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Matthias Berg/ flickr

Keine Freiheit ohne Rücksicht

Gedanken eines Abgeordneten anlässlich der Querdenker-Proteste

Als ich Mitte November durch die aufgeregt protestierenden Menschenmassen zum Reichstag lief, skandierten die Menschen um mich herum: “Ihr nehmt uns die Luft zum Atmen. Ihr nehmt uns die Freiheit.“ Über diese eindrückliche Szene habe ich noch länger nachgedacht. Was ist das für eine Freiheit, über die sie sprechen? Wieso entlud sich dieser Protest ausgerechnet, als wir die gesetzliche Grundlage für die Maßnahmen gegen die Ausbreitung der Pandemie klarer, konkreter und besser überprüfbar gestalteten? 

Ist hier mit Freiheit die Abwesenheit aller einschränkenden staatlichen Maßnahmen gemeint? Wünschten sie sich einen anarchischen Zustand, in dem jeder sein Recht selbst in die Hand nimmt und sich nur der Stärkere durchsetzen kann?

Nach der Demonstration ist ein Auszug aus einem Gruppenchat in die Öffentlichkeit gelangt: Ein „Querdenker“ fuhr wieder unverrichteter Dinge nach Hause, nachdem er keinen Parkplatz fand. Dies spricht zumindest in diesem kleinen Ausschnitt nicht für revolutionäre Radikalität, sondern für das Anerkennen der Notwendigkeit der Straßenverkehrsordnung. Ich denke, in den Grundzügen besteht eine relative Zufriedenheit mit der Verfasstheit unseres Staates. 

Ich habe vielmehr das Gefühl, dass dieses Freiheitsverständnis von einer größeren Entwicklung, und zwar der immer stärkeren Konzentration der Menschen auf ihre jeweils eigenen Wünsche und Bedürfnisse herrührt. Freiheit ist aus diesem Blickwinkel ein Zustand der Abwesenheit von MICH einschränkenden Regeln. Diese Selbstzentriertheit der Betrachtung wurde auch deutlich, als im Laufe des Frühjahrs von manchen gefordert wurde, man könne Betroffene der Risikogruppen isolieren, damit das sonstige Leben normal weiterlaufen könnte.

Wir tragen die Last dieser Pandemie gemeinsam, auch wenn diese wie vieles im Leben nicht gleich schwer auf allen Schultern verteilt ist. In den vergangenen Monaten waren wir als Politiker durchgehend damit beschäftigt, diejenigen, die es besonders hart trifft, zu entlasten und auch jene einzubeziehen, die mit den ersten Hilfsmaßnahmen nicht genug Beachtung fanden. 

Die Selbstbestimmtheit des Individuums, die sicher auch Befreiung aus überkommenden gesellschaftlichen Zwängen war und ist, lässt die abstrakte Gesellschaft  zunehmend aus dem Blickfeld geraten. Indem wir Masken tragen, Abstand halten, Zuhause bleiben, Unternehmen schließen, Feiern absagen, auf Handschläge und Umarmungen verzichten, schützen wir uns selbst und andere. Wir tragen alle dazu bei, dass weniger Risikopatienten schwere Verläufe erleiden, wir verringern Schmerz und Tod, sichern die Funktionsfähigkeit unseres Gesundheitssystems. 

Diese Rücksichtnahme auf das Wohl aller kostet uns mehr als nur Geld und Disziplin, wenn dies auch die augenfälligsten Wirkungen sind. Viele Menschen leiden unter Einsamkeit und Isolation. Für manche ist das Heim, leider kein sicherer Ort, hier steigert der Lockdown die häusliche Gewalt. Die Frage, wann wir wieder zur „alten Normalität“ zurückkehren können, entscheidet über Existenzen und Lebenspläne. Ich wurde nach der Abstimmung über die Änderungen des Infektionsschutzgesetzes häufig gefragt, wie ich dem zustimmen konnte. Ich denke an all diese Menschen, die gerade unter den Beschränkungen leiden, und weiß, dass wir ihre Lage nur schnell verbessern können, wenn die Infektionszahlen sinken und wir die Beschränkungen wieder lockern können.  

 

Mit gezielten Falschinformationen wurde die klarere Fassung der Ermächtigungsgrundlage des Infektionsschutzgesetzes zum „Ermächtigungsgesetz“ von 1933 stilisiert. Populisten gelang es, die Grundlage als Verfassungsbruch zu diffamieren und den Eindruck zu vermitteln, dass Freiheiten des Einzelnen grundsätzlich schrankenlos seien.

Ihre Strategie ist plump: Mit dem Schüren von Empörung und Misstrauen werden Gesetzgeber und Regierung diskreditiert. Wer von gesellschaftlichem Unfrieden profitiert, zögert nicht zu zündeln. 

Teilweise werde ich gefragt, ob die Verbote wirklich notwendig sind, ob wir nicht mehr mit Eigenverantwortung erreichen könnten. Aus der Würde des Menschen als vernunftbegabtem Wesen folgt für mich der absolute Vorrang von an die Vernunft der Bürgerinnen und Bürger appellierenden Maßnahmen.

In der aktuellen Lage sehen wir jedoch, dass manchen, die weniger Zwang fordern, im gleichen Atemzug offenbaren, dass sie nicht gewillt sind, die notwendige Vernunft walten zu lassen. Zahlreiche Demonstrationen mussten in den vergangenen Wochen und Monaten aufgelöst werden, weil die Protestierenden nicht die notwendigen Hygienemaßnahmen einhielten. Eigenverantwortung und Freiwilligkeit dürfen nicht nur Feigenblatt sein, dafür steht zu viel auf dem Spiel. 

 

Etwas ermüdet durch die immer ähnlichen kontroversen Diskussionen mit Gegnern des Lockdowns, ca. 1500 Emails, tägliche Anrufe, Auseinandersetzungen im Familien- und Freundeskreis und Verfolgung der öffentlichen Debatten in den letzten Monaten, spüre ich einmal mehr, wie falsch und schadenbringend es ist, einen Freiheitsanspruch allein für mich oder meine Betroffenengruppe zu denken und zu vertreten. Ich habe die längere Zeit meines Lebens in der DDR gelebt und habe unter einem diktatorischen Regime den Hunger nach Freiheit schmerzhaft erfahren. Aber niemals verfiel ich deshalb der Illusion, dass eine demokratisch geordnete Gesellschaft unbegrenzte Freiheit für ihre Bürgerinnen und Bürger ermöglichen kann. Da gilt die in der DDR, wenn auch zumeist heimlich zitierte Überzeugung von Rosa Luxemburg, dass meine Freiheit durch die Freiheit des Anderen begrenzt wird. Vielleicht hat diese Erfahrung manchen kindlichen Traum früherer DDR-Bürger zerplatzen lassen wie eine Seifenblase. Vielleicht müssen wir alle auch heute und morgen immer mehr lernen, dass wir um die Freiheit und das Lebensrecht des Anderen, insbesondere von Schwächeren, genauso ringen müssen, wenn wir nicht im Gefängnis der eigenen Egozentrik eingesperrt bleiben wollen. 

Gordon Welters
Martin Patzelt hat sich Ende der 80er Jahre in der Bürgerbewegung Neues Forum bzw. demokratischer Aufbruch engagiert, bevor er 1990 in die CDU eingetreten ist. Er ist Sozialpädagoge und hat fast 20 Jahre ein Kinder - und Jugendheim geleitet. 2013 hat er das erste Mal das Direktmandat in Frankfurt (Oder) für die CDU gewonnen und 2017 erfolgreich verteidigt.

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