Asset-Herausgeber

von Hans Jörg Hennecke

Das „Jamaika-Aus“ im November 2017

Asset-Herausgeber

Noch stinkt und qualmt, um ein Bild der amerikanischen Historikerin Barbara Tuchman zu bemühen, der Schutthaufen der Geschichte. Noch sind die politischen Deutungskämpfe um das „Jamaika-Aus“ im Gange: Wer oder was war schuld am Scheitern der Sondierungsverhandlungen zwischen Union, FDP und Grünen? Wie nah war man dem Ziel einer Koalition? War „Jamaika“ eine verpasste Gelegenheit oder doch nur der Kelch, der gottlob am Lande vorübergegangen ist?

Diese Fragen werden Memoirenschreiber und Zeithistoriker künftig beschäftigen. Keine Frage: Die gescheiterte Regierungsbildung ist eine der nicht so seltenen Weggabelungen, an denen die Geschichte der Bundesrepublik leicht anders hätte verlaufen können. Doch auch so haben die Bundestagswahl 2017 und die nachfolgenden Bemühungen um eine Regierungsbildung eine besondere historische Qualität. Jahrzehntelang war die unter schwierigsten Bedingungen entstandene Bundesrepublik ein Hort der ökonomischen und politischen Stabilität, der auch deshalb mehr und mehr eine Führungsrolle in der Europäischen Union zugewachsen ist, ohne dass sie sich danach wirklich gedrängt hätte. Dieses Selbstverständnis gerät nun ins Wanken. Die Regierungsbildungskrise 2017/18 ist wahrscheinlich kein politischer Betriebsunfall. Sie gibt einen Vorgeschmack darauf, dass der Bundesrepublik schwierige Zeiten bevorstehen könnten.

Es ist eher ein nebensächliches Ergebnis der „Jamaika“-Verhandlungen, dass sich das Verhältnis von Union und Grünen entkrampft hat. Ohne Zweifel haben CDU, CSU und Grüne während der Verhandlungen einen weiten Weg der Verständigung und der Annäherung bewältigt, und das dürfte bei künftigen Gelegenheiten auf Bundes- und Landesebene die Bildung von Koalitionen erleichtern. Doch ob es dazu kommt, hängt wesentlich davon ab, ob die realpolitische und pragmatische Haltung, die die Grünen – angetrieben von ihren Landesverbänden Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein – mehrheitlich eingenommen haben, sich stabilisiert. Ausgemacht ist das nicht.

Risse im Bild

Die historische Qualität der aktuellen Situation liegt in etwas anderem. Man muss sich noch einmal vor Augen halten, was die politische Praxis der Bundesrepublik über Jahrzehnte hinweg geprägt hat: eine starke Konzentration des Parteiensystems mit zwei großen Volksparteien, die einigermaßen auf Augenhöhe miteinander im Wettbewerb um die politische Verantwortung standen, eine äußerst begrenzte Zahl der politisch denkbaren Koalitionsoptionen, daraus folgend die Bildung von politisch gewollten Koalitionen und eine hohe Transparenz der Koalitionsoptionen für den Wähler. All dies ermöglichte langlebige Koalitionen und führte zu einer geringen Zahl von Regierungskrisen, Macht- oder Koalitionswechseln.

Erste Risse bekam dieses Bild im Jahre 2005, als nur unter großen Mühen eine „Koalition der Unwilligen“ gebildet werden konnte. Die Prozesse der Regierungsbildung verliefen bis dahin ausgesprochen berechenbar. Seit der komplizierten Regierungsbildung 1961 hatten sich die Rituale der Koalitionsverhandlungen allmählich als politische Praxis verfestigt. Dazu gehörten die variable Formalisierung der Verhandlungsprozesse und die Verschriftlichung und Veröffentlichung der Ergebnisse in Koalitionsverträgen.

Zwei weitere Elemente kamen hinzu: einerseits eine zunehmende Inszenierung der Koalitionsverhandlungen für die Öffentlichkeit, andererseits mit Blick auf die unterschiedlichen Debattenkulturen der beteiligten Parteien der Ausbau von weitreichenden Partizipationsmöglichkeiten in großen Verhandlungsdelegationen oder durch Einbindung von Parteigremien und Mitgliederentscheiden. Noch 2013, als die widerstrebende SPD von ihrer Parteiführung zielstrebig in eine Koalition manövriert wurde, wirkte diese langfristige Ausdifferenzierung der Koalitionsbildung zweckdienlich und adäquat. Im Jahre 2017 wurde die Komplexität der Verhandlungen jedoch überdehnt und bis zu einem Punkt geführt, an dem sie nicht konsens- und vertrauensstiftend, sondern kontraproduktiv geriet. Das gilt sowohl für die große Zahl der Beteiligten als auch für die mangelnde Kommunikationsdisziplin und das fehlende Erwartungsmanagement über Verhandlungsthemen und Zwischenergebnisse. So kam es zu der ersten wirklich gescheiterten Regierungsbildung in der Geschichte der Bundesrepublik.

Koalitionspolitische Experimente

Durch das Scheitern der „Jamaika“-Verhandlungen steht der Bundesrepublik voraussichtlich eine Ära der koalitionspolitischen Experimente bevor. Die Bundesrepublik könnte künftig häufiger von komplizierten Patchwork-Koalitionen regiert werden, die nur sehr eingeschränkt zu gemeinsamer Sinnstiftung fähig sind und politische Anliegen der einzelnen Partner additiv und inkohärent umsetzen. Solche Koalitionen werden nur unter großen Mühen das Licht der Welt erblicken und unter strategischer Unsicherheit und Schwäche der beteiligten Parteiführungen leiden. Die Komplexität der Verhandlungsformate zur Bildung und zum Management solcher Koalitionen wird vermutlich weiter zunehmen.

Selbst wenn Union und SPD im Frühjahr 2018 doch noch einmal zu einer fragilen Koalition zusammenfinden sollten, wird das Modell der „Großen Koalition“ nicht mehr der verlässliche Ausweg aus Regierungsbildungskrisen sein. Schon bei der Bundestagswahl 2013 haben die drei Parteien CDU, CSU und SPD nur noch gut 53 Prozent der Stimmen erreicht. Es ist also gut vorstellbar, dass sie ihre gemeinsame Mehrheitsfähigkeit – wie bereits in Berlin und Sachsen-Anhalt – auf Bundesebene einbüßen. Ohnehin dürften systemkritische und radikale Parteien wie die Alternative für Deutschland (AfD) oder die Linkspartei (Die Linke) noch über weiteres Mobilisierungspotenzial verfügen, wenn die Parteien der Mitte durch Kooperationsunfähigkeit Angriffsflächen bieten. Die CDU gerät derzeit in die undankbare Rolle einer zentralen Hegemonialpartei, die sich mit tief verunsicherten und auseinanderstrebenden Parteien arrangieren muss, um stabile Regierungen zu bilden.

Nur problematische Auswege

Wenn aber die Parteien der Mitte in einem fragmentierten und polarisierten Parteiensystem zu zweit, zu dritt oder zu viert nicht mehr mehrheitsfähig oder koalitionswillig sein sollten, gibt es – abgesehen von einer Wahlrechtsreform mit mehrheitsbildenden Effekten – nur zwei heikle Auswege, die beide der historischen Erfahrung der Bundesrepublik zuwiderlaufen: Entweder wird die Vorstellung salonfähig, dass man eine der radikalen Parteien durch Koalitionsbildung oder durch Tolerierungsabsprachen zum relevanten Faktor in der Regierungsbildung machen sollte, oder die Idee einer Minderheitsregierung gewinnt an Attraktivität. Beide Optionen sind auf Ebene der Bundesländer von der SPD ohne große Skrupel erprobt worden: So hat sie 2014 in Thüringen einem Ministerpräsidenten der Linken ins Amt verholfen, und 2010 führte sie über eine von der Linken tolerierte Minderheitsregierung einen Regierungswechsel in Nordrhein-Westfalen herbei.

Durch das Scheitern der „Jamaika“-Verhandlungen wurden neue Optionen eröffnet, die jenseits des routinierten Zusammenspiels der politischen Institutionen liegen. Der Bundespräsident ist aus seinem verfassungspolitischen Dornröschenschlaf erwacht. Man wird ihn künftig bei Regierungsbildungen mit auf der Rechnung haben müssen, weil er allein zwischen den Alternativen Minderheitsregierung oder Neuwahl zu entscheiden hat und auch das bisher ungenutzte Instrument des Gesetzgebungsnotstandes nach Artikel 81 des Grundgesetzes ins Spiel bringen könnte, um eine negative Mehrheit des Bundestages zu umspielen.

Neuartige Vorstellungen

Es ist verständlich, dass die Vorstellung einer Minderheitsregierung auf große Bedenken stößt. Aber wenn sich Situationen wiederholen, in denen es keine handlungsfähige Parlamentsmehrheit gibt, dürfte sie ihren Schrecken notgedrungen allmählich verlieren. Skeptiker könnten registrieren, dass seit Langem die allermeisten Bundesregierungen faktisch Minderheitsregierungen waren, weil sie Mehrheiten im Bundesrat suchen mussten.

Ebenso neuartig sind – gemessen an der bisherigen politischen Praxis – Vorstellungen von Koalitionen, deren Partner nicht in allen Fragen gemeinsam agieren, sondern sich auf die Koordination von Kernthemen beschränken und ansonsten ohne Rücksicht aufeinander für politische Fragen punktuelle Mehrheiten außerhalb der Koalitionsdisziplin suchen. Die Durchsetzung der „Ehe für alle“ im Sommer 2017 gab auf solche Verhältnisse einen Vorgeschmack.

Fragile Führung?

Man muss „Jamaika“ nicht nachtrauern. Aber die Aussichten sind nicht verlockend. Die Bundesrepublik könnte auf absehbare Zeit von Regierungen mit schwachem Zusammenhalt geführt werden. Vorausschauende Reformstrategien im Inneren dürften dann nur schwer durchsetzbar sein. Nach außen könnte die Bundesrepublik an politischer Führungskraft einbüßen und müsste deshalb fadenscheinigen Kompromissen die Hand reichen, die das Subsidiaritätsprinzip und die Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union tendenziell schwächen. Mehr denn je wird es in Zukunft auf die persönliche Führung aus dem Kanzleramt heraus ankommen.

-----

Hans Jörg Hennecke, geboren 1971 in Zülpich, außerplanmäßiger Professor für Politikwissenschaft, Universität Rostock. Der Autor ist Mitherausgeber des jüngst erschienenen Sammelbandes „Koalitionen in der Bundesrepublik. Bildung, Management und Krisen von Adenauer bis Merkel“ (Verlag Ferdinand Schöningh).

comment-portlet