„Sagen wir´s badisch: Kann ein Krüppel Kanzler werden?“, so Dr. Wolfgang Schäuble 1997 gegenüber einem Journalisten. Damals ging es um die Kohl-Nachfolge. Am 2. Und 3. April 2025 findet in Deutschland der „UN Global Disability Summit“ (GDS25) statt. Ziel des Gipfels ist es, die weltweite Umsetzung des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen voranzutreiben. Vor dem Grundsatz der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) „Nothing about us without us“ – „Nichts über uns ohne uns“ – scheint Schäubles selbstreflexive Frage aktueller denn je. Sie lässt sich aus vielerlei Perspektiven beleuchten – und aus unterschiedlichen Dimensionen.
Dimension Aktualität.
Kurz vor der Bundestagswahl 2025 bezeichnete Kanzler Scholz das CDU-Bundesvorstandsmitglied Joe Chialo als „Feigenblatt“ und „Hofnarren“ der CDU. Gott sei Dank erinnerte sich in der Debatte niemand daran, was mit „Hofnarren“ im Mittelalter gemeint war. Laut dem „Deutschem Wörterbuch“ der Gebrüder Grimm hat das Wort ‚Narbe‘ dieselbe sprachliche Wurzel wie der Begriff ‚Narr‘. Der Hofnarr ist also „ein verkrüppelter Mensch“ – ein Mensch mit Behinderung. Als „natürliche Narren“ verstand man im Mittelalter vornehmlich kognitiv oder körperbehinderte Menschen. Im Gegensatz zum vermeintlichen „Quoten-Mohren“ Chialo gehört dem CDU-Bundesvorstand kein „Quoten-Krüppel“ an. Wer nun denkt „geschenkt“, der scheint wenig Interesse am Selbstverständnis der Union als Volkspartei zu haben – und ebenso wenig am Wählerpotenzial von rund einem Sechstel aller Wahlberechtigten.
Globale Dimension.
Ganz im Geiste der Wortherkunft sind Menschen mit Behinderungen weltweit eine der am stärksten marginalisierten und benachteiligten Gruppen: Etwa 1,3 Milliarden Menschen, rund ein Sechstel der Weltbevölkerung, leben mit einer oder multiplen Behinderungen. Auch in Deutschland haben weit mehr als zehn Prozent der Wahlberechtigten eine Behinderung – Tendenz, aufgrund des demografischen Wandels und der Häufung psychischer Erkrankungen, steigend. Bezieht man mit Blick auf den oft nicht unerheblichen Assistenzbedarf nur die Eltern mit ein, so tangieren Behinderungen die Hälfte aller Wahlberechtigten. Um Inklusion in Gesellschaft, Ausbildung, Studium und Beruf, aber auch in der Politik durchzusetzen, wurde 2008 die Behindertenrechtskonvention[1] (UN-BRK) geschaffen. In Deutschland trat sie 2009 in Kraft. Wichtigste Neuerung: „Behinderung“ wird als Resultat des Zusammenspiels einer individuellen Beeinträchtigung und einer „behindernden Umwelt“ verstanden. Die Definition geht weg vom Gedanken, dass die eigentliche Behinderung Menschen die Teilhabe verwehrt, hin zur Idee, dass (örtliche) Rahmenbedingungen für Exklusion und damit für Behinderungen sorgen (können).
Im April 2025 richtet Deutschland gemeinsam mit dem Königreich Jordanien den Global Disability Summit (GDS25) aus. Es ist der dritte Gipfel, und er wird stets von einem Industrie-, einem Schwellen- oder Entwicklungsland und der International Disability Alliance (IDA)[2], dem globalen Dachverband von Organisationen für Menschen mit Behinderungen[3] ausgerichtet.
Ziel des GDS25 ist es, die weltweite Umsetzung der UN-BRK (entwicklungs-) politisch voranzutreiben. Seitens der Bundesregierung ist das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) federführend. In Entwicklungsländern sind behinderte Menschen besonders von Armut betroffen, während auch in Industrienationen die politischen Teilhabemöglichkeiten suboptimal sind: Der Kampf um gleichberechtigte Teilhabe ähnelt sich unabhängig vom Entwicklungsstand der Länder, was der Tatsache geschuldet ist, dass Barrieren je nach Wohlstandsausprägung progressiv ansteigen, und sich auf die Teilhabe auswirken. So muss sich z.B. niemand Sorge um Inklusion oder die Barrierefreiheit an Bahnhöfen oder von Zügen machen, wenn es gar keine Bus- oder Bahnverbindungen gibt.
Dimension politische Teilhabe.
Vergleicht man die größeren soziokulturellen Gruppen, die einen Gesellschaftsanteil von mindestens 10 Prozent ausmachen, so sind Menschen mit Behinderungen im Europäischen Parlament, im Bundes- und in den Landesparlamenten mit weitem Abstand am schlechtesten vertreten. Das war nicht immer so: Nach dem zweiten Weltkrieg gehörten überdurchschnittlich viele sogenannte „Kriegsversehrte“ den Parlamenten an. Getreu dem Grundsatz der Europäischen Union, „In Varietate Concordia“, „in Vielfalt geeint“, wurden Parlamente von Wahl zu Wahl bunter – so auch der Deutsche Bundestag. Einzig Menschen mit Behinderung haben davon nicht profitiert, im Gegenteil: Ihr Anteil hat sich verringert: Wolfgang Schäuble (CDU) und Stephanie Aeffner (Grüne) verstarben während der 20. Wahlperiode, andere wie Martin Rosemann (SPD) bewarben sich nicht für den 21. Bundestag, andere Kandidaten wurden bisweilen nicht auf den Listen ihrer Parteien berücksichtigt.
Anders sieht es mittlerweile bei Frauen aus: Etwa 50,9 Prozent der deutschen Staatsbürgerinnen sind weiblich, jedoch stellen sie im ‚neuen‘ Deutschen Bundestag nur 32,4 Prozent der Abgeordneten. Im letzten, 20. Bundestag waren es noch 35,7 Prozent. Laut der Soziologin Beate Hoecker ist eine gesellschaftliche Gruppe dann repräsentativ im Parlament vertreten, wenn ihr Anteil mindestens zwei Dritteln ihres tatsächlichen gesellschaftlichen Anteils entspricht. Bei fast 51 Prozent Frauen in der Gesellschaft würde dies 34 Prozent Mandatsträgerinnen im Bundestag erfordern. Da der Frauenanteil im neuen Bundestag mit 32,4 Prozent nahe an diesem Wert liegt, kann man argumentieren, dass das weibliche Geschlecht nunmehr weitgehend repräsentiert ist.
Auch Deutsche mit Migrationshintergrund sind in Parlamenten immer stärker präsent: Laut Mikrozensus 2019 hatten 26 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen in 1. oder 2. Generation einen Migrationshintergrund. Die für die Ausübung des aktiven wie passiven Wahlrechts notwendige deutsche Staatsbürgerschaft hatten 13,5 Prozent aller Bürger mit migrantischem Hintergrund, und damit gut die Hälfte aller Migranten[4]. Im 20. Bundestag waren Deutsche mit Migrationshintergrund mit 84 Abgeordneten, oder 11,6 Prozent[5] immerhin fast deckungsgleich vertreten.[6]
Ähnlich war im 19. Bundestag das Verhältnis von Abgeordneten, die aus östlichen Bundesländern stammten: Mit einem Bevölkerungsanteil von 17,2 Prozent stellten sie 14,6 Prozent der Abgeordneten[7]. Im 20. Bundestag waren es 134 der 733 Mandatsträger – sie waren also mit 18,3 Prozent[8] leicht überproportional vertreten[9]. Der Anteil homosexueller Menschen liegt in der Gesellschaft bei etwa zwei Prozent[10], der Anteil der LGBTQ+-Gruppe je nach Quelle bei bis zu 7,4 Prozent der Gesamtbevölkerung[11]. Die LGBTQ+-Gruppe schaffte es laut Süddeutscher Zeitung bereits im 19. Deutschen Bundestag, repräsentativ vertreten zu sein: Dem Parlament gehörten 6 Prozent, bzw. 43 homo-, trans- und bisexuelle Abgeordnete an. Im Verhältnis zum Gesellschaftsanteil fehlten neun Vertreter[12]. Je nach Hochrechnung wird davon ausgegangen, dass dem 20. Bundestag bis zu 10 Prozent LGBT-, homo- und bisexuelle Volksvertreter angehörten. Damit war diese Gruppe verglichen mit dem Gesellschaftsanteil ebenfalls überproportional gut vertreten (noch keine Zahlen für die neue, 21. WP)[13].