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von Manfred Wilke

Freiheit für die DDR und Einheit für die Deutschen

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„Wahnsinn“ lautete das Wort der Stunde, als die Berliner Mauer in der Nacht des 9. November 1989 fiel.1 Seit 1961 teilte die Grenzbefestigung nicht nur die Stadt, sondern sollte auch geistige Gefahren für die Existenz des SED-Staates abwehren. 1961 war sie der Wall gegen die Massenflucht nach Westen2 und sollte gleichzeitig die Hoffnung auf eine deutsche Wiedervereinigung in einem demokratischen Rechtsstaat in den Köpfen der Deutschen, besonders derer, die in der DDR lebten, abtöten. Freiheit in der DDR und nationale Einheit blieben für die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) ungelöste Probleme, die sie nun mit Repression und Sprachverboten zu bannen versuchte. Das politische Leben und die einsetzende offene Debatte über die Veränderungen in der DDR hebelten die Zensur aus. Das Vorbild für eine Transformation der kommunistischen Diktatur zur Demokratie hatte Polen 1989 geliefert: An einem Runden Tisch einigten sich Opposition und die regierenden Kommunisten auf Wahlen und die Einführung einer parlamentarischen Demokratie. Die SED hatte den Reformprozess in der Sowjetunion, Polen und Ungarn boykottiert, wo sich die diktatorischen Strukturen zu wandeln begannen. Aus dieser Reformverweigerung zogen im Sommer 1989 viele Bürger ihre eigene Konsequenz: Sie reisten nach Ungarn. Dort hatte die Regierung begonnen, den Grenzzaun zu Österreich abzubauen. Entstand in Ungarn eine neue, risikolose Fluchtroute?

In Budapest sammelten sich Tausende Urlauber aus der DDR. Die ungarische Regierung traf zwei mutige Entscheidungen, die die weitere Entwicklung in der DDR beschleunigen sollten: Erstens verhandelte sie mit Bundeskanzler Helmut Kohl und Außenminister Hans-Dietrich Genscher über die Ausreise der gestrandeten Flüchtlinge in die Bundesrepublik und kündigte zweitens das Auslieferungsabkommen für „Republikflüchtlinge“ mit der DDR. Die Aktion der Bundesregierung für „die Landsleute“3 in Ungarn war ihre erste direkte politische Intervention in die Krise der DDR; die zweite war die Verweigerung eines Milliardenkredits für Egon Krenz. Die Bundesregierung forderte zunächst tiefgreifende politische und ökonomische Reformen in der DDR.

Bevor der Runde Tisch in der DDR im Dezember zu arbeiten begann, fiel am 9. November in Berlin die Mauer, im medialen Windschatten von Berlin fiel auch die etwa 1.400 Kilometer lange befestigte innerdeutsche Zonengrenze.

Die Flüchtlinge aus der DDR in Ungarn lösten in der von ihnen verlassenen Heimat eine Protestbewegung aus, die unter dem Slogan „Wir bleiben hier!“ antrat. Das Neue Forum, die wichtigste Bürgerrechtsgruppe mit ihrer Frontfrau Bärbel Bohley, forderte eine offene Debatte über die Krise der DDR und beendete damit die drückende Sprachlosigkeit über diese von der SED beschwiegene Krise. Die Staatspartei verlor ihr Meinungsmonopol in der Öffentlichkeit. In Städten wie Leipzig etablierten sich Montagsdemonstrationen. Das Machtmonopol der SED bekam Risse. Der erste Zorn der Bürger richtete sich nicht gegen die Partei, sondern gegen die Staatssicherheit und ihre Spitzel. SED-Generalsekretär Erich Honecker wollte den Demonstrationen am 9. Oktober in Leipzig gewaltsam ein Ende bereiten. Angesichts von 70.000 Demonstranten brachen die Sicherungskräfte jedoch ihren Einsatz ab.

„Wir sind ein Volk!“

Leipzig war auch der Auftakt zum Führungswechsel an der Spitze der SED. Neuer SED-Generalsekretär wurde nach dem Leipziger Desaster Egon Krenz. Sein Vorgänger Honecker hatte die sowjetische Reformpolitik abgelehnt und einen solchen Kurs für die DDR ausgeschlossen. Krenz wollte schnell eine Verbesserung der Beziehungen zu Moskau, auch um Kredite für die Wirtschaft der DDR zu erhalten. Michail Gorbatschow verweigerte sie und verwies ihn nach Bonn, aber auch dort hatte Krenz keinen Kredit.

Es war die Fluchtbewegung aus der DDR, die Proteste provozierte; eine Bürgerrechtsbewegung entstand, die sich demonstrativ von der Flucht vor den Verhältnissen distanzierte: „Wir bleiben hier!“ Montagsdemonstrationen für Reformen und Demokratie waren ihre Antwort auf die Krise des SED-Staates. Sie forderten auch Reisefreiheit. Das neue Selbstbewusstsein drückte ihr Ruf aus: „Wir sind das Volk!“ In Leipzig wandelte sich diese Losung schon bald, und es hieß: „Wir sind ein Volk!“ In den Demonstrationen und Kundgebungen fanden Menschen ihre eigene Sprache wieder. Sukzessive entstand eine plurale Öffentlichkeit. Noch dominierten in den Kundgebungen thematisch der Protest gegen die Staatssicherheit und die Forderungen nach demokratischen Freiheiten in der DDR.

Neues Reisegesetz

Am Morgen des 9. November glaubte Krenz noch, den politischen Prozess in der DDR im Sinne der SED kanalisieren zu können. Ein Reisegesetz für die DDR war innenpolitisch zur Notwendigkeit geworden, die rasch eingelöst werden musste. Die administrativen Fehlleistungen, die mit der Umsetzung dieses Gesetzes verbunden waren, sollten die Maueröffnung durch die Berliner begünstigen.

Druck kam aus Prag, der Ausreisetourismus nach Bayern führte über Böhmen. Prag drohte, die Grenze zu schließen, wenn die DDR die Ausreise seiner Bürger nicht regelte. Der Entwurf für das Reisegesetz entstand im Ministerium des Innern. Der Auftrag lautete, das „ČSSR-Problem“ mit einer Regelung der ständigen Ausreise aus der DDR zu lösen, die am 10. November in Kraft treten sollte. Die Arbeitsgruppe einigte sich schnell, nicht nur die ständige Ausreise, sondern auch die Privatreisen von DDR-Bürgern zu regeln. Somit stand im Entwurf nun auch: „Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen (Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse) beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Versagungsgründe werden nur in besonderen Ausnahmefällen angewandt.“4

Die Arbeitsgruppe legte auch eine Sperrfrist fest: Der Beschluss über das Reisegesetz sollte am 10. November, 04.00 Uhr, durch den Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienst (ADN) veröffentlicht werden. Gravierend war für den weiteren Verlauf, dass Krenz die vorgesehene Sperrfrist ignorierte und sich ganz auf die Pressekonferenz am Abend konzentrierte, auf der dieses Reisegesetz präsentiert werden sollte. Er benötigte schnelle öffentliche Anerkennung für seine Reformpolitik. Dafür unterließ er es, die Durchführungsbestimmungen des Reisegesetzes zu genehmigen und an Volkspolizei und Grenzübergangsstellen weiterleiten zu lassen. An der Grenze waren somit die Durchführungsbestimmungen für das Reisegesetz nicht vorhanden, die Verordnung hatte obendrein kein Datum und trat somit zeitgleich mit ihrer Veröffentlichung in Kraft. Diese administrativen Fehler in der Umsetzung des Reisegesetzes sind für die Grenzöffnung in dieser Nacht von großer Bedeutung.

Somit erfuhr die Öffentlichkeit exklusiv durch Günter Schabowski5 auf seiner Pressekonferenz gegen 19.00 Uhr, dass die Verordnung „sofort, unverzüglich“ in Kraft trete. Alle Dienststellen hatten keinerlei Kenntnis der Durchführungsbestimmungen und waren somit ratlos, als die Berliner wenige Stunden später vor ihnen standen, um West-Berlin zu besuchen. Spontane Reaktionen waren im Denken der SED-Kader nicht vorgesehen. Das Fernsehen wurde zum Leitmedium der Nacht. Die „Aktuelle Kamera“ des Fernsehens der DDR meldete um 19.30 Uhr den Auftritt Schabowskis auf der Pressekonferenz. Die „Tagesschau“ der ARD platzierte die Reiseregelung um 20.00 Uhr als Topmeldung und blendete dazu als Schlagzeile ein: „DDR öffnet Grenze.“6

Schießen oder öffnen?

Die Nachricht löste eine spontane Mobilität in der DDR aus. Eine solche Reaktion und vor allem das deutsch-deutsche Wiedersehen hatte die SED-Führung nicht erwartet. Diese Nacht hatte ein zentrales Ergebnis: Die deutsche Bevölkerung begann, sich in ihre eigenen Angelegenheiten einzumischen und die Frage der Teilung des Landes in einer scheinbar unpolitischen Wiedersehensfeier, wie in Berlin, auf die politische Agenda zurückzuholen. Durch das Versagen der politischen und militärischen Führung standen nun die Kommandeure der Grenzübergangsstellen ganz persönlich vor der Frage: Schießen oder öffnen?

An der Grenzübergangsstelle Bornholmer Straße spitzte sich die Lage gegen 23.00 Uhr zu. Etwa 20.000 Menschen hatten sich versammelt, und Absperrungen wurden schon beiseitegeschoben. Oberstleutnant Harald Jäger verlangte von seinen Vorgesetzten die Entscheidung, die Kontrollen „einstellen zu dürfen“. Dies wurde abgelehnt. Er wurde angewiesen, „die Grenze zu halten. In dieser Situation – es war etwa 23.30 Uhr – entschieden Jäger und sein Stellvertreter Görlitz nach ihrer Darstellung eigenmächtig gegen den ausdrücklichen Befehl von oben. Sie gaben dem Druck der Massen nach und lösten die Sicherung des Schlagbaumes.“7 Edwin Görlitz: „Wir fluten jetzt! Wir machen alles auf!“8
 
Die Schilderung einer jungen Frau, die, mit einer Rose in der Hand, auf die Grenzer zuging und sie ihnen mit dem Wort „Danke“ überreichte, hat symbolische Bedeutung für diese Nacht.

Die Öffnung der Grenze an der Bornholmer Straße wurde zwar von der ARD gemeldet, stand aber nicht im Rampenlicht der Fernsehteams aus aller Welt. Deren Kameras waren auf das Brandenburger Tor gerichtet; von hier aus gingen die Bilder um die Welt. Sie zeigten fröhliche Menschen auf der Mauerkrone. „Mauerspechte“ begannen mit Hammer und Meißel, die Löcher in der Mauer zu vergrößern.

Am 10. November bezogen Spitzenpolitiker der Bundesrepublik vor dem Schöneberger Rathauses in West-Berlin Position zur deutschlandpolitischen Perspektive. Bereits am Mittag des 10. November sagte Willy Brandt, 1961 Regierender Bürgermeister von Berlin, dem Sender Freies Berlin (SFB): „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.“9 Am Abend sprachen auf dem Balkon des Schöneberger Rathauses der Regierende Bürgermeister Walter Momper (SPD), Willy Brandt, Hans-Dietrich Genscher und Helmut Kohl.10 Brandt erinnerte an den langen Weg, der zu diesem Ereignis geführt habe und dass dieser Tag nur eine „Zwischenstation“ sei, an dem sich nicht zuletzt die „Zusammengehörigkeit der Berliner und der Deutschen überhaupt“ manifestierte. Hoffnung und Mahnung zugleich: „Es wird jetzt viel davon abhängen, ob wir uns – wir Deutschen – hüben und drüben der geschichtlichen Situation gewachsen erweisen. Das Zusammenrücken der Deutschen, darum geht es.“11 Noch war eine Lösung der deutschen Frage offen, aber „zusammenrücken“ schon mehr als ein Fingerzeig.

Der 1952 aus Halle geflohene Außenminister Genscher grüßte zuerst „die Menschen in meiner Heimat, die ein Beispiel des Freiheitswillens der Deutschen gegeben haben“. Der Kampf um die Freiheit in der DDR „ehrt die ganze Nation“.12

Der Bundeskanzler versicherte, dass die Bundesrepublik den Prozess der Reformen in der DDR unterstützen werde, „aus unserer moralischen Verpflichtung für die Einheit unserer deutschen Nation heraus“. Noch einmal versicherte er den Menschen der DDR: „Ihr steht nicht allein! Wir stehen an Eurer Seite! Wir sind und bleiben eine Nation, und wir gehören zusammen!“ Helmut Kohl zollte Michail Gorbatschow, „der sich mit uns gemeinsam in der Bonner Erklärung vom 13. Juni ausdrücklich zum Selbstbestimmungsrecht der Völker bekannt hat“,13 seinen Respekt. Die Stichworte waren eindeutig: Zusammenrücken der Deutschen, Einheit der Nation und Selbstbestimmungsrecht der Völker.

In der DDR gab es dazu Widerspruch. Initiiert von Schriftstellern wie Stefan Heym und Christa Wolf, erschien am 29. November der Aufruf „Für unser Land“, der zu den zwei Wegen aus der Krise der DDR Position bezog: „Entweder können wir auf der Eigenständigkeit der DDR bestehen […] oder wir müssen dulden, daß […] ein Ausverkauf unserer materiellen und moralischen Werte beginnt und über kurz oder lang die Deutsche Demokratische Republik durch die Bundesrepublik Deutschland vereinnahmt wird.“ Aus dem vogtländischen Plauen, der heimlichen Hauptstadt der Revolution, wo bereits am 28. Oktober 1989 ein Sprechchor von 40.000 Menschen „Deutschland einig Vaterland“ gefordert hatte, kam die Widerrede: „Laßt uns also endlich etwas für die Menschen in unserem Lande tun, und denken wir endlich europäisch! Denn wir sind und bleiben ein Volk!“14

Am 3. Oktober 1990 trat die DDR dem Geltungsbereich des Grundgesetzes bei: Die deutsche Teilung war Geschichte.


1 Die SED bezeichnete die Mauer offiziell als „antifaschistischen   Schutzwall“.
2 Vgl. Manfred Wilke: Der Weg zur Mauer, Berlin 2011.
3 Bundeskanzler Helmut Kohl nannte Deutsche aus der DDR systematisch „Landsleute“.
4 Zitiert nach Hans-Hermann Hertle: „Der 9. November 1989 in Berlin“, in: Deutscher Bundestag (Hrsg.): Materialien der Enquete-Kommission Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland, Band VII/1, Baden-Baden, 1995, S. 787–872, S. 840. Das Zustandekommen dieser Übergangsregelung hat als erster Cordt Schnibben im SPIEGEL beschrieben: Der Spiegel, Heft 41/1990, S. 102 ff.
5 Günter Schabowski (1929–2015) war am 09.11.1989 Erster Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin, Mitglied ihres Zentralkomitees und des Politbüros, zuständig für den Bereich Agitation und Propaganda.
6 Zitate aus Hans-Hermann Hertle: Der 9. November 1989 in Berlin, S. 846, S. 849–851.
7 Ebd., S. 854.
8 Ebd., S. 166.
9 Dieses Zitat ist laut Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung eine Verkürzung des Satzes: „Jetzt sind wir in einer Situation, in der wieder zusammenwächst, was zusammengehört.“
10 Auswärtiges Amt (Hrsg.): Umbruch in Europa im 2. Halbjahr 1989, Bonn 1990, S. 79.
11 Willy Brandt, ebd., S. 79.
12 Hans-Dietrich Genscher, ebd., S. 81.
13 Helmut Kohl, ebd., S. 84.
14 Der Aufruf vom 29.11.1989 und die Widerrede aus Plauen sind dokumentiert in Bernd Lindner: Die demokratische Revolution der DDR 1989/90, Bonn 1998, S. 118 f. Zur Entwicklung in Plauen im Oktober 1989 vgl. Udo Scheer: „Plauen“, in: Das Wunder von Berlin, Die Politische Meinung, Sonderausgabe Nr. 2, Oktober 2014, S. 45–48.


Manfred Wilke, geboren 1941 in Kassel, DDR-Forscher und Zeithistoriker, emeritierter Professor für Soziologie an der Fachhochschule für Wirtschaft Berlin (FHW). 1992 Mitbegründer des Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Universität Berlin, bis 2006 zusammen mit Klaus Schroeder dessen Leiter, seit 2007 assoziiertes Mitglied des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung, Graz.
 

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