Konrad-Adenauer-Stiftung:
Vor 75 Jahren endete der Zweite Weltkrieg. Was kann unsere Erinnerungskultur, was muss auch Politische Bildung, heute und in Zukunft, leisten? Und wo stoßen wir an Grenzen – immerhin leben immer weniger Zeitzeugen, die uns aus eigener Erfahrung von der nationalsozialistischen Barbarei, von Krieg, Leid und Tod, von Vernichtung und Vertreibung, von Heimatverlust und Hungersnöten berichten können…
Bernhard Kaster:
Wenn uns immer weniger Zeitzeugen persönlich und damit ganz authentisch über diesen grausamen unmenschlichen Krieg berichten können, wird die Aufgabe umso wichtiger, die Erinnerung und die Mahnung an die nächsten Generationen weiterzugeben. Vor allem die Erinnerung daran, was Krieg wirklich bedeutet. Jean-Claude Juncker sagte einmal so treffend „Wer an Europa zweifelt, wer an Europa verzweifelt, der sollte Soldatenfriedhöfe besuchen!“
Konrad-Adenauer-Stiftung:
Als ehemaliger Vorsitzender der deutsch-russischen Parlamentariergruppe im Deutschen Bundestag, als langjähriges Mitglied des Petersburger Dialogs und als Vorstandsmitglied des Deutsch-Russischen Forums treten Sie für ein „gutes politisches und gesellschaftliches Miteinander in Europa, mit Russland und für eine stabile und ehrliche Völkerfreundschaft zwischen Deutschland und Russland“ ein. Kein einfaches Unterfangen in diesen Zeiten– welchen Beitrag können etwa die Partnerschaften auf kommunaler bzw. regionaler Ebene leisten?
Bernhard Kaster:
Gerade in politisch angespannten Zeiten ist es wichtig, dass die Zivilgesellschaften enge freundschaftliche Kontakte und Austausch miteinander pflegen. Das gilt für die Wirtschaft, die Kultur und eben auch den kommunalen und regionalen Austausch. Wir dürfen uns zwischen Russland und Deutschland nicht entfremden. Mich freut es, dass wir trotz der ernsten Probleme der vergangenen Jahre – ich nenne die Stichworte Krim und Ukraine – auf der Ebene der Kommunen und Regionen weit über 100 funktionierende Partnerschaften auf Augenhöhe erleben. Nur ein Beispiel, an dem ich selbst mitwirken durfte: Auf der letzten deutsch-russischen Städtepartnerschaftskonferenz mit fast 1000 Teilnehmern in Aachen und Düren wurde eine neue Kooperationsvereinbarung geschlossen zwischen der Kommunalakademie Rheinland-Pfalz e.V., dem Institut für kommunale Entwicklung Krasnojarsk (Sibirien), der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. und dem Deutsch-Russischen Forum e.V.
Konrad-Adenauer-Stiftung:
In den vergangenen Jahren haben Sie mehrere Gedenk- bzw. Soldatenfriedhöfe in Russland besucht. Welche Eindrücke haben Sie dort gewonnen?
Bernhard Kaster:
Für mich persönlich sind zwei Erinnerungsorte von großer Bedeutung, Orte, die mich zutiefst berührt haben. Das ist zum einen der Gedenkfriedhof Piskarjowskoje in Sankt Petersburg. Das geht unter die Haut, daran erinnert zu werden, wie man in einer über zweijährigen Blockade Menschen, Alte und Junge, Frauen und Kinder, im damaligen Leningrad ganz elendig hat verhungern lassen. Über eine Million Tote. Schockierende Bilder von Müttern, die in völliger Verzweiflung versuchten, noch Essbares für ihre Kinder zu finden. Der zweite Ort ist der Soldatenfriedhof Sologubowski, auch bei Sankt Petersburg. Hier ruhen, sehr würdevoll, die sterblichen Überreste Tausender Soldaten, deutscher Soldaten. Der Friedhof entstand in dieser Form erst Ende der 1990er Jahre. Diesen Friedhof, gerade dort, empfinde ich als eine ganz große, mich tief bewegende Geste Russlands.
Konrad-Adenauer-Stiftung:
In einem Videobeitrag haben Sie den „8. Mai 2020“ kürzlich als einen besonderen Auftrag beschrieben, sich stärker zu engagieren, Verantwortung zu übernehmen und für Frieden und Freiheit in Europa zu streiten. Was heißt das für Sie konkret, im Kleinen vor Ort wie im Großen auf der europäischen und internationalen Ebene?
Bernhard Kaster:
Am 75. Jahrestag der Beendigung des Zweiten Weltkrieges müssen wir uns fragen: Haben wir genügend Lehren aus diesem Menschheitsdrama gezogen? Nach 1945 folgte die Teilung Europas, der Kalte Krieg, dann neue Wege der Verständigung durch die KSZE, in den 1990iger Jahren die Überwindung der europäischen und deutschen Teilung. Heute stehen wir vor neuen Konflikten und die Weltordnung ist im Umbruch. Vielleicht bräuchten wir eine Neuauflage dieser Konferenz von Helsinki. Und vor allem muss endlich der Ukraine-Konflikt gelöst werden. In Europa, diesem großen Friedensprojekt, erleben wir die letzten Jahre leider auch besorgniserregende Entwicklungen. Wir erleben da und dort einen neuen Nationalismus, ein wirkliches Übel, und mangelnde Solidarität. Und deshalb muss es wieder viel mehr die Aufgabe eines jeden Einzelnen sein – das gilt auch für mich – sich für Europa, für Frieden und Freiheit in Europa zu engagieren.
Konrad-Adenauer-Stiftung:
Sie kamen in Trier zur Welt, waren unter anderem Bürgermeister der Verbandsgemeinde Trier-Land und haben Ihre grenznahe Heimat 15 Jahre im Deutschen Bundestag vertreten. Was bedeutet für Sie „Heimatverantwortung“ in einer so europäischen Grenzregion – in gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Hinsicht und zunächst einmal ganz grundsätzlich?
Bernhard Kaster:
Die Menschen in der Region Trier, oder besser in der Region Trier-Luxemburg, leben eigentlich täglich Europa ganz praktisch vor. Eine wirkliche europäische Modellregion, an der sich viele ein Beispiel nehmen können. Das hat auch mich selbst über Jahrzehnte geprägt. „Heimatverantwortung“ bedeutet für mich, dass fast jedes politische, gesellschaftliche oder wirtschaftliche Problem immer nach einer europäischen Lösung ruft. Vieles ist schon erreicht worden, aber noch viel mehr ist zu tun. Drei Daueraufgaben nenne ich beispielhaft: die bessere Verkehrsanbindung, die politische Stärkung der Großregion und die weitere Ausgestaltung eines funktionierenden grenzüberschreitenden Arbeits- und Ausbildungsmarktes.
Konrad-Adenauer-Stiftung:
Wie halten Sie es mit dem Thema „Lerne zunächst die Sprache des Nachbarn“?
Bernhard Kaster:
Verständigung fängt nun mal als Erstes mit der Sprache an. Eine Binsenweisheit, gerade in Europa. Für Rheinland-Pfalz kann das nur heißen, die französische Sprache als Sprache des Nachbarn sollte generell in spielerischer Form (einzelne Wörter, Lieder) bereits in den Kindergärten angeboten werden. Danach muss die Grundschule folgen. Das leider oft, sogar von der rheinland-pfälzischen Landesregierung verwendete Gegenargument, dass sei womöglich zu schwierig, lasse ich nicht gelten. Als Bürgermeister machte ich die Erfahrung, das neben Englisch auch Französisch schulartspezifisch, ob Gymnasium oder auch Berufsbildende Schulen, unterrichtet werden kann. Das beste Beispiel ist sicher das Saarland.
Konrad-Adenauer-Stiftung:
Und wie halten Sie es mit grenzübergreifenden handlungsfähigen gemeinsamen Institutionen auf regionaler bzw. großregionaler Ebene? Ein tragfähiges europäisches Zukunftsmodell?
Bernhard Kaster:
Aber ja doch! Hier kann ich es mir ein bisschen einfach machen, ich verweise beispielhaft auf den erst 2019 zwischen Frankreich und Deutschland geschlossenen Vertrag von Aachen. Das ganze Kapitel 4 mit den Artikeln 13 bis 17 zur regionalen und grenzüberschreitenden Zusammenarbeit muss nur mit Leben erfüllt werden. Hier ist sogar der Auftrag enthalten, die Gebietskörperschaften und Institutionen der grenzüberschreitenden Regionen „mit angemessenen Kompetenzen, zweckgerichteten Mitteln und beschleunigten Verfahren“ auszustatten.
Konrad-Adenauer-Stiftung:
Sie haben in den vergangenen Jahren gemeinsam mit anderen Persönlichkeiten mehrere „Trierer Appelle“ veröffentlicht. Darin werben Sie für den europäischen Gründungsgedanken, für eine handlungsfähige Großregion und, ganz aktuell, für die schnellstmögliche Aufhebung der strikten Grenzkontrollen. Wie enttäuscht sind Sie, dass wir im Zuge der Corona-Krise wieder ein Dickicht der europäischen Schlagbäume erleben?
Bernhard Kaster:
Das Wort Enttäuschung reicht gar nicht aus. Ehrlich gesagt, so krass hätte ich es nicht für möglich gehalten, wie schnell man in einer Notlage zuallererst mit nationalen Reflexen reagiert. Mich wühlt das richtig auf. Um nicht missverstanden zu werden, ich bin ein Verfechter von Subsidiarität, also der gestuften Wahrnehmung von Verantwortung von unten nach oben. Aber bei der Corona-Krise wären doch zumindest die Themen europäische Solidarität, die Handhabung der Binnengrenzen und die Definierung von Risikogebieten europäische Themen gewesen. Trotz aller Versuche und auch guter Beschlüsse in den vergangenen Wochen, Europa doch noch bei der Lösung in die Verantwortung zu nehmen, bleibe ich dabei, das Europa, ganz besonders zu Beginn, schlicht versagt hat. Luxemburg ist und war kein Risikogebiet und die Beschränkungen waren die gleichen wie in Deutschland, die Schließungen und Kontrollen an der deutsch-luxemburgischen Grenze machen deshalb gesundheitspolitisch keinen Sinn. Vor Ort ist der Schaden riesig. Ich würde mir bei den aktuellen Diskussionen wünschen, man würde sich um Europa und die Binnengrenzen die gleichen Sorgen machen wie um den Beginn der 1. Fußball-Bundesliga.
Konrad-Adenauer-Stiftung:
„Krise als Chance“ heißt unsere Interview-Reihe: Wo sehen Sie in der Not eine Tugend, Licht am Horizont oder Möglichkeiten für eine Renaissance des europäischen Bewusstseins?
Bernhard Kaster:
Die Corona-Krise hat fast allen Menschen bewusst gemacht, dass wir Europa brauchen, weil ein Virus keine Grenzen kennt. Solidarität ist gefragt und auch von der Bevölkerung gewollt. Den Menschen, besonders in den Grenzregionenzu Luxemburg und Frankreich, ist ganz schmerzhaft bewusst geworden, wie wichtig und gut offene Grenzen und die europäische Idee für unser Leben sind. In meiner Region höre ich so stark wie lange nicht mehr den Ruf, wir müssen nach den Enttäuschungen bei Corona neu über unsere Zusammenarbeit, unser europäisches Selbstverständnis und die Stärkung der Regionen reden. Man will mehr Kompetenzen in der Großregion. Und Schengen ist wieder in aller Munde, die Idee von einem gemeinsamen Raum der Freiheit, des Rechts und der Sicherheit.
Konrad-Adenauer-Stiftung:
Was müsste noch geschehen, damit Rheinland-Pfalz, dessen Lage und Geschichte einen solchen Weg doch prädestinieren, als das „europäischste aller Bundesländer“ wahrgenommen wird?
Bernhard Kaster:
Das ist wohl wahr! Da gibt es eine ganze Liste an denkbaren Vorschlägen. Nur ein paar Beispiele: Ich nenne nochmals Französisch als Sprache des Nachbarn in allen Schularten. Wir sollten zudem die Zusammenarbeit in der Großregion mit z.B. Luxemburg, Lothringen oder dem Elsass noch viel stärker auch politisch nutzen, z.B. bei grenzüberschreitenden Schul-, Weiter- und Ausbildungsangeboten. In Rheinland-Pfalz suchen wir Fachkräfte und Auszubildende, in Luxemburg und Frankreich fehlen Ausbildungsplätze, das muss man doch zusammenbringen. Rheinland-Pfalz könnte seine Prioritäten bei der Verkehrsinfrastruktur und beim ÖPNV auf die europäischen, d.h. die grenzüberschreitenden Bedürfnisse ausrichten. Ein noch anderer Aspekt: Für internationale Touristen ist Rheinland-Pfalz auch deshalb attraktiv, weil man für Ausflüge auch Luxemburg oder Frankreich schnell erreicht. Das ist ein Mehrwert, für den man durchaus werben kann. Wir brauchen Unterstützungen für die Kommunen oder Schulen, deren Städte- oder Schulpartnerschaften leider eingeschlafen sind. Der Weg von Rheinland-Pfalz nach Verdun ist nicht weit; ein Besuch des Schlachtfeldes von 1916, wo sich einst François Mitterrand und Helmut Kohl über den Gräbern die Hände reichten, sollte für viele, vor allem für die Schulen, selbstverständlich sein. Die Liste ließe sich um viele weitere Punkte verlängern.
Konrad-Adenauer-Stiftung:
Vor 90 Jahren wurde Helmut Kohl geboren. Denken Sie in diesen Tagen ganz besonders an den Pfälzer, ehemaligen Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz, Bundeskanzler der Deutschen Einheit und Ehrenbürger Europas, dessen Dreiklang, verkürzt ausgedrückt, „Heimat – Vaterland – Europäische Zukunft“ lautete?
Bernhard Kaster:
Vorweg eine persönliche Bemerkung: Bereits als Schüler in den 1970er Jahren erlebte ich Helmut Kohl – im Landtagswahlkampf in Trier. Im September 2002 saßen wir in Berlin nebeneinander, er hatte seine letzte Fraktionssitzung, und ich die erste. Das Gespräch vergesse ich nicht. Unvergessen auch seine Achtung im Umgang mit kleineren Ländern. Ja, sein Dreiklang sollte uns auch heute leiten, mehr denn je. Die globalisierte Welt hat sich verändert, nur ein starkes einiges Europa kann seine bzw. unsere Interessen mit dem nötigen Gewicht vertreten. Und die eigene Heimatregion gibt den Menschen Erdung, Sicherheit und Geborgenheit, gerade in unserer digitalisierten Welt. Europa lebt vor Ort!
Das Interview fand Anfang Mai 2020 statt.
Die Fragen stellte Philipp Lerch.