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von Martin Schulze Wessel

Populismus versus kritisches Geschichtsbewusstsein

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Weltweit sehen sich Demokratien durch Populismus, autoritäre Geschichtsentwürfe und den Gebrauch „alternativer Fakten“ herausgefordert. Bei allen Unterschieden zwischen den Verhältnissen in den USA, in Polen, Ungarn, der Türkei oder auch Indien sind bestimmte Ähnlichkeiten in den Machttechniken der jeweiligen populistischen Regierungen nicht zu übersehen: Der Anspruch, das „wahre Volk“ zu repräsentieren, grenzt diejenigen aus, die aus Sicht der Populisten anders sind – Fremde, Minderheiten und Andersdenkende. Der populistische Herrschaftsanspruch wendet sich außerdem gegen alle intermediären Institutionen – gegen die Verfassungsgerichte, welche den Spielraum der Regierungen einschränken, gegen die Medien, welche bezichtigt werden, die Wahrheit zu verschleiern und Fake News zu produzieren, und gegen die unabhängige Wissenschaft. Populistische Bewegungen in Österreich oder in Frankreich verfahren ebenso. In vielen Fällen wird auf vordemokratische, autoritäre Geschichtsentwürfe zurückgegriffen. Unter den europäischen Populisten gewinnen das antidemokratische Denken der Weimarer Republik und des italienischen Faschismus sowie biologistische Konzeptionen des Staatsvolks an Attraktivität.

Die Herausforderung des Populismus betrifft im Bereich der Wissenschaft vielleicht kein Fach so sehr wie die Geschichte. Populismus zeichnet sich durch einen paradoxen Umgang mit der Wirklichkeit aus: Die liberalen Medien der Produktion von Fake News zu bezichtigen und sich zugleich auf „alternative Fakten“ zu beziehen, ist eine Machttechnik, die das methodische Selbstverständnis der Geschichtswissenschaft herausfordert. Anders als die Literatur- und Kunstwissenschaften, die vorwiegend fiktionale Texte und Artefakte erforschen, geht die Geschichtswissenschaft im Kern der Frage nach, „wie es eigentlich gewesen ist“ (Leopold von Ranke). Die Entstehung der Geschichtswissenschaft im 18./19. Jahrhundert war eng mit dem heute wieder aktuellen gesellschaftlichen Anspruch verbunden, Legendenbildungen auf eine systematische, regelbasierte Weise entgegenzuwirken. Wer sich intensiv mit der Methodik der Geschichtswissenschaft beschäftigt hat, weiß jedoch, wie schwierig die wahrheitsgemäße Rekonstruktion von Wirklichkeit ist.

„Die Beobachtung der Gegenwart lehrt uns“, so Johann Gustav Droysen in seinem 1868 veröffentlichten Grundriss der Historik, „wie jede Thatsache von andern Gesichtspunkten aus anders aufgefasst, erzählt, in Zusammenhang gestellt wird, wie jede Handlung — im privaten Leben nicht minder wie im öffentlichen – die verschiedenartigsten Deutungen erfährt.“ Das Bestreben, Wirklichkeit genau zu rekonstruieren, und das Wissen um die immer nur annäherungsweise Möglichkeit, dies zu tun, gehören zum Kern des Selbstverständnisses der Geschichtswissenschaft.

Radikale Umdeutungen

Die Geschichtswissenschaft gewinnt nicht nur im Hinblick auf ihre Methode, sondern auch als kritische Instanz durch die Herausforderung des neuen Populismus an Bedeutung. Es ist ein Kampf um historische Bedeutungen entbrannt, wie ihn die Bundesrepublik lange Zeit in dieser Vehemenz nicht gekannt hat. Historische Symbole werden umgewertet und im politischen Meinungskampf eingesetzt; so zum Beispiel das schwarz-rot-goldene Philippuskreuz, entworfen von einem katholischen Widerstandskämpfer aus dem Umkreis Claus Schenk Graf von Stauffenbergs, das jetzt von der Pegida-Bewegung genutzt wird. Am 5. Mai 2018 organisierte der Finanzberater Max Otte, unterstützt von AfD und Pegida, ein „neues Hambacher Fest“, auf dem ein xenophober Nationalismus sich selbst feierte. Auch darin ist der Versuch zu erkennen, sich der zentralen Symbole der deutschen Demokratie zu bemächtigen und diese radikal umzudeuten. Das Hambacher Fest war eines der wenigen großen Ereignisse des 19. Jahrhunderts, die als Bezugspunkt für ein aufgeklärtes Geschichtsbewusstsein in Deutschland geeignet sind: Am 27. Mai 1832 versammelten sich etwa 30.000 Menschen – in der Mehrheit Deutsche, jedoch auch Franzosen, Engländer und Polen – im Zeichen von Schwarz, Rot und Gold, um für Recht und Freiheit zu demonstrieren. Einer der zentralen Leitbegriffe war – im diametralen Gegensatz zu den Slogans des „neuen Hambacher Fests“ – die „freie europäische Republik“! Geschichtswissenschaft muss auf die geschichtspolitischen Umdeutungsversuche von politischer Semantik und Symbolik aufmerksam machen. Diese wichtige Funktion, Verschiebungen in der politischen Kultur anzuzeigen, erfüllt die Geschichtswissenschaft aus ihrem ureigenen Selbstverständnis heraus.

Emanzipatives Potenzial

Komplizierter verhält es sich mit der in Gesellschaft und Politik zuweilen formulierten Erwartung, dass die Geschichtswissenschaft konkrete Lehren für die Gegenwart bereithalten, also in einem unmittelbaren und verbindlichen Sinne gesellschaftlich nützlich werden soll. Dem Sinn von Bildung widerspricht es, sie in den Dienst zu nehmen. Soll sie eine bestimmte, fest umrissene Aufgabe für die Gesellschaft erfüllen, verfehlt sie ihren eigentlichen Zweck, nämlich den Menschen zum eigenständigen, verantwortungsvollen Denken und Handeln zu bilden. Die Orientierungsfunktion, die der Geschichtswissenschaft oft zugeschrieben wird, steht deshalb in einem Spannungsverhältnis zum emanzipativen Potenzial der Geisteswissenschaften. Geschichte ist auf Basis der kritischen Befragung historischer Quellen immer wieder neu zu deuten; nur in der Vielzahl auch widersprüchlicher Einsichten, die sich aus ihr gewinnen lassen, vermag sie in einer indirekten Weise Orientierung zu geben.

Bemerkenswert ist dabei auch, dass das Studium der Geschichte durchaus verschiedene Haltungen bezüglich eines künftigen Wandels fördert: Auf der einen Seite begünstigt sie eine Skepsis gegenüber den modernen Planbarkeitsvorstellungen, was man als eine konservative Grundeinstellung bezeichnen kann. Das Studium großer Reformprojekte oder umfassender Modernisierungsstrategien vermittelt auch ein anschauliches Wissen darüber, dass große Vorhaben immer auch mit unbeabsichtigten Folgen verbunden sind. So lehrt die Beschäftigung mit Geschichte Skepsis gegenüber verlockend einfachen Totalentwürfen für die Gesellschaft und führt zur Einsicht in die Ambivalenzen politischer Entscheidungen, deren langfristige Wirkungen in der Gegenwart nicht abzusehen sind. Wie begrenzt die Spielräume politischen Handelns manchmal sind, ist kaum aus der Beschäftigung mit der Tagespolitik zu erkennen, deren Hintergründe für den Beobachter teilweise verborgen bleiben. Erst nach Öffnung der Archive werden rückblickend die Umstände politischer Entscheidungen umfassend sichtbar. Auf der anderen Seite eröffnet die Geschichte die Möglichkeit, sich Handlungsspielräumen bewusst zu werden, eine andere und bessere Welt zu denken und anzustreben. Sie stärkt also auch eine Grunddisposition, die in den linken Traditionen des politischen Denkens beheimatet ist. Das Eintauchen in die fremde Welt zurückliegender Epochen eröffnet die Möglichkeit, sich von den Selbstverständlichkeiten der Gegenwart zu emanzipieren, sich eine andere Zukunft vorzustellen.

„Gegen eine komplexe demokratische Wirklichkeit“

Ob konservativ oder emanzipativ: In jedem Falle unterscheidet sich demokratisches Geschichtsdenken vom Geschichtsgebrauch der Diktaturen. Nicht von ungefähr fordern Diktaturen selektive Vergangenheitsdeutungen ein und legitimieren damit eine doktrinär festgelegte Gegenwart und Zukunft. Demokratie lebt auch von der Distanzierung vom Sachzwang, so sehr sich die Exekutive auch in Demokratien auf diesen berufen mag. Geschichte hat insofern eine demokratische Aufgabe – ihr Studium schult das Denken in Optionen. Nur die Beschäftigung mit Geschichte vermittelt ein Bewusstsein für die Kontingenz des Geschehens: Chancen können ergriffen, aber auch verpasst werden. Die konkrete Einsicht in das Gelingen oder Scheitern großer Projekte vermittelt die Erkenntnis, dass Prozesse in Geschichte und Politik nicht naturwüchsig und unumkehrbar sind, sondern von dem verantwortlichen Handeln der Akteure abhängen. Das Denken in langen Zeitperioden, in den Ereignisketten von Ursachen und Wirkungen, ermöglicht, Grundentscheidungen unserer Gegenwart zu begreifen.

Die besondere Aktualität, die Geschichtswissenschaft heute im Zeichen der Herausforderung durch populistische Bewegungen erlangt hat, hängt mit ihrer Fähigkeit zusammen, Wirklichkeit in ihrer Komplexität zu vermitteln. Peter Graf Kielmansegg hat in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 13. Februar 2017 formuliert: Der Populismus stehe für „das Aufbegehren eines eindimensionalen Demokratieverständnisses gegen eine komplexe demokratische Wirklichkeit“. Die Komplexität der repräsentativen Demokratie im Verfassungsstaat besteht darin, dass Differenz institutionalisiert wird. Der Idee der Volksherrschaft steht das Postulat ihrer Verrechtlichung gegenüber, an der Stelle des einen, mit sich selbst einigen Volkes steht die Anerkennung der Vielheit der Gruppen. Zum Grundverständnis der liberalen Demokratie gehört, dass nicht jeder Mehrheitsentscheid legitim ist, sondern nur mit der Achtung von Menschenrechten zu vereinbarende demokratische Entscheidungen legitim sind.

Der liberale Verfassungsstaat hat also bestimmte Vorentscheidungen getroffen, die dem demokratischen Mehrheitsentscheid entzogen sind. Genau dagegen richtet sich das Konzept der nicht-liberalen Demokratie, das der ungarische Regierungschef Viktor Orbán mit aller Klarheit als Prinzip für seine Partei Fidesz reklamiert und das für viele populistische Bewegungen ein Leitkonzept ist. Volkssouveränität als unbedingte politische Willensfreiheit zu deuten, die sich gegen pluralistische Strukturen und sogar gezielt gegen Minderheiten richten kann, ist eine populistische Argumentationsfigur, deren Wirksamkeit man nicht unterschätzen sollte, gerade weil sie mit dem oft ethno-nationalistisch gedachten „Willen des Volkes“ operiert, um diesen allerdings potenziell gegen die Menschenrechte und damit auch die Freiheit selbst zu richten.

Aktualität von Weimar?

Insbesondere in der deutschen Geschichte gibt es historische Erfahrungen, die veranschaulichen, welche Gefahren lauern, wenn das Prinzip des Mehrheitswillens gegen repräsentative Demokratie und die Sicherung von Grundrechten ausgespielt wird. Andreas Wirsching hat auf die Aktualität bestimmter Lehren hingewiesen, die aus der Geschichte der Weimarer Republik zu ziehen sind (Andreas Wirsching: „Appell an die Vernunft“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. April 2017): So bestand eine markante Schwäche der Weimarer Republik gerade in dem grundsätzlichen Misstrauen gegen die Legitimität des gesellschaftlichen Pluralismus, die in der zum Teil vehementen Ablehnung der Weimarer Republik als eines in sich zerrissenen „Parteienstaates“ zum Ausdruck kam. Das Ideal vieler Politiker blieb die Idee einer (scheinbar) über den Parteien schwebenden Regierung. Dabei litt die politische Kultur von Weimar an der Dissonanz zwischen der erfahrenen gesellschaftlichen Pluralität und der eigenen Wirklichkeitsdeutung, welche Vielfalt negiert und das eigene „wahre“ – um Andersdenkende und „Andersrassige“ reduzierte – Volk als den einzig legitimen Souverän deutet. Die Erringung der Mehrheit war für die Nationalsozialisten erklärtermaßen gleichbedeutend mit der Vernichtung des Feinds. Man könnte einwenden, dass die Geschichte von Weimar für die Gegenwart keine Lehren mehr enthält; zu sehr haben sich die politischen Verhältnisse der Bundesrepublik von denen Weimars entfernt. Die Wiederkehr von Kampfbegriffen wie „Lügenpresse“ und „Volksverräter“ signalisiert jedoch, in welchem Maße sich gegenwärtig eine politische Sprache der absoluten Feindschaft wieder etablieren kann, die der Vergangenheit anzugehören schien. Geschichte kann also zeigen, wohin die rücksichtslose Reduktion komplexer Wirklichkeit im Extremfall führt.

Doch ist Geschichte nicht nur ein Reservoir von Lehren, um sich gegen die Gefahren der Gegenwart zu wappnen. Vielmehr ist Geschichte selbst zu einem Schlachtfeld geworden, auf dem der Konflikt zwischen der liberalen Demokratie und ihren Feinden ausgetragen wird. Die populistischen Feinde der pluralistischen und freien Gesellschaft wollen ein ruhmreiches und makelloses nationales Geschichtsbild durchsetzen, das frei ist von Ambivalenzen, Brüchen und vor allem von historischer Schuld. So wenig populistische Ideologen eine komplexe Wirklichkeit zulassen wollen, so sehr forcieren sie ein einfaches mythisches Narrativ der eigenen Volksgeschichte. Dabei steht ein kruder volkspädagogischer Gedanke im Hintergrund: die Vorstellung, dass das eigene Volk durch ein kritisches Geschichtsbewusstsein in der Konkurrenz mit anderen Völkern geschwächt werden könne.

Schutz gegen Verschwörungstheorien

Der Kampf zwischen autoritärem Populismus und liberaler Demokratie, der zurzeit in vielen Ländern in Europa und weltweit stattfindet, wird um Geschichte und Geschichtsbewusstsein geführt. Kritische Geschichtswissenschaft und ein kritisches Geschichtsbewusstsein müssen die politischen Akteure des Populismus am meisten fürchten: Die Schulung, nach methodischen Regeln Wirklichkeit zu rekonstruieren, ist der beste Schutz gegen die gezielte Verbreitung von Fake News und Verschwörungstheorien.

Vor allem aber findet sich ein kritisches Geschichtsbewusstsein nicht mit den heldenhaften, ruhmreichen und bruchlosen Geschichtsbildern ab, die von Populisten angeboten werden. Wer Einsichten in die Ambivalenzen und schuldhaften Seiten der Vergangenheit hat, ist besser vorbereitet auf die Komplexität und die Gestaltbarkeit der Gegenwart. Umgekehrt projizieren populistische Denkfiguren eine mythische Vergangenheit in eine Gegenwart, die daraus Eindeutigkeit gewinnen soll.

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Martin Schulze Wessel, geboren 1962 in Münster, Historiker, 2012 bis 2016 Vorsitzender des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands, seit 2017 Vorsitzender des Historischen Kollegs in München, Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte Ost- und Südosteuropas, Ludwig-Maximilians-Universität München.

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