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Rapports pays

Chile: Das gescheiterte Experiment

Ein Ausblick auf die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im November 2025

Nach dreieinhalb Jahren im Amt zeigt die Regierung von Gabriel Boric deutliche Verschleißspuren. Der Präsident war 2022 mit dem Anspruch angetreten, die demokratischen Institutionen radikal umzugestalten und die traditionelle Politik durch eine junge Generation enthusiastischer, „moralisch überlegener Politiker“ zu ersetzen. Geblieben sind zahlreiche Korruptionsskandale, an denen führende Vertreter der Regierungspartei von Gabriel Boric, Frente Amplio, maßgeblich beteiligt waren. Während klar ist, dass das Boric-Experiment gescheitert ist, bleibt offen, wer bei den Wahlen im November von der Unzufriedenheit vieler Chilenen profitieren kann.  

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Die Regierung Boric: Eine vorläufige Bilanz

Fünf Monate vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 16. November 2025 fällt die Bilanz der aktuellen Regierung ernüchternd aus. Das Experiment, die chilenische Gesellschaft und das politische System grundlegend neu zu gestalten, ist mit der vom Volk abgelehnten Verfassungsreform des Jahres 2022, gescheitert. Damit zerfiel schon zu Beginn der Regierung Borics das Gerüst, welches seine grundlegenden Reformen stützen sollte. Die Abschaffung des Senats, die Umstrukturierung der judikativen Gewalt, die Überrepräsentation indigener Minderheiten im Gesetzgebungsprozess und die Definition Chiles als plurinationaler Staat sind Beispiele des Verfassungsvorschlags, die vom chilenischen Volk mit deutlicher Mehrheit in einem Referendum im September 2022 abgelehnt wurden. Boric hatte bei Amtsantritt im März 2022 den Erfolg seiner Reformen von der plebiszitären Zustimmung seines Verfassungsentwurfes abhängig gemacht – dies wurde ihm zum Verhängnis. Das Scheitern der Verfassungsgebenden Versammlung markierte den Beginn des Endes seiner Reformvorschläge. Aufgrund der Strategie Borics, die Reformen seiner Regierung mit der Zustimmung zum Verfassungsentwurf zu koppeln, verloren seine Initiativen bei der Mehrheit der Chilenen an Legitimität. Bereits weniger als sechs Monate nach Amtsantritt verlor die Regierung daher in allen Umfragen an Zustimmung in der Bevölkerung.

 

Vom moralischen Anspruch, die Politik besser, volksnäher und transparenter zu gestalten, ist ebenfalls nicht viel übriggeblieben. Gabriel Boric, ehemaliger Studentenanführer während der sozialen Unruhen im Jahr 2019, die beinahe zum Sturz der Regierung des damaligen Präsidenten Sebastián Piñera führten, versprach gemeinsam mit seinen jungen, reformversessenen Parteigenossen des Frente Amplio einen radikalen Bruch mit dem Demokratiemodell der letzten dreißig Jahre. Die Politiker der Generation, die insbesondere dank des Mitte-Links-Bündnisses „Concertación“ nach der Diktatur von Augusto Pinochet den Weg für ein vorbildliches, auf kompromissbasiertes Demokratiemodell geebnet und die chilenische Wirtschaftswachstumsperiode zwischen 1990 bis 2015 herbeigeführt hatten, seien ein Auslaufmodell. Man wolle partizipativer, offener und transparenter regieren. Es blieb jedoch beim Lippenbekenntnis. Zahlreiche Bereicherungsskandale, Korruptionsaffären sowie Veruntreuung von öffentlichen Mitteln und Vertuschungsversuche führender Politiker des Frente Amplio haben dazu geführt, dass der moralische Anspruch von Borics Gesinnungsgenossen wie ein Kartenhaus zusammenbrach – ein weiterer Faktor für den Verlust an Legitimität. Von der Reformfreude des Präsidenten sind nur sporadische Anmerkungen in den Medien geblieben. Statt einen radikalen Bruch herbeizuführen, kann Gabriel Borics Regierung heute als sozialdemokratisch bezeichnet werden.

 

Wirtschaftlich stottert der Motor in Chile seit vielen Jahren. Das Bruttosozialprodukt, welches zu Beginn der 90er Jahre jährlich zwischen vier und elf Prozent stieg, stagnierte zwischen 2022 und 2024 bei einem Wachstum von knapp über zwei Prozent. Besorgniserregend sind die fehlenden Investitionen im Bergbau und in der Infrastruktur sowie das träge Genehmigungsverfahren bei Großprojekten.

 

Auch im Bereich der inneren Sicherheit bleibt die Bilanz der Regierung hinter den Erwartungen zurück. Die schlechten Ergebnisse bei der Umsetzung einer erfolgreichen Politik zur Eindämmung der stetig steigenden Unsicherheit haben dazu geführt, dass das Thema innere Sicherheit im Mittelpunkt des diesjährigen Wahlkampfes aller politischen Kräfte steht. Der drastische Anstieg von Verbrechen, Rauschgifthandel und Erpressungen wird maßgeblich von organisierten kriminellen Netzwerken aus Peru, Kolumbien und vor allem Venezuela angeführt. Aus diesem Grund ist die Debatte über mehr Sicherheit mit einer Auseinandersetzung über die schwache Migrations- und Integrationspolitik sowie über die halbherzige Strafvollzugspolitik der Regierung verbunden.

 

 

Wahlen im November

Die Wähler in Chile werden am 16. November vor einer Entscheidung zwischen vier Lagern stehen: die rechtspopulistische Kandidatur des Abgeordneten Johannes Kaiser und seiner Partei Partido Nacional Libertario, die Rechtsaußen-Partei Partido Republicano vertreten durch den ehemaligen Abgeordneten und Präsidentschaftskandidaten José Antonio Kast, die gemäßigte Kandidatin Evelyn Matthei des Mitte-rechts-Bündnisses Chile Vamos und das regierende Linksbündnis, welches Ende Juni – nach Vorwahlen – eine Kandidatin oder einen Kandidaten aufstellen wird. Weitere Splitterparteien, darunter die chilenische Christdemokratie, werden bei der Wahl voraussichtlich keine Rolle spielen.

 

Laut Umfragen gilt Evelyn Matthei, ehemalige Bürgermeisterin der Hauptstadtgemeinde Providencia und langjährige Parlamentarierin, als Favoritin. Sie belegt seit etwa einem Jahr den ersten Platz bei allen seriösen Umfragen. In den letzten Wochen hat jedoch die Kandidatur von José Antonio Kast deutlich an Schwung gewonnen – verbunden mit einem Rückgang der Umfragewerte des rechtspopulistischen Kandidaten Johannes Kaiser. Auch Evelyn Matthei hat bei den meisten Umfragen in den letzten Wochen an Zuspruch verloren und steht in den Umfragen Mitte Juni fast gleichauf mit José Antonio Kast. Das regierende Linksbündnis befindet sich noch in der Phase der Definition einer Präsidentschaftskandidatin, wobei die Sozialdemokratin und ehemalige Innenministerin der Regierung Boric, Carolina Tohá, als Favoritin gilt – dicht gefolgt von der Vertreterin der kommunistischen Partei und ehemaligen Arbeitsministerin von Gabriel Boric, Jeanette Jara.

 

Aus heutiger Perspektive deutet vieles darauf hin, dass bei der Wahlentscheidung Mitte November ein enger Wettbewerb zwischen Kast, Matthei und der Kandidatin des Linksbündnisses zu erwarten sein wird. José Antonio Kast steigt konstant in allen Umfragen und erreicht nach heutigem Stand zwischen 17 und 20 Prozent. Matthei schwankt zwischen 16 und 22 Prozent, während das Regierungsbündnis ebenfalls zwischen 18 und 20 Prozent erreicht. Bei diesem Kräftegleichgewicht stellt sich heute in Chile die Frage, welche beiden Kandidaten die Stichwahl Mitte Dezember 2025 bestreiten werden. Experten gehen von einem eher ausgeglichenen Kräftemessen der drei Anwärter aus, mit leichtem Vorteil für den Rechtsaußen-Kandidaten José Antonio Kast. Der Zustimmungsrückgang von Johannes Kaiser entspricht nach heutigem Stand dem prozentualen Zuwachs der Beliebtheitswerte von José Antonio Kast.

 

 

Sicherheitspolitik im Mittelpunkt des Wahlkampfes

Der Wahlkampf 2025 ist durch eine Homogenität der Hauptthemen geprägt, die die Oppositionsparteien vom Rechtspopulismus bis hin zum gemäßigten Wahlbündnis Chile Vamos in den Mittelpunkt ihrer Regierungsprogramme stellen. Sicherheit und Wirtschaftswachstum stehen dabei für die Opposition an oberster Stelle.

 

Beim Thema Sicherheitspolitik herrscht bei allen Parteien und Wahlallianzen die Überzeugung, dass die galoppierend steigende Kriminalität und irreguläre Migration die zentralen Herausforderungen der neuen Regierung darstellen werden. Fünf Monate vor der Wahl ist der Wahlkampf von einer Aufwärtsspirale geprägt, bei der es darum geht, welcher Kandidat die schärfsten und härtesten Maßnahmen zur Bekämpfung der Kriminalität vorschlägt. Die Positionen des rechtspopulistischen Kandidaten Johannes Kaiser stechen dabei als besonders radikal hervor. Unter anderem fordert er den Einsatz des Heeres zur Wahrung der inneren Sicherheit und zur Bekämpfung der Kriminalität und der irregulären Migration, eine deutliche Erweiterung des Militärdienstes, die Militarisierung der Grenzen, den Bau von Internierungslagern und die Ausweisung aller irregulären Migranten aus Chile - ohne dabei die Frage zu klären, wohin und wie sie ausgewiesen werden sollen. Ferner werden der Aus- und Neubau von Gefängnissen vorgeschlagen, die nach dem Vorbild von El Salvador fungieren sollen.

 

Die Vorschläge des Kandidaten José Antonio Kast differenzieren sich nicht grundsätzlich von den Initiativen von Johannes Kaiser, sind aber spezifischer und detaillierter. Beim Einsatz des Heeres zur Wahrung der inneren Sicherheit schlägt Kast eine Einbindung des Militärs bei der Bewachung der Gefängnisse und zur Kontrolle der irregulären Einwanderung an den Grenzen vor. Der Bau einer Mauer an der Grenze zu Bolivien wurde von Kast im Rahmen einer internationalen Veranstaltung der Conservative Political Action Conference (CPAC) in Budapest, gemeinsam mit Viktor Orbán, angekündigt. Ferner setzt sich Kast für die Liberalisierung der Waffengesetzgebung zur Selbstverteidigung der Zivilbevölkerung ein. Zudem empfiehlt er, ähnlich wie Kaiser, „massive Ausweisungen“ von irregulären Migranten. Die Verschärfung von Strafen für illegale Grenzüberschreitungen sowie der Ausschluss des Zugangs für irreguläre Migranten zum öffentlichen Gesundheits- und Schulsystem sowie das Einfrieren von Geldtransfers ins Ausland sind weitere Vorschläge des Kandidaten Kast.

 

Die Kandidatin Evelyn Matthei befürwortet ebenfalls die Stärkung repressiver Maßnahmen zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität und der irregulären Migration, setzt sich jedoch für die Erarbeitung und Umsetzung einer konzertierten, nationalen Sicherheitsstrategie zur Wahrung der inneren Sicherheit ein. Diese umfasst die Koordination und Kooperation verschiedener staatlicher Institutionen, wie beispielsweise Polizei, Militär, Gendarmerie, zivile Luftfahrtbehörde und Geheimdienste. Im Unterschied zu Kast und Kaiser schlägt Matthei ausschließlich die Ausweisung verurteilter irregulärer Migranten vor, die nachweislich an kriminellen Aktivitäten beteiligt waren. Ähnlich wie Kast und Kaiser befürwortet sie den Ausbau der Gefängnisse (Bau und Ausbau von Hochsicherheitsgefängnissen in abgelegenen Regionen des Landes) sowie eine drastische Verschärfung der Sicherheitskontrollen an den Grenzen. Im Gegensatz zu Kast und Kaiser will Matthei bei der Umsetzung ihres Sicherheitskonzepts völkerrechtliche Abkommen, die von Chile unterzeichnet wurden, wahren. 

 

Es ist bemerkenswert, dass die Kandidaten der Opposition kaum Vorschläge zur Prävention von Kriminalität vorgestellt haben. Die Initiativen der Kandidaten beschränken sich auf die Bekämpfung der Delikte, nicht jedoch auf die langfristige Behebung der sozialen Ursachen. Lediglich Evelyn Matthei hat Präventionsmaßnahmen angekündigt, die sich in erster Linie auf die physische und psychische Förderung von gefährdeten und benachteiligten Jugendlichen richten.

 

Im Bereich der Wirtschaftspolitik wird hauptsächlich die Rolle des Staates unterschiedlich bewertet. Bei der Umsetzung von wirtschaftspolitischen Maßnahmen zur Dynamisierung der Wirtschaft gibt es ebenfalls deutliche Unterschiede. Johannes Kaiser setzt sich für eine durchgehende Liberalisierung durch eine Verkleinerung des Staates auf ein Minimum ein. Steuern sollen massiv herabgesetzt, Genehmigungsverfahren – vor allem im Umweltbereich – sollen drastisch vereinfacht werden. Kaiser plant eine deutliche Reduzierung der öffentlichen Ausgaben des Staates. Über die Strategie zur Umsetzung dieser Maßnahmen hat sich der rechtspopulistische Kandidat nicht geäußert. José Antonio Kast konzentriert seine Vorschläge auf eine Reduzierung der Steuerlast und der Staatsausgaben, verbunden mit der Förderung von Investitionen und dem Abbau von bürokratischen Hürden. Matthei schlägt in diesem Zusammenhang die Verdoppelung des Wirtschaftswachstums durch Investitionsförderung und durch ein vereinfachtes Verfahren bei der Erteilung von Genehmigungen bei Großprojekten – insbesondere im Bereich des Umweltschutzes – vor. Die ordnungspolitische Rolle eines subsidiären Staates wird von Matthei hervorgehoben.

 

Ausblick

Den seriösen Umfragen zufolge sind heute ein Drittel bis die Hälfte der Chilenen weiterhin unsicher hinsichtlich ihrer Wahlpräferenzen. Wahlgewinner wird sein, wem es gelingt, die Gruppe der unentschlossenen Wähler – hauptsächlich junge Menschen und Bürger aus ländlichen Regionen – am besten zu erreichen. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass beide Kandidaten des rechten politischen Randes, José Antonio Kast und Johannes Kaiser, in ihren Diskursen stark auf das chilenische Erbe (chilenidad) und die Pflege der Traditionen setzen. Man solle die chilenische Kultur vor ausländischen Interventionen und Einflüssen schützen, das christliche Erbe des Landes müsse bewahrt werden. Kaiser setzt auf eine „kulturelle Wiedergeburt, gestützt durch die Wahrheit und die Schönheit“. Dies soll insbesondere konservative, ländliche Wähler mobilisieren.

 

Andererseits zeigen langfristige Studien, dass der chilenische Wähler zur politischen Mitte tendiert. Dies spiegelt sich in allen Szenarien einer wahrscheinlichen Stichwahl Mitte Dezember 2025 wider: Matthei gewinnt laut Umfragen sowohl gegen einen möglichen Konkurrenten von rechts als auch gegen die Kandidatur des linken Regierungsbündnisses. Die Kandidatin wird sich daher in den nächsten Wochen voraussichtlich von radikalen Positionen der Rechtsaußen-Kandidaten distanzieren und sich auf Stimmen der Unentschlossenen und der politischen Mitte konzentrieren. Die noch kleine, aber aufstrebende Partei Amarillos por Chile hat in diesem Sinne den ersten Schritt gewagt. Die Partei hat öffentlich ihre volle Unterstützung für die Kandidatur Mattheis angekündigt und der Kandidatin ihr Regierungsprogramm zur Verfügung gestellt. Ob Chile Vamos mit Spitzenkandidatin Evelyn Matthei diese Chance nutzen wird, sich in Richtung politische Mitte zu bewegen, bleibt abzuwarten.

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Olaf Jacob

Olaf Jacob

Leiter des Auslandsbüros Chile

olaf.jacob@kas.de

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