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Ron Lach

TikTok und die Flucht vor den Eltern

Soziale Medien als Abgrenzung zur älteren Generation

Will man wissen, wie Jugendliche ticken, wofür sie sich interessieren, führt an TikTok kein Weg vorbei. Warum die chinesische Plattform trotz vieler - staatlicher - Bedenken so beliebt ist: über die Flucht vor den Eltern, die Macht von Plattformen und warum es immer wieder neue geben wird.

Ich befasse mich beruflich mit TikTok und werde oft gefragt, warum man neben den herkömmlichen Plattformen nun auch noch TikTok nutzen solle. Ich erkläre das immer mit einem Phänomen, das ich Elternflucht nenne.

Vor etwa zehn Jahren, ich war damals zwölf Jahre alt, erlaubten mir meine Eltern nach zähen Verhandlungen, dass ich mir gemeinsam mit meiner Schwester einen Facebook-Account einrichte. Es war ein cooles Gefühl. Ein digitales Jugendzentrum, in dem man rund um die Uhr mit seinen Freunden chatten konnte. Ich fühlte mich frei und unbewacht. Bis ich eines Tages entsetzt feststellte, dass mir meine Eltern eine Freundschaftsanfrage geschickt hatten. Der Zauber war weg und ich in einem Dilemma: Nahm ich sie nicht an, hätte ich mich künftig bei jedem Familien-Abendessen erklären müssen. Nahm ich sie an, wäre mein Gefühl von Freiheit dahin gewesen.


Ich habe mich für eine dritte Variante entschieden: Facebook schleichend zu verlassen. Und ich war damit nicht allein. Wir – die Generation Z – brauchten eine neue Plattform. Und so wechselte ich im Alter von 14 – mit den meisten meiner Altersgenossen – auf die Fotoplattform Instagram.

„Nach einigen Jahren des fröhlichen Scrollens und Zeitverschwendens, hatte ich plötzlich zwei neue Instagram-Follower: meine Eltern. Die Logik der Elternflucht verlangte nach einer neuen Plattform.“

Finn Werner

Doch es kam, wie es kommen musste. Nach einigen Jahren des fröhlichen Scrollens und Zeitverschwendens, hatte ich plötzlich zwei neue Instagram-Follower: meine Eltern. Die Logik der Elternflucht verlangte nach einer neuen Plattform. Und auf einmal lief eine ganze Generation den amerikanischen Tech-Giganten davon und zur chinesischen Konkurrenz über: Der Hype um TikTok entstand.

Meine Theorie von der Elternflucht ist natürlich etwas verkürzt und nicht wortwörtlich zu verstehen. Soziale Netzwerke fallen zwar Konjunkturzyklen anheim. Aber eben nicht nur, weil deutsche Jugendliche in den 2010er-Jahren unbeobachtet von ihren Eltern Fotos von Essen oder Urlaubsreisen posten wollten. Auch steht meine Geschichte nicht für Jeden meiner Alterskohorte. Und doch gibt es einen Zusammenhang zwischen der Elternfizierung eines sozialen Netzwerks und seiner Nutzerdemographie.

Und wenn ich ehrlich bin: Auch meine Geschichte hat sich nicht exakt so abgespielt. Aber ich weiß aus vielen Gesprächen mit Altersgenossen, dass sie es so oder so ähnlich erlebt haben. Die Eltern stehen sinnbildlich für Akteure, die von der jungen Kernzielgruppe als Fremdkörper im neu geschaffenen Kosmos der Plattform wahrgenommen werden. Nicht nur, weil man die Eltern nicht sehen will, sondern auch, weil Eltern schon ob ihres Alters mit den Wirkmechanismen der Plattform nicht vertraut sind. Und das führt bisweilen zu komischen oder gar befremdlichen Situationen.

„Hürden, wie etwa der technologische Zugang, wirken in der Anfangs- und Wachstumsphase eines neuen sozialen Netzwerks als Gatekeeper. Und jeder, der sie überwindet, ist zumindest grundlegend technisch gebildet.“

Finn Werner

Hürden, wie etwa der technologische Zugang, wirken in der Anfangs- und Wachstumsphase eines neuen sozialen Netzwerks als Gatekeeper. Und jeder, der sie überwindet, ist zumindest grundlegend technisch gebildet. Pioniere sind also jene, denen es – so banal es klingen mag – gelingt, die Plattform zu betreten, sie sachgerecht zu nutzen und – wahrscheinlich am wichtigsten – dabei auch noch Spaß zu haben. Und sie sind jung: Es sind die Menschen, die mit Smartphone und Tablet aufgewachsen sind, und für die das Internet etwas Gottgegebenes ist.

Je gemütlicher es sich diese Avantgarde auf der Plattform macht, desto mehr plattformspezifische Dynamiken entstehen – die meist nur von denen, die sie geschaffen haben, verstanden werden. Und der Umgangston und der Humor werden exklusiver. Zugleich interessiert sich die analoge Welt für die Plattform. In der Tagesschau wird aus Tweets von Spitzenpolitikern zitiert, die neuen Quartalszahlen der Plattform-Mutterkonzerne werden vermeldet, und die Lokalzeitung berichtet, dass die Jugendband des Gymnasiums ihre Songs neuerdings auf YouTube hoch lädt. Diese Berichte in den alten Medien lösen nun den zweiten Boom aus: Die Eltern kommen!

Eltern wird hier als Sammelbegriff verwendet. Gemeint sind sämtliche Akteure, deren Interessen von dem der Pioniernutzer abweichen. Vom elterlichen Wunsch, wissen zu wollen, wo sich das Kind gerade rumtreibt, bis zur kalkulierten Kundengewinnung ist alles dabei. Jedes Kleinunternehmen, jeder Kommunalpolitiker, jede Interessensgemeinschaft ist inzwischen auf Instagram und Facebook. Und all diese von den Pioniernutzern als unerwünscht empfundenen Instagram-Konten, wirken als Katalysator für den kollektiven Wechsel der Digital Natives von Instagram zu TikTok.

Wir sind also wieder bei TikTok: 20 Millionen Nutzer in Deutschland, die jeden Tag mehr als 100 Minuten in der App verbringen – TikTok ist seit Beginn der 2020er-Jahre die unangefochtene Nummer Eins der sozialen Netzwerke . Kernzielgruppe von TikTok ist die Generation Z. All jene, die zwischen den späten 1990er-Jahren und den frühen 2010er-Jahren geboren wurden. Diverse Consulting-Studien belegen: Dieses demographische Segment wird systematisch unterschätzt: Die Generation Z wird sich in den nächsten Jahrzehnten zur kaufkraftstärksten Altersgruppe entwickeln. Und dann ist da noch die unglaubliche Zahl von 20 Millionen TikTok-Nutzern allein in Deutschland. Das sind keine 20 Millionen Faulenzer und Kiddies, unter ihnen sind künftige Wirtschaftsbosse, Spitzenpolitiker und Meinungsmacher.

TikTok ist schon lange mehr keine reine Tanz-App. Auf TikTok geht es um mehr als um Tier- und Gesangsvideos. TikTok ist eine knallharte zahlenbasierte Marketingdisziplin: Sie gehört spätestens ab 2023 in jeden ernstzunehmenden Marketing-Mix. TikTok ist auch kein Geheimtipp mehr und nicht einmal mehr die neue „Trend-Plattform für junge Kids“. TikTok ist kurz davor, meine Theorie von der Elternflucht aufs Neue zu bestätigen.

Der beste Beleg ist der Text, den Sie gerade lesen. Die Zeitschrift "Die Politische Meinung" pflegt sogar auch einen TikTok-Account.

Niklas Hintze / Zoomer
Finn Werner studierte Politik- und Wirtschaftswissenschaften in Jena. Heute arbeitet er im Bundestag und ist Inhaber der Gen Z Agentur Digitalien.

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