Sie sind seit 2008 Oberbürgermeister in Rottenburg am Neckar. Mit knapp 45.000 Einwohnern gehört Rottenburg zu den mittelgroßen Städten in Baden-Württemberg. um die Kernstadt gruppieren sich 17 Dörfer. Wie hat sich die Bevölkerungsstruktur von Rottenburg durch die Zuwanderung verändert?
Stephan Neher: In den Jahren 2014 bis 2024 ist die Zahl der Bürger*innen mit Migrationshintergrund bei uns stetig gewachsen; von rund 5.100 auf etwa 7.500. Das ist eine Steigerung von ca. 45 Prozent in zehn Jahren. 2022 kamen auch noch die vor dem Krieg geflüchteten Ukrainer dazu. Aktuell liegt der Anteil der Bürger*innen mit Migrationshintergrund, die in unserem Zuständigkeitsbereich einwohnermelde- und ausländerrechtlich erfasst sind, bei ca. 16,6 Prozent.
Wie haben Sie die Hochphase der Flüchtlingskrise 2015 erlebt, und welche Maßnahmen haben Sie ergriffen, um die hohe Zahl der Schutzsuchenden zu bewältigen?
Stephan Neher: Auch wenn sich die großpolitische Lage angesichts des enormen Flüchtlingsstroms 2015 schon frühzeitig abgezeichnet hat, waren wir doch einigermaßen überrascht, als wir innerhalb von Stunden vor der Herausforderung standen, ein Massenquartier für Geflüchtete zu errichten. Ich erinnere mich noch genau. Mittags erhielt ich einen Anruf aus dem Innenministerium: „An der Autobahnauffahrt Rottenburg-Ergenzingen steht doch eine große Industriehalle leer. Wer ist der Eigentümer? Die sollten wir kurzfristig anmieten.“ Das Wörtchen „kurzfristig“ entpuppte sich dann als „noch am selben Tag“. Denn schon der nächste Anruf kündigte einen Sonderzug aus München an. Innerhalb weniger Stunden wurde die Halle mit dem nötigsten Mobiliar für 600 Geflüchtete ausgestattet: Feldbetten, Trennwände für Kojen, Toilettencontainer usw. Und noch am selben Abend fuhren die ersten Busse vor und brachten Menschen aus dem Sonderzug nach Rottenburg. Wir haben uns der Herausforderung gestellt und sie gemeinsam mit THW, DRK, Feuerwehr, Verwaltung und vielen engagierten Menschen gemeistert. Das war richtungsweisend, wie wir mit dem Thema Aufnahme und Unterbringung von Flüchtlingen umgehen, und daran hat sich bis heute nichts geändert. Mit Wehklagen und Problematisieren kommt man nicht weiter. Anpacken und pragmatische Lösungen finden, das ist unsere Devise.
2015 haben wir einen überwältigenden Aufschwung des Ehrenamts erlebt, zusätzlich haben wir eine Stelle für einen hauptamtlichen „Koordinator für ehrenamtliche Flüchtlingshilfe“ geschaffen. Inzwischen ist daraus ein Sachgebiet für „Integration & Willkommenskultur“ mit drei Mitarbeiter*innen geworden. Dieses Zusammenspiel aus Ehrenamt und Hauptamt hat sich gerade in der Integrationsarbeit und in der Flüchtlingshilfe absolut bewährt. Abgesehen von der vorübergehenden Erstaufnahmeunterkunft 2015 und einem größeren Ankunftszentrum in einem leerstehenden Hotel für Geflüchtete aus der Ukraine setzt Rottenburg eher auf dezentrale Unterbringung. Schon wegen unserer Stadtstruktur mit 17 Ortschaften und einer entsprechenden Infrastruktur an Kindergärten, Schulen usw.
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hat vor kurzem getitelt: „Die Stadt, in der es mit der Migration klappt“. Was ist ihr Erfolgsrezept?
Stephan Neher: Natürlich steht Rottenburg am Neckar vor den gleichen Herausforderungen wie andere Kommunen. Aber ich habe den Eindruck, dass wir das ganze Thema Flüchtlingsaufnahme nicht problematisieren, sondern nach Lösungen suchen. In meiner ganzen Zeit als Oberbürgermeister habe ich nicht einmal erlebt, dass ein wichtiges Projekt auf der Strecke geblieben ist, weil uns die Unterbringung oder Integration von Flüchtlingen zu sehr beansprucht hat. Wir haben keine Straße weniger saniert oder den Bau einer Sporthalle gestoppt. Ein wichtiger Part unseres Erfolgskonzepts ist sicherlich auch die gute Zusammenarbeit mit Institutionen wie der Volkshochschule: Sie ist einer unserer wichtigsten Sprachkursträger und damit ein kompetenter Partner in der Integrationsarbeit. Aber auch mit den Schulen, den Kindergärten, Vereinen und mit ehrenamtlichen Initiativen arbeiten wir eng zusammen.
Rottenburg ist eher ländlich geprägt. Ist das aus Ihrer Sicht eher ein Vorteil oder ein Nachteil für gelingende Integration?
Stephan Neher: Rottenburg am Neckar ist eine Flächenstadt. In den 17 dörflich geprägten Ortschaften leben etwa genauso viele Menschen wie in der Kernstadt. Diese Struktur ist für uns von Vorteil, denn die Last kann besser verteilt werden. Wir profitieren von der guten Infrastruktur: Wir haben in allen Ortschaften Kindergärten und in fast allen Grundschulen. Da wir auf dezentrale Unterbringung setzen, können wir flexibel auf immer wieder freiwerdende Plätze in den Einrichtungen reagieren. Und so entsteht in der aufnehmenden Gesellschaft nicht das Gefühl, etwa bei Kindergartenplätzen, nicht zum Zuge zu kommen.
Wie stehen die Rottenburger Bürgerinnen und Bürger zu ihren neuen Mitbürgern? Was unternehmen Sie, um ein positives Klima des Zusammenlebens zu fördern?
Stephan Neher: Wir nehmen unsere Bürgerschaft als ausgesprochen aufgeschlossen gegenüber den Zugewanderten wahr. Das mag daran liegen, dass wir als Bischofsstadt einen hohen Anteil von Menschen haben, die sich christlichen Werten verpflichtet fühlen. Und vielleicht trägt auch unsere städtische Integrationsarbeit dazu bei. Begegnung und Verständnis füreinander stehen für uns im Vordergrund, etwa beim jährlich stattfindenden zweitägigen „Fest der Nationen“. Auch die Volkshochschule ist ein wichtiger Partner – mit einem stabilen Angebot an Integrations- und Sprachkursen. Wenn sich die Verwaltung in der Wahrnehmung der Bevölkerung um gute Integration kümmert, stärkt dies auch das Vertrauen und fördert das positive Klima gegenüber Zugewanderten.
Wie ist es um die Arbeitsmarktintegration bestellt, vor allem was die Arbeitsbereitschaft und den Sprecherwerb angeht? Gibt es spezielle Programme und Trainings, um Zugewanderte besser in den Arbeitsmarkt zu integrieren?
Stephan Neher: Wir haben seit einigen Jahren einen Arbeitskreis „Arbeitsmarktintegration“. Er liegt in der Verantwortung unseres Wirtschaftsförderers und unserer Integrationsbeauftragten. Auch unser Erster Bürgermeister ist regelmäßig dabei. Und dann sind verschiedene Sprachkursträger und der Fachdienst für Geflüchtete beim Landratsamt vertreten. Eine wichtige Errungenschaft dieses Arbeitskreises ist eine „Arbeitgebersprechstunde“, gemeinsam mit unserer Ausländerbehörde, um potenzielle Arbeitgeber bei der Beschäftigung von Geflüchteten zu unterstützen.
Neben vielen Erfolgen, die wir einem gut funktionierenden Netzwerk von unterschiedlichen Trägern verdanken, gibt es natürlich auch Herausforderungen: etwa die Arbeitsmarktintegration von nichtalphabetisierten Menschen. Hier braucht es niedrigschwellige Deutschkurse, um erforderliche Grundkenntnisse für Alltag und Arbeit zu vermitteln. Wir sind sehr froh, dass es in Rottenburg so viel ehrenamtlich Engagierte gibt, die gerade beim Spracherwerb, aber auch bei der Vermittlung von Arbeit oder Wohnraum einen großen Beitrag leisten. Wir setzen vermehrt auf den direkten Austausch mit den Betrieben, um zu erfahren, was für Arbeitskräfte sie benötigen und sie wenn möglich schnell zu vermitteln. Und wir werben bei den Arbeitgebern dafür, auch mal Menschen mit geringem Sprachniveau einzustellen.
Wie geht Rottenburg mit dem Thema Religion um, und wie werden christliche Traditionen und andere religiöse und kulturelle Bräuche integriert?
Der „Interreligiöse Dialog“ gehört zum Aufgabenbereich unserer Integrationsbeauftragten. Und wir denken schon lange über einen „Rat der Religionen“ nach. Noch sind es aber einzelne Aktionen oder Veranstaltungselemente, die das religiöse Verständnis füreinander fördern sollen. Anlässlich unseres Stadtjubiläums „750 Jahre Rottenburg“ gab es eine gemeinsame Ausstellung der katholischen, evangelischen und muslimischen Gemeinden, bei der die Exponate durch die verschiedenen Kirchen und Gebetshäuser gewandert sind. Vor kurzem haben wir mit der muslimischen Gemeinde das Fastenbrechen in der städtischen Zehntscheuer gefeiert. Dem „Muslimischen Forum“ oder einer Gruppe afghanischer Menschen bieten wir Räume für religiöse Begegnung und Austausch, allerdings an die Bedingung geknüpft, dass die Räume offen für alle sind, unabhängig von der Religion. Ein wichtiges Zeichen für Toleranz ist es meiner Ansicht nach auch, dass wir während des Ramadan den täglichen Ruf des Muezzin über eine Lautsprecheranlage in der Innenstadt erlauben.
Bei der Bundestagswahl 2025 erreichte die AfD in Rottenburg am Neckar einen Wähleranteil von 19,1 Prozent. Das war ein deutlicher Zuwachs von 9,9 Prozentpunkten. Wie erklären sich die Wahlergebnisse der AfD trotz dieses von Ihnen positiv gezeichneten Bildes mit Blick auf Zugewanderte?
Stephan Neher: Hier kann ich nur vermuten, dass das der allgemeinen Situation und großpolitischen Lage geschuldet war. Bei uns vor Ort gibt es keine organisierte AfD-Struktur, die das Meinungsbild der Rottenburger*innen stark beeinflussen könnte.
Was würden Sie anderen Städten und Gemeinden mit auf den Weg geben?
Stephan Neher:Ich bin davon überzeugt, dass man Handeln muss und vor vermeintlichen Problemen nicht kapitulieren darf. Nur so gelingt es uns, das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger zu erhalten bzw. zurückzugewinnen. Wer nicht handelt, überlässt die Lösungshoheit anderen, und das sind aktuell extrem gefährliche demokratiefeindliche Kräfte.
Vielen Dank für das Gespräch.
Dr. Franziska Rinke führte das Gespräch. Sie ist Referentin für Integration bei der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.