinen Füßen erstreckte sich (erst jetzt kam es mir zum Bewusstsein) die mächtigen Baumkronen vom Mittagslicht überflutet wie in einem tropischen Wald, der Barchetto del Duca..."

Wollen wir es noch wärmer und südlicher? Und – wenn man weiß, wie es weitergeht – vielleicht weniger elegisch? Dann steig‘ wieder auf, diesmal geht es wirklich über‘s Meer dahin. Siehst du, wie sich die Hochebene vor uns erstreckt? Erinnere dich:

"Es war ein prachtvoller Morgen. Während wir warteten, zogen sich die letzten Sterne in den rostfarbenen Himmelsraum zurück. Der Himmel war hoch und klar, doch unsere eigene Welt war noch dunkel und von tiefer Stille erfüllt. Das Gras war feucht, zwischen den Bäumen, wo sich der Boden senkte, schimmerte es von Tau wie mattes Silber. (...) Der graue Nebel lag auf den Bergen und zeichnete auf seltsame Art ihre Formen nach. Wenn jetzt dort oben die Büffel grasten, musste es für sie bitterkalt, wie mitten in einer Wolke sein. Wie ein Glas mit Wein füllte sich das große Gewölbe über uns allmählich mit Klarheit, und da, ganz behutsam, fingen die Gipfel die ersten Sonnenstrahlen auf und färbten sich rot."

Du weiß schon, dass es so idyllisch nicht lange bleiben wird? Dann komm weiter, mein Freund! Der aufgehenden Sonne entgegen und zugleich hinab in den Brunnenschacht der Vergangenheit, vermag unser Reittier doch nicht nur alle räumlichen, sondern auch alle zeitlichen Distanzen mühelos zu überwinden! Wo sind wir? Schlachtgetümmel tobt um uns.

"Afrasiyab ritt vor seiner Armee heran wie ein Schiff, das die Wellen aus dem Wasser heben. Rostam sah ihn und gab seinem Pferd Schenkeldruck. Er legte sich die schwere Keule auf die Schulter, und als er nahe an den Gegner herangekommen war, hängte er sie an den Sattel. Er ergriff mit seiner Hand den Gürtel des Königs und hob ihn hoch aus seinem mit Pantherfell bezogenen Sattel. Er wollte ihn zu Quobad tragen und ihn dem König als Geschenk von seinem ersten Kampftag bringen. Aber da der königliche Reiter so schwer war, hielt das Leder des Gürtels nicht stand. Es riss, und er fiel kopfüber zu Boden. Seine Ritter bildeten sofort einen Kreis um ihn. Als der König aus seinen Händen entkommen war, biss Rostam sich vor Wut in den Handrücken. "Warum", so sprach er zu sich, "habe ich ihn bloß nicht unter den Achseln gepackt und mit seinem eigenen Strick gefesselt?"

Und nun breite die Flügel, Pegasus, und bringe uns über Berge und Steppen aus der mythischen Vergangenheit in die apokalyptische Zukunft, bis an den Rand der Welt, wo die Sonne vor einem kirschblütenweißen Himmel blutrot aus dem Meer steigt.

"Als sie die Stelle verifiziert hatte und bereit war, hob sie die rechte Handfläche in die Luft, hielt den Atem an und ließ einen Moment verstreichen. Dann ließ sie die Hand abrupt fallen. Auf das hölzerne Heft der Nadel. Nicht allzu stark. Bei zu großem Kraftaufwand hätte die Nadel unter der Haut abbrechen können. Sie durfte aber die Nadelspitze nicht zurücklassen. Leicht, fast liebevoll, genau im richtigen Winkel und mit genau der richtigen Stärke, ließ sie die Handfläche auf das Heft der Nadel fallen. Ohne sich der Schwerkraft zu widersetzen, zack. Damit die feine Nadelspitze ganz natürlich von der Stelle aufgenommen wurde. Tief, glatt und tödlich. Worauf es ankam, waren der Winkel und die Art, in der sie die Kraft einsetzte – oder vielmehr, die Kraft nicht einsetzte. Wenn sie all das beherzigte, war das Übrige nicht schwerer, als eine Nadel in Tofu zu stecken. Die Nadelspitze drang ins Fleisch ein, stieß in einen bestimmten Teil unterhalb des Gehirns, und das Herz hörte auf zu schlagen. Es war, als bliese man eine Kerze aus."

Rasch hinweg von diesem Tatort! Wie gut, dass wir uns auf dieser Reise wie die Schatten bewegen: überall mit dabei, aber unauffindbar. Bringen wir, da wir dort, wo wir waren, doch keine Paläste und blütenreichen Gärten gesehen haben, einen weiteren Ozean zwischen uns und diesen Mord, und legen an einem heiligen Hafen der Lebensfreude an:

"Eine so farbige, fröhliche Straßenbahn wie jene, die gegen sechs Uhr morgens aus Richtung Cabulá kam, war nie auf den Schienen der Stadt Erretter von Bahia-Aller Heiligen gefahren. Sie fuhr in Richtung Schustersenke, angefüllt mit Heiligentöchtern in ihren bunten Röcken, ihren gestärkten Unterröcken, ihren Leibchen, ihren Hals- und Armbändern. Als zögen sie zu einem Candomblé-Fest.

Mit ihnen reiste ein rastloser Geselle, der wie ein Betrunkener aussah und auf den Sitzbänken tanzen wollte. Eine dicke Alte versuchte den umtriebigen, ausgelassenen Bohemien in Schach zu halten. Der eine oder andere Fahrgast erkannte in ihr die Heiligenmutter Doninha.

Der Fahrer, ein kräftiger, junger Schwarzer, hatte die Kontrolle über den Wagen verloren und kümmerte sich auch nicht mehr darum. Als gäbe es keinen Fahrplan mehr, nach dem die Straßenbahn sich richten müsse, als gehörte ihr die Zeit, fuhr sie einmal im Schneckentempo; dann aber wie besessen von der Angst, schleunigst anzukommen, schlug sie sämtliche Verkehrsvorschriften in den Wind und schien die Schienen zu fressen. Der Schaffner, ein scheeler Mulatte mit zu Berge stehendem Haar, läutete die Klingel ohne Sinn und Verstand, im Rhythmus der Heiligenmusik. Auf dem Trittbrett hängend, weigerte er sich, die Fahrgäste zum Lösen der Fahrscheine aufzufordern. Nézinho wollte für die ganze Bande bezahlen, doch der Schaffner gab ihm sein Geld zurück. "Heute zahlt die Kompanie", sagte er lachend, als hätten Fahrer und Schaffner, als hätten die Arbeiter der Werkstätten die Macht an sich gerissen und die Leitung der Städtischen Kreisbahn übernommen. Als wäre an jenem Morgen der Ausnahmezustand der allgemeinen Freude und der freimütigen Herzlichkeit ausgerufen worden."

Hier wollte man gern verweilen, aber unsere Weltreise ist noch nicht zu Ende, und dann hat diese Art des Reisens den unschlagbaren Vorteil, ohne ein Bein rühren zu müssen, jederzeit wieder unternommen werden zu können, immer von Neuem, ohne Buchungen, Reservierungen und nennenswerte Kosten.

Hinauf nun aber in Windeseile nach Norden, hinaus aus den Tropen und hinein in ganz zivilisierte Wälder, wo ein Mann vor seiner Bretterbude tiefe Gedanken denkt:

"Leben wir doch etwas zuversichtlicher! Wir können uns ohne weiteres in dem Maße der Sorge um uns selbst entäußern, wie wir sie etwas anderem zuwenden. Die Natur passt sich ebenso sehr unseren schwachen wie unseren starken Seiten an. Sich ständig zu sorgen und zu überanstrengen, ist eine nahezu unheilbare Krankheit. Wir machen uns eine übertriebene Vorstellung von der Wichtigkeit der Arbeit, die wir verrichten, und wie viel bleibt dabei ungetan! Oder wie steht es, wenn wir krankheitshalber arbeitsunfähig gewesen wären? Wie sind wir doch ständig auf der Hut, fest entschlossen, nichts dem Zufall zu überlassen, wenn es sich anders einrichten lässt; nur des Nachts vertrauen wir uns wohl oder übel dem Ungewissen an. Notgedrungen halten wir unsere Lebensweise hoch und bestreiten, dass es auch anders ginge. Dabei gibt es so viele Möglichkeiten, als sich von einem Mittelpunkt aus Linien ziehen lassen. Jede Veränderung, bloß gedacht, ist ein Wunder, doch das Wunder findet dauernd statt. »Zu wissen, dass wir wissen, was wir wissen«, sagt Konfuzius, »und dass wir nicht wissen, was wir nicht wissen, das ist wahres Wissen.« Wenn einer das, was ihm vorschwebt, einmal verstandesmäßig gefasst hat, dann werden wohl die Menschen zu guter Letzt ihr Leben darauf aufbauen."

Ach je... zurück nach Hause zu fahren, das löst immer eine Mischung von Schwermut und Freude aus. Wie gerne wäre man noch geblieben – würde man hier nicht sogar immer bleiben können? –, und wie schön doch auch wieder, daheim anzukommen, zu erfahren, was während der Abwesenheit alles geschehen ist, die vertrauten Farben und Düfte wiederzusehen. Und um uns an die heimischen Gefilde wieder zu gewöhnen, eine letzte Etappe, kindheitsselig, bevor wir von Pegasus, dem Treuen, absteigen, ihn absatteln und striegeln und ihm begütigend auf den sehnigen Hals klopfen: Bald, sehr bald schon, wann immer es uns gelüstet, können wir wieder ausreiten, ausfliegen...

"Ich weiß noch genau, wie wir zu dritt die schwanke Holzbrücke hinabgingen, die vom Strande schräg zur Badeanstalt anstieg. Selbstverständlich hüpfen wir, um die Brücke tunlichst ins Schwingen zu versetzen und uns emporschnellen zu lassen wie vom Trampolin. Aber unten angelangt, verfolgten wir nicht den Brettersteg, der zwischen Pavillonen und Sitzkörben hin den Strand entlangführte, sondern hielten den Kurs landeinwärts, ungefähr auf das Kurhaus zu, eher mehr links. Auf den Dünen brütete die Sonne und entlockte dem spärlich und dürr bewachsenen Boden, den Stranddisteln, den Binsen, die uns in die Beine stachen, seinen trockenen und hitzigen Duft. Nichts war zu hören als das ununterbrochene Summen der metallblauen Fliegen, die scheinbar unbeweglich in der schweren Wärme standen, plötzlich den Platz wechselten und an anderer Stelle ihren scharfen und monotonen Gesang wieder aufnahmen. Die kühlende Wirkung des Bades war längst verbraucht."

 

Michael Kleeberg, 1959 in Stuttgart geboren. Studierte bis 1984 Politische Wissenschaften und Neuere Geschichte an der Universität Hamburg sowie Visuelle Kommunikation an der Kunsthochschule Hamburg. Während des Studiums arbeitete er als Journalist, Krankenpfleger und Hafenarbeiter. Nach einem einjährigen Aufenthalt in Rom (1983) und in West-Berlin (1984) verließ er Deutschland im Jahr 1985. Er lebte ein Jahr in Amsterdam, danach zwölf Jahre lang in Paris, wo er von 1987 bis 1994 neben der schriftstellerischen Tätigkeit Mitinhaber einer kleinen Werbeagentur war. Seit 2000 lebt er als freier Schriftsteller und Übersetzer aus dem Französischen und Englischen in Berlin. 2016 gewann er den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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