Aggregatore Risorse

Einzeltitel

"Heute glauben mehr Italiener an Gott als früher"

di Silke Schmitt
Interview mit dem Vizepräsidenten der italienischen Abgeordnetenkammer, Rocco Buttiglione

Aggregatore Risorse

Deutsche Forschungsstudien sprechen von einer neuen Religiosität bei Jugendlichen. Gilt das auch für Italien?

Ja. Ich habe den Eindruck, dass Italien seit Mitte der 80er Jahre eine Wende erlebt. Bis zu diesem Zeitpunkt waren die meisten Menschen davon überzeugt, die Säkularisierung schreite immer weiter voran und das christliche Volk werde von der Gesellschaft vertilgt. Man ging von einer Individualisierung und Privatisierung der Religion aus. Dies hat sich Mitte der 80er Jahre gründlich verändert. Ich glaube, dass heute mehr Leute an Gott glauben als früher. Das bestätigen auch Studien zur religiösen Überzeugung der Italiener.

Welche Gründe gibt es für diesen Wandel?

Das ist in erster Linie Papst Johannes Paul II. und seiner Idee der neuen Evangelisierung zu verdanken. Das Christentum ist salonfähiger geworden. Im Kampf gegen den Faschismus zum Beispiel, hat die katholische Kirche keine Hauptrolle gespielt - die Kommunisten waren in Italien die ersten Akteure. Das führte zu einer Hegemonie des Kommunismus in der italienischen Kultur. Dann hat die Kirche den Kampf gegen den Kommunismus aufgenommen. Ohne Johannes Paul II. würde die Berliner Mauer wahrscheinlich immer noch stehen. Dem Papst ist es gelungen, dieses ungeheure Weltgeschehen so zu führen, dass die Leute nicht mit Mitteln der Gewalt ihre Rechte durchsetzten, sondern durch den Dialog.

Mit Blick auf die aktuelle Wirtschafts- und Finanzkrise hat Papst Benedikt XII. einen Wandel des Lebensstils gefordert. Die Medien haben diesen Appell aufgegriffen. Wie schätzen Sie die moralische Kraft der Kirche in den derzeit wirtschaftlich schlechten Zeiten ein?

Mit dem wilden Kapitalismus, geht auch ein gewisser Relativismus und Liberalismus zu Grunde. Wir haben lange gedacht: Jeder Mensch genügt sich selbst. Ich brauche keine Gemeinschaft mit anderen Menschen aufzubauen, erst recht keine eheliche, um eine Familie zu gründen. Plötzlich erleben wir, dass wir Hilfe und Solidarität brauchen. Das Modell der Ehe ist sehr geschwächt und jene Familien, die als solche überleben, müssen sich an die Kirche anlehnen. Dies führt jedoch zur Wiederentdeckung der Idee und des Bedürfnisses eines christlichen Volkes. Ich habe den Eindruck, dass wir den Glauben neu entdecken…

…weil wir in einer individualisierten Gesellschaft leben?

Es gibt nicht nur den Tatbestand, dass diese Gesellschaft Gemeinschaft braucht. Der Geist Gottes gibt die Fähigkeit, Gemeinschaft zu gründen – das ist ein wichtiger Punkt. Er gibt den Leuten die Möglichkeit, sich geborgen, sich als menschliche Wesen akzeptiert zu fühlen und nicht nur als gesellschaftliche Partner, sexuelle Objekte oder etwas anderes bewertet zu werten. Als junger Mensch habe ich in Zeiten der herrschenden Säkularisierung die faszinierende Begegnung mit Don Luigi Giussani gemacht. Ein Priester ohne Geld, ohne Macht, ohne Zeitungen und ohne Fernsehen. Aber er hatte einen brennenden Glauben. Er hat das Leben vieler Jugendlichen motiviert und eine große Bewegung gegründet: Comunione Liberazione. Es ist fast so, wie die Heilige Schrift sagt: Dass ein Volk Gottes das Gute sogar aus den Steinen hervorrufen kann. Das gilt nicht nur für Don Giussani. Denken wir an Chiara Lubich, die Neokatechumenalen oder Sant’Egidio mit ihrem Gründer Andrea Riccardi.

Andrea Riccardi wurde kürzlich als “großer Europäer” gewürdigt und soll am Fest Christi Himmelfahrt den 50. Internationalen Karlspreis 2009 erhalten. Haben Sie damit gerechnet?

Ich bin mit Andrea Riccardi seit mehr als vierzig Jahren befreundet und ich habe die Anfänge von Sant’Egidio miterlebt. Es ist eine der großen Freundschaften meines Lebens, die mich mit ihm verbindet – auch wenn wir uns manchmal gestritten haben. Als ich davon hörte, habe ich sofort eine Pressemitteilung herausgegeben, um ihm zu gratulieren und meinen Landsleuten klar zu machen, wie wichtig es ist, dass dieser Preis an einen Italiener verliehen wurde. Leider hat die italienische Politik dieses Ereignis kaum zur Kenntnis genommen.

Sie kennen Deutschland sehr gut, sprechen fließend unsere Sprache. Wie könnte ihrer Meinung nach der Dialog zwischen Deutschland und Italien angekurbelt werden?

Deutschland und Italien haben einen gemeinsamen Erfahrungsschatz. Beide Länder haben mehr als andere Nationen die Krankheit des Nationalismus erlebt und sehr darunter gelitten. Wir haben andere Völker ohne Grund angegriffen, sind im Krieg besiegt worden und mussten eine schreckliche Zerstörung unseres Lebens und den späteren Wiederaufbau erfahren. Ich behaupte, dass gerade deshalb Italien und Deutschland die beiden Länder sind, wo die Idee Europas mehr als anderswo verwurzelt ist. Die Aufforderung „Nie wieder Krieg“ hat uns dazu gebracht, nach den gemeinsamen Wurzeln zu suchen – diese Wurzeln können nur christliche sein. Es ist kein Zufall, dass die Menschen, die Europa gemacht haben, Christdemokraten waren. Ich erachte es als sehr gefährlich, wenn Europa nicht die Fähigkeit besitzt, sich zu diesen Wurzeln zu bekennen.

In diesem Jahr feiern wir viele Jubiläen: 20 Jahre Wiedervereinigung, 60 Jahre Grundgesetz, 60 Jahre NATO, 70 Jahre zweiter Weltkrieg usw. … welcher Tag liegt Ihnen besonders am Herzen?

Vor 80 Jahren, 1919, hat Don Luigi Sturzo die italienische Volkspartei gegründet: „Partito Populare Italiano“. Diese Gründung stellte einen Wandel dar von einer Zeit, in der sich Christen in der Gesellschaft organisierten aber an der Politik nicht teilnahmen, hin zu einer Epoche, wo sie aktiv in der Politik ihre eigenen Werte vertreten und schützen wollten. Meiner Meinung nach befinden wir uns heute in Italien in einem ähnlichen Zustand. Wir müssen wieder diesen Übergang schaffen. Es gibt ein christliches Volk in Italien – das haben wir bei den großen Massendemonstrationen für die Familie mit 1,5 Millionen Menschen gesehen. Wer ist heute in Italien fähig, so viele Menschen zusammen zu führen? Wenn wir Politik völlig entideologisieren, laufen wir Gefahr, dass die Menschen Politik nur für sich selbst machen und nicht für die Gemeinschaft. Der Jahrestag von Don Luigi Sturzo will uns daran erinnern, dass wir wieder Werte in die Politik einbringen müssen. Don Luigi ist nicht nur für Italien, sondern für ganz Europa wichtig: Als Vordenker des christlichen Engagements in der Politik.

Aggregatore Risorse

comment-portlet

Aggregatore Risorse