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Reportajes internacionales

Die Auseinandersetzung um die Seegrenze zwischen Peru und Chile

de Reinhard Willig, Mathias Mäckelmann

Ein Stimmungsbild im Vorfeld des Urteils des Internationalen Gerichtshofes

Am 27. Januar 2014 wird der Internationale Gerichtshof in Den Haag (IGH) das Urteil zu dem von der Regierung Perus 2008 gegen Chile eingeleiteten Verfahren verkünden. Beide Regierungen betonen, das Urteil anzuerkennen und unverzüglich umzusetzen, um eine neue Phase intensiverer bilateraler Beziehungen einzuleiten. Politische Entwicklungen in Chile im Zusammenhang mit den kürzlich stattgefundenen Präsidentschaftswahlen und die optimistische Einschätzung der peruanischen Öffentlichkeit bezüglich des Urteilstenors haben allerdings zu Spannungen in der öffentlichen Meinung beider Länder geführt.

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1. Worum geht es eigentlich?

Ausgangspunkt des Streites war ein im Jahre 1954 mit Ecuador und Chile unterzeichnetes Abkommen, in dessen Mittelpunkt die Fischereigrenzen standen. Im Falle Ecuadors wurde dieses Abkommen zur Abgrenzung von Fischereigründen durch eine beide Seiten zufriedenstellende Grenzübereinkunft im Jahre 2011 auf der Grundlage des Austausches diplomatischer Noten ersetzt. Im Falle Chiles scheiterten 2000 und 2001 Versuche Perus zu einem Grenzvertrag zu kommen, weil Chile den Standpunkt vertrat, dass mit dem Abkommen von 1954 und Folgevereinbarungen zur Markierung von Leuchtfeuern für die Fischerei von 1968 und 1969 eine Grenzregelung bereits stattfgefunden habe und auch praktiziert werde.

Im Falle Chiles wurde als Referenz für die Festlegung der Fischereigrenzen im Jahre 1954 ein Punkt (Hito 1) genommen, der rd. 180 m im Landesinneren liegt und von dem eine Linie auf das Meer im 45-Grad-Winkel (sogenannte Parallel-Linie) gezogen wurde. Aufgrund des Küstenverlaufs von Peru und Chile schrumpft dieser Winkel ab der Küste auf weit weniger als 45 Grad, während er im Falle Chiles auf nahezu 90 Grad steigt. Entsprechend erweitert sich der Meeresanteil für Chile und verringert sich dieser für Peru.

Im November 2005 beschloss das peruanische Parlament zudem – in Übereinstimmung mit den internationalen Rechtsregeln der Seerechtskonvention von 1982 – die peruanischen Hoheitsgewässer parallel zur Küstenlinie Perus auf 200 Seemeilen auszuweiten. Aufgrund der geografischen Form der Westküste Lateinamerikas brachte das allerdings Überlappungen mit den gleichen Ansprüchen Chiles.

Für eine abschließende Grenzvereinbarung mit Chile vertritt die Regierung Perus die Position, dass ein Referenzpunkt direkt am Ufer an der Küste (Punkt Concordia) zu wählen sei. Von diesem Punkt sei eine Grenzlinie im 90-Grad-Winkel bis zum Ende der 200-Meilen-Hoheitszone zu ziehen (sogenannte Linie gleicher Distanz). Aufgrund des Verlaufs der Küstenlinie beider Länder würde dies im Ergebnis bedeuten, dass Chile seine Souveränitätsrechte über eine Zone von rd. 38.000 qm (sogenanntes inneres Dreieck) an Peru verlieren würde und Peru zudem eine weitere Zone von rd. 28.000 qm (sogenanntes äußeres Dreieck) gewinnen würde, die bisher außerhalb der chilenischen 200-Meilen-Hoheitsgewässer, aber innerhalb der reklamierten peruanischen Hoheitsgewässer liegt. Chile betrachtet diese Zone als „internationales Gewässer“.

Nachdem Verhandlungsversuche nicht zu dem gewünschten Ergebnis führten, entschloss sich Peru schließlich, im Januar 2008 seine Position beim Internationalen Gerichtshof (IGH) einzuklagen. Nach Annahme der Klage folgte im Jahre 2009 die schriftliche Klagebegründung, die dann 2010 von Chile beantwortet wurde. In den Jahren 2011 und 2012 fanden dann die mündlichen Verhandlungen in Den Haag statt.

2. Warten auf das Urteil...

Ursprünglich wurde der abschließende Urteilsspruch des IGH für Mitte 2013 erwartet, dann aber – wohl auch unter dem Eindruck der beiden Runden der Präsidentschaftswahlen in Chile – auf den 27. Januar 2014 verschoben. Das Urteil ist nicht anfechtbar und die Umsetzung liegt in den Händen der beteiligten Regierungen. Falls sich Veränderungen urteilsrelevanter Tatbestände im Nachhinein ergeben, kann einer der Prozessbeteiligten innerhalb von 10 Jahren nach Urteilsverkündung eine Revision verlangen. Bislang hat der IGH zwei solcher Anträge erhalten, aber keinem stattgegeben.

Nachdem während des laufenden Prozesses vor dem IGH stets ein sehr sachliches Klima in Peru und Chile bezüglich des Themas geherrscht hatte, änderte sich in den letzten Wochen mit der angekündigten Gerichtsentscheidung die Stimmung in der Politik und der öffentlichen Meinung beider Länder.

Beide Präsidenten, Ollanta Humala in Peru und Sebastian Piñera in Chile, hatten sich mehrmals öffentlich dazu verpflichtet, den Urteilsspruch von den Haag zu akzeptieren und unverzüglich umzusetzen. Das unterstrichen sie auch bei einem gemeinsamen Treffen im letzten Jahr, nachdem Kolumbien sachliche Probleme zur Aussetzung der Umsetzung des Urteilsspruchs des IGH im Grenzstreit mit Nicaragua geltend gemacht hatte. Auch in den meisten Medien sowie von den politischen Parteien in beiden Ländern war der Umgang mit dem Thema sachlich und sehr besonnen. Als zukünftigem nicht-ständigem Mitglied des UN-Sicherheitsrates ist Chile zudem eine besondere Sensibilität gegenüber internationalen Rechtsfragen auferlegt.

In den letzten drei Wochen vor dem Urteil haben sich jedoch Emotionen ihren Platz in der Debatte verschafft. So verspürt man auf peruanischer Seite eine gewisse Unbekümmertheit, die mit einem unverhohlenen Optimismus bezüglich des zu erwartenden Ergebnisses Hand in Hand geht. Auf chilenischer Seite ist stattdessen eine Art Beklemmung und Nervosität bei den meisten Politikern festzustellen. Betrachtet man die Erfolgsaussichten beider Länder im Lichte der bisherigen Rechtssprechung des IGH, hat Chile tatsächlich mehr zu verlieren. Für Peru bliebe nach einem negativen Urteil im schlechtesten Fall alles beim Alten. Die Chilenen hingegen empfinden jegliche Änderung des im Vertrag von 1954 vereinbarten Verlaufs der Fischereigrenzen als Verlust an Souveränität.

Erschwert wird das Thema noch dadurch, dass es Züge eines Null-Summen-Spiels aufweist: Jede Entscheidung zugunsten einer Seite ist zuungunsten der anderen. Zudem fühlt sich Chile verständlicherweise unter Druck gesetzt, da Bolivien noch in diesem Jahr Verhandlungen mit Chile über einen Zugang zum Meer vor dem Internatio-nalen Gerichtshof von den Haag einklagen möchte. Die Klage wurde bereits vom IGH angenommen und eine schriftliche Klageschrift Boliviens steht kurz bevor.

Die optimistische Stimmung in Peru hat dazu geführt, das einige Politiker dazu aufgerufen haben, im Vorfeld des Urteilsspruches des IGH die Städte mit Flaggen als Zeichen der Einigkeit und des Patriotismus zu schmücken. Dieser Vorschlag fand jedoch keine Unterstützung in der Öffentlichkeit. Stattdessen wird von offizieller Seite und auch von den politischen Parteien zur Besonnenheit gemahnt.

Im Falle Chiles demonstrierten Sebastian Piñera und seine designierte Nachfolgerin Michele Bachelet ebenfalls Einigkeit und suchten den Schulterschluss mit den politischen Kräften des Landes.

Beide Regierungen bemühen sich, vor allem die betroffene Bevölkerung in der Grenzregion umfassend über Stand und Perspektiven des laufenden Prozesses zu informieren. Gleiches gilt für die Katholischen Bischofskonferenzen beider Länder. Eine von der Konrad-Adenauer-Stiftung ins Leben gerufene Ständige Arbeitsgruppe für gutnachbarschaftliche Beziehungen beider Länder, bestehend aus Vertretern der Zivilgesellschaft, hat seit 2011 durch eine ganze Reihe von Veranstaltungen und Publikationen die zukünftigen Herausforderungen für die gemeinsamen Interessen beider Länder analysiert und verbreitet.

3. Der Tag danach

Der Ablauf des 27. Januar sieht vor, dass zunächst das Urteil in englischer Sprache vom Gerichtspräsidenten verkündet wird. Anschließend trägt der Gerichtssekretär die Punkte der Urteilsbegründung vor. Das gesamte Urteil wird auf der Webseite des IGH veröffentlicht. Die Regierungen Perus und Chiles haben sich auf eine inoffizielle Übersetzung dieser Zeremonie in spanische Sprache geeinigt. Im Falle Perus erfolgt eine Übertragung auf sämtlichen nationalen Kanälen.

Um die Mittagszeit werden dann die beiden Präsidenten Humala und Piñera zeitgleich zur Orientierung der öffentlichen Meinung eine erste Stellungnahme zum Urteilsspruch abgeben.

In Peru soll dann am Nachmittag die Außenministerin Eda Rivas Stellung nehmen, sowie der Vorsitzende der peruanischen Delegation in Den Haag den Sachverhalt nach dem Urteilsspruch näher erläutern.

Während die peruanische Regierung unverändert daran festhält, das Urteil zu akzeptieren und zügig umzusetzen, sprach sich die designierte Präsidentin Michele Bachelet zwar auch dafür aus, das Urteil anzuerkennen, räumte jedoch gleichzeitig die Möglichkeit ein, es auf die chilenische Verfassung und die Souveränität des Landes hin zu überprüfen. Sekundiert wurde sie vom Abgeordneten Jorge Tarud, Mitglied des Auswärtigen Ausschusses des Kongresses, der – allerdings ohne Widerhall in der öffentlichen Meinung zu finden – ein Referendum für den Fall eines für Chile negativen Urteils des IGH forderte. Der amtierende Präsident Piñera äußerte sich in seiner Stellungnahme dahingehend, dass Chile das Urteil respektieren würde, dass dessen Umsetzung jedoch nicht sofort erfolgen könne, da die kartographischen und gesetzlichen Änderungen sicherlich Zeit beanspruchen würden. Auch hat sich Präsident Piñera dahingehend geäußert, dass Peru und Chile dazu eine gemeinsame Arbeitsgruppe bilden könnten, um die Umsetzung des Urteils reibungslos in die Wege zu leiten. Auf peruanischer Seite mehren sich dagegen die Stimmen, dass gemeinsame Arbeitsgruppen für die Umsetzung nicht notwendig seien, da das Urteil über sämtlichen dagegen stehenden Gesetzen und Vorschriften stünde und diese automatisch an Rechtskraft verlieren würden. Im Übrigen könne jede Seite die ihnen von dem Urteilsspruch zugewiesenen Souveränitätsrechte unverzüglich wahrnehmen, zumal es sich um Wasserflächen handelt, die keinerlei Bevölkerungsverschiebungen oder Übergabe von Gebäuden oder Infrastruktur voraussetzen.

Aus wirtschaftlicher Sicht geht es bei den Auswirkungen des Urteilspruchs zunächst vor allem um den Fischfang. Eine Ausweitung der peruanischen Hoheitsgewässer würde dazu führen, das die lokalen Fischer im Norden Chiles, vor allem in der Gegend von Arica, den bisherigen Zugang zu den reichen Fischgründen verlieren und umgekehrt die peruanischen Fischer ihre Fanggebiete beträchtlich ausweiten.

Wirtschaftlich gesehen ist es sicher im Interesse beider Staaten – auch vor dem Hintergrund der Pazifik-Allianz –-, weiter erfolgreich zusammen zu arbeiten, abgesehen davon welche politischen Probleme nach dem Urteilsspruch auftreten könnten. Nach Brasilien und Argentinien ist Peru das drittwichtigste Land chilenischer Investitionen im Ausland. Vor allem der chilenische Retail-Sektor ist in den letzten 15 Jahren enorm gewachsen, nicht nur in Lima, sondern auch entlang der wichtigen Küstenstädte. Chilenische Kaufhaus- und Supermarktketten wie Ripley, Saga, Tottus oder Sodimac sind längst Teil des Stadtbilds geworden, geben Tausenden Arbeit und haben auch dazu geführt, dass sich die peruanische Konkurrenz qualitativ gesteigert hat. Der größte Stromanbieter Perus, Luz del Sur, ist in chilenischen Händen. Der peruanische Luftverkehr wird vom chilenischen Konsortium LAN dominiert. Gleichzeitig investieren auch immer mehr peruanische Unternehmen in Chile, aufgrund geringerer Wirtschaftskraft jedoch längst nicht in gleichem Maße wie die Chilenen in Peru. Peru verfügt über Investitionsvorhaben vor allem im Bau-, Nahrungsmittel- und Finanzsektor Chiles. Insgesamt belaufen sich die bilateralen Investitionen auf rd. 20 Milliarden US-Dollar.

Es ist im Moment schwer vorherzusagen, wie sich das Urteil auf die Beziehungen beider Nachbarstaaten tatsächlich auswirken wird.

Politisch gesehen käme ein positiver Urteilsspruch dem Präsidenten Ollanta Humala sehr gelegen, da sich seine Umfragewerte in den letzten Monaten kontinuierlich verschlechtert haben. Auch wenn es nicht die zahlreichen Probleme der Regierung lösen wird, verschafft so ein Ereignis doch eine kleine Atempause und lenkt die Aufmerksamkeit etwas ab. Ein für Peru negativer Urteilsspruch würde wenig an der gesamtpolitischen Situation ändern.

Umgekehrt würde ein für Chile negativer Urteilspruch die politische Konjunktur des Landes weiter anheizen und die Suche nach Verantwortlichen würde die Auseinandersetzung zwischen dem Mitte-Links-Lager und der Mitte-Rechts-Allianz, aber auch innerhalb der Mitte-Rechts-Allianz verschärfen. Ein positiver Ausgang dagegen würde die politischen Diskussionen beruhigen.

Einige Experten sehen den Urteilsspruch, der die letzten Grenzstreitigkeiten zwischen beiden Ländern klärt, als Chance einer Annährung zwischen beiden Staaten, um an einer gemeinsamen Zukunft zu arbeiten, obwohl leider noch Vorurteile und Ressentiments in beiden Ländern anzutreffen sind. Chiles Präsident Piñera traf sich vor einigen Tagen mit seinem Obersten Nationalen Sicherheitsrat, um über die Auswirkungen des Urteils von Den Haag zu sprechen. In einer öffentlichen Erklärung bestätigte er, dass vor allem in den Gebieten, wo die meisten der rd. 300.000 peruanischen Staatsbürger in Chile leben, die Polizei spezielle Sicherheitsvorkehrungen treffen werde. Hintergrund seien mögliche Spannungen, die je nach Ergebnis des Urteilspruchs auftreten könnten.

Die bisher von beiden Regierungen, den politischen Parteien und den gesellschaftlichen Gruppen bis hin zu den Kirchen gezeigte Besonnenheit bezüglich Akzeptanz und Umsetzung des Urteils des IGH werden dazu beitragen, in den Beziehungen zwischen beiden Ländern ein neues Kapitel mit Blick auf zukünftige gemeinsame außen- und wirtschaftspolitischen Herausforderungen im Rahmen der regionalen Integration aufzuschlagen.

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