Comptes-rendus d'événement
Boris Reitschuster, Journalist und ehemaliger Leiter des Moskauer Büros der Zeitschrift „Focus“ sowie Autor mehrerer Bücher über den Präsidenten Wladimir Putin, gab den geladenen Gästen der Veranstaltung die Möglichkeit, durch seine Erfahrungsberichte das politische System aber vor allem auch die russische Mentalität zu verstehen.
Innerhalb seines Vortrages betonte Boris Reitschuster den Unterschied zwischen der einfachen russischen Bevölkerung und Systemangehörigen der politischen Elite. Die Menschen seien Deutschen gegenüber aufgeschlossen und zeigten eine große Offenheit und Gastfreundschaft. Seine eigenen Erfahrungen in den 1990er Jahren hätten sein Bild der russischen Bevölkerung geprägt. In Russland herrsche ein anderes Verständnis von Politik und Ordnung, weshalb bei Diskussionen oft Welten aufeinander treffen würden. Darüber hinaus stehe die Erwartungshaltung des Westens einer tiefgreifenden Völkerverständigung eher im Weg – die westliche Seite erwarte von Russland, sich sofort in eine lupenreine Demokratie verwandeln zu können, eine Haltung, der aufgrund der vorherrschenden Korruption nur schwer nachzukommen sei. Reitschuster sprach hier offen von einem „Mafiastaat“, der eine der ungerechtesten Vermögensverteilungen weltweit zur Folge habe. Etwa 110 Menschen in Russland besäßen demnach ein Drittel des gesamten Volksvermögens, während die Infrastruktur und die Gesundheitsversorgung für die Mehrheit der Bevölkerung nicht ausreichend finanziell gedeckt werden könne.
Reitschuster betonte allerdings auch, dass der russische Präsident durchaus etwas an der Korruption im Lande ändern wolle, aber sowohl an der Größe des Landes selbst, als auch am eigenen Streben alles unter Kontrolle haben zu wollen, scheitere.
Um von innenpolitischen Problemen abzulenken, werde massiv der Westen als Bedrohung dargestellt, die aber real nicht existiere. Boris Reitschuster beschrieb die Taktik von Wladimir Putin im außenpolitischen Bereich mit einem Spielfeld beim Fußball: Es werde systematisch versucht, den Rasen kaputt zu machen, um ein Spiel zu verhindern. Übertragen auf die Realpolitik hieße das, man müsse dafür sorgen, dass die europäischen Staaten miteinander und untereinander beschäftigt seien - zum Beispiel durch Krisen oder durch indirekte Einmischung durch die Verbreitung von Fake-News oder die Unterstützung populistischer Parteien in den jeweiligen Ländern. Das Erzeugen von Grauzonen und das Verbreiten von Verschwörungstheorien führen zu einer permanenten Infragestellung und letztlich zu einem Werte- und Vertrauensverlust.
Außerdem machte Boris Reitschuster auf die verzerrte Wahrnehmung in Deutschland aufmerksam: Werde beispielsweise der amerikanische Präsident Donald Trump in den Medien klar verurteilt, sei der Umgang mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin nicht eindeutig klar. Dies sei angesichts der Existenz einer funktionierenden Demokratie in den USA mit ihren Kontrollmechanismen gegenüber dem Präsidenten eine nicht nachvollziehbare Reaktion. In Russland sei die Justiz fernab eines unabhängigen Zustands, Kontrollorgane gegenüber dem Präsidenten seien de facto nicht gegeben. In Deutschland hielten demnach 13% der Befragten einer Umfrage die USA für einen verlässlichen Partner, während die Verlässlichkeit Russlands mit 30% bewertet wurde. Boris Reitschuster erklärte diese Ergebnisse mit dem Verlust von Maßstäben in Bezug auf die Beurteilung Russlands. Im Hinblick auf die Krimkrise machte Reitschuster deutlich, dass Putin es immer wieder schaffe, durch gezielte Propaganda und Inszenierung das Bild von Russland in der Welt nicht nachhaltig zu schädigen. Der Einsatz russischer Soldaten auf der Krim sei entweder dementiert oder mit dem „Einsatz privater Sicherheitskräfte“ erklärt worden.
Doch wie könnte ein Umgang mit Russland in der Zukunft aussehen? Boris Reitschuster ging hier auf die Haltung Konrad Adenauers in den 1950er Jahren ein: So viel Kommunikation mit Russland wie möglich und die Ängste Russlands ernst nehmen. Andererseits müsse man durch Bündnisse eine deutliche Abwehrbereitschaft erkennbar machen. Im Hinblick auf weitere Sanktionen gegenüber Russland sei zu überlegen, wie andere Signale erzeugt werden könnten. Neben Sanktionen sollte der Zivilbevölkerung Russlands durch Aktionen wie beispielsweise Visafreiheit für russische Studenten und Rentner Dialogbereitschaft aufgezeigt werden.
Im Anschluss konnten Fragen an den Referenten gestellt werden. Hierbei wurde nochmals der Fokus auf die Zukunft Russlands gelenkt. Boris Reitschuster verwies auf weitere Konfliktpotenziale, da gerade die islamische Welt und die wirtschaftliche Konkurrenz mit China in naher Zukunft eine größere Rolle spielen könnten. Ein Schulterschluss mit dem Westen wäre eine gute Option, um die Stabilität des Landes zu gewährleisten. Außerdem sei Putin durch seine von wirtschaftlichen Interessen geleitete Politik auf gewisse Weise berechenbar. Eine Frage richtete sich auf die Konflikte mit den Nachbarländern Russlands. Boris Reitschuster betonte hier, dass die Russen im Ausland lieber gefürchtet, als für schwach gehalten werden wollen. Dennoch sei das Land seit je her gespalten in ein Russland, welches eher dem Westen zugewandt sei und eines der imperialen Machtpolitik. Gerade Europa dürfe nicht in falsche Rücksichtnahme verfallen und müsse eine klare Sprache finden gegenüber Russland. Die Opposition in Russland müsse gestärkt werden und Rechtssicherheit geschaffen werden. Nach einem Schlusswort, in dem Reitschuster darauf hinwies, die Fußball-Weltmeisterschaft zu nutzen, um Zeichen zu setzen und so die russische Politik auf Missstände aufmerksam zu machen, endete die Veranstaltung.
Jessica Nies