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Der Kalifatsstaat

Eine verstaubte Geschichte?

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Es wirkt wie eine Episode aus der Wochen-Show des ZDF, wenn Furkan Ibn Abdallah in einer Vortragsreihe auf YouTube oder auf einer Kundgebung in Berlin über Religion und Politik spricht. Das mag an seinem jugendlichen Erscheinungsbild oder einem schief sitzenden grünen Kopftuch liegen, welches mit den Vorstellungen, die man sich gemeinhin über einen islamischen Hodscha, Imam oder Gelehrten macht, so gar nicht in Übereinstimmung zu bringen ist. Gerade weil man derartige „Cyber-Scheichs“ aus dem salafistischen Spektrum bestens kennt, lohnt sich der Blick auf den Prediger, der sich als Vertreter des Kalifatsstaates gibt. Es bewahrt davor, ein allzu eindimensionales Bild des zeitgenössischen Islamismus in Deutschland zu zeichnen und seine Geschichte auszublenden.

 

Das Kalifat von Köln

Vor etwa zwei Jahrzehnten hatte Deutschland seinen ersten selbst ernannten Kalifen, den „Kalifen von Köln“. Dieser war ein Türke namens Cemaleddin Kaplan, der Anfang der 1980er Jahre – in der Türkei hatte sich gerade das Militär an die Macht geputscht – nach Deutschland kam. Damit entsprach er einem Wunsch Necmettin Erbakans, dem Gründer der türkisch-islamistischen Gruppe Milli Görüş, deren „nationale Sicht“ Kaplan zunächst teilte. Doch bald schon trennten sich die Wege der beiden, denn der politische Kompromiss und die Parteienwirtschaft waren für den Mann in Deutschland nicht mit dem Islam zu vereinbaren, weshalb ihm auch der parlamentarische Weg zur Gründung eines islamischen Staates als Irrweg erschien. So entstand zunächst eine Basisbewegung von religiösen Autodidakten, die sich 1983 von der Milli Görüş-Bewegung absetzte. In gut fundamentalistischer Manier ging es Kaplan darum, der wahrgenommenen Zersplitterung der Muslime durch eine Rückbesinnung auf die Fundamente Koran und Sunna entgegenzuwirken. De facto passierte genau das, was vermieden werden sollte und immer passiert, wenn eine einzige Wahrheit beansprucht wird.

 

Radikalisierung der Gruppe

In den 1990er Jahren radikalisierte sich der Kaplanverband, wurde durch die Ausrufung des Kalifats zum „Kalifatsstaat“ (Hilafet Devleti) und rief sogar zum Dschihad gegen die Türkei auf. Ein zentraler Grund war ein ideologischer Schwenk. Dieser führte weg vom einstmals als vorbildlich erachteten schiitischen Revolutionsmodell, welches Cemaleddin auch den Titel „Khomeini von Köln“ eingebracht hatte und ging einher mit der Entmachtung des pro-iranischen Flügels. Derartige Kurskorrekturen müssen durchgesetzt und kontrolliert werden – kein Wunder also, dass die Bewegung immer mehr zur elitären Kaderpartei wurde, deren Gallionsfigur sich im Jahr 1994 auch als Kalif huldigen ließ. Die Folge – der Austritt all jener Gemeindemitglieder, die in der Ausrufung eines Kalifats eine Anmaßung sahen – beförderte einen Prozess zunehmender Abkapselung. Selbstreferentielles Gruppendenken, in dem frühere Weggefährten zu Gegnern wurden, machte sich breit.

 

Das vermeintliche Ende des Kalifatsstaates

Die Radikalisierung des Kaplanverbandes erreichte ihren Höhepunkt unter dem zweiten Kalifen, Metin Kaplan. Ganz nach dynastischem Prinzip trat er als Sohn von Cemaleddin im Jahr 1995 die Nachfolge im Kalifenamt an. Doch gerade so, als ginge es um die Wiederaufführung der islamischen Geschichte um die erste Jahrtausendwende, ließ ein Herausforderer nicht lange auf sich warten. Bereits im Jahr 1996 ernannte sich mit Ibrahim Sofu ein gelernter Arzt aus Berlin zum Gegenkalifen, wofür er prompt mit einer Todesfatwa von Metin Kaplan belegt wurde. Als es ein Jahr später zur Ermordung Sofus kam, war das Motiv schnell ausgemacht und obwohl der Täter bis heute unbekannt ist, wurde der Kalif 1999 wegen Mordaufruf zu einer vierjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Seine Überstellung an die Türkei im Jahr 2004 bedeutete weiteres Ungemach, da ihm dort die Beteiligung an einem Anschlag auf das Atatürk-Mausoleum im Jahr 1998 zur Last gelegt wurde, dessen Hintergründe letztlich ebenso im Dunklen liegen wie die Ermordung des Gegenkalifen.

 

Gefangenensolidarität

Es lohnt sich, die Verurteilung Kaplans zu lebenslanger erschwerter Haft in der Türkei aus dem Jahr 2005 im Lichte einer gegenwärtigen Initiative zur muslimischen Gefangenensolidarität zu sehen. Einer ihrer maßgeblichen Protagonisten ist Bernhard Falk, Mitglied einer Zweierbande mit dem hochtrabenden Namen Antiimperialistische Zellen. Sie war in den 1990er Jahren für mehrere Brandanschläge verantwortlich und wähnte sich nach dem Ende der Roten Armee Fraktion (RAF) als letzte Vertreterin antiimperialistischer Fundamentalopposition. Dem Prozess gegen den damals zum Islam konvertierten Falk vor mehr als fünfzehn Jahren wohnten auch Vertreter des Kalifatsstaates bei. Und bis heute eint Falk und den eingangs erwähnten YouTube-Prediger in Kaplantradition, Furkan Ibn Abdallah, die Parteinahme und Unterstützung für den inhaftierten Ex-Kalifen Metin Kaplan. Es ist bezeichnend, dass Aktivisten wie Bernhard Falk, einem Trend der Zeit folgend, als Salafisten kategorisiert werden. Mit nicht minder guten Gründen ließe er sich auch als muslimisch gewendeter Anti-Imperialist oder Kaplan-Unterstützer sehen.

 

Alter Wein in neuen Schläuchen

Aus heutiger Sicht gibt es mehrere Gründe, den Fall Kalifatsstaat nicht ad acta zu legen. Denn Jugendliche, die mit auffälliger islamischer Kleidung und provokanten Praktiken die Öffentlichkeit suchen, sind kein Privileg des Salafismus. „Stigmaaktivisten“, die Aufsehen erregen wollen, um sich dann verfolgt zu wähnen, gab es schon in den 1990er Jahren. Was es auch schon gab, waren Diskussionen, in denen der Islam der Eltern in Frage gestellt wurde, um sich im Generationenkonflikt zu emanzipieren oder die Überzeugung, zu einer wirkmächtigen Elite zu gehören – ein Umstand, der bereits damals manche zum Dschihad nach Bosnien oder Afghanistan brachte. Es ist ein Phänomen, das der Kulturanthropologe und beste Kenner des Kaplanverbands, Werner Schiffauer, in einem immer noch aktuellen Artikel des Wochenmagazins DIE ZEIT vor fast 15 Jahren auf die Formel brachte „ich bin etwas Besonderes“. Darin rahmt er das Anliegen der zweiten Generation von Türken in Deutschland als einen Kampf um Anerkennung. Wenn es ein solcher war, dann fand er mit dem Betätigungsverbot nur ein vorläufiges Ende.

 

Geister der Vergangenheit

Vieles spricht dafür, dass mit dem Verbot der Bewegung und ihrer Zweigstellen in den Jahren 2001 und 2002 das Problem nicht beseitigt war. Im Gegenteil: Werner Schiffauer mutmaßte schon vor einem Jahrzehnt, dass dadurch die gerade am Nullpunkt befindliche Gemeinde revitalisiert worden sei und ihre Untergrundstrukturen Zulauf hätten. Einzelfälle wie der im Jahr 2012 wegen Unterstützung der Islamischen Bewegung Usbekistans (IBU) verurteilte Schwiegersohn von Metin Kaplan sprechen für diese These. Nicht zuletzt deswegen, weil bereits sein Vater ein enger Vertrauter der Familie Kaplan gewesen sein soll. Dass sich dennoch über die möglichen Um- und Neustrukturierungen nur spekulieren lässt, ist ein Dilemma. Es gibt kaum belastbares Wissen oder substantielle Forschung zu den Langzeitfolgen von Verbotsverfügungen. Und so bleibt zum einen, sich mit den Einschätzungen von Szenekennern wie Ahmet Senyurt oder Guido Steinberg zufrieden zu geben, die in Untergrundstrukturen des Kalifatsstaats einen „Rekrutierungspool“ gerade für Menschen in Deutschland mit türkischem Zuwanderungshintergrund sehen (Guido Steinberg). Eine andere Möglichkeit besteht darin, alles unter einen vermeintlich neuen Salafismus zu subsumieren und die Geschichte ruhen zu lassen.

Klaus Hummel

 

Lesetipps:

  • Werner Schiffauer, Die Gottesmänner - Türkische Islamisten in Deutschland, Frankfurt a.M. 2000.
  • Werner Schiffauer, Ich bin etwas Besonderes, DIE ZEIT vom 4. Oktober 2001 (Ausg. 41).
  • Furkan Bin Abdullah, Die Akte Kalifatsstaat.
  • Guido W. Steinberg, German Jihad. On the Internationalization of Islamist Terrorism, New York 2013.

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