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Interview: Null-Toleranz-Strategie

von Herbert Reul
von Ralf Thomas Baus

NRW-Innenminister Herbert Reul über den Kampf gegen die Kriminalität

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Sie sind seit dem 30. Juni 2017 im Amt des Innenministers. Eine Ihrer ersten Entscheidungen war die Aufhebung der Kennzeichnungspflicht für die Polizei. Warum?

Herbert Reul: Die rot-grüne Kennzeichnungspflicht hat die Polizisten unserer Hundertschaften unter Generalverdacht gestellt. Das war staatlich verordnetes Misstrauen. Damit musste Schluss sein. Wir haben eine andere Botschaft an die Beamtinnen und Beamten, nämlich: Ihr habt unser Vertrauen und unsere Unterstützung.

Wertschätzung und Anerkennung der Polizei spielen in Ihrer Arbeit eine wichtige Rolle?

Herbert Reul: Unsere Polizistinnen und Polizisten halten Tag und Nacht für unsere Sicherheit den Kopf hin. Sieben Tage die Woche, 365 Tage im Jahr. Da ist es nur recht und billig, dass sie dafür Anerkennung bekommen, finde ich. Umso mehr ärgert mich, dass Polizeibeamte immer häufiger selbst Opfer von Gewalt werden. Das darf nicht sein, da müssen wir gegensteuern. Wertschätzung und Anerkennung sind da ein guter Anfang.

Das Thema „Innere Sicherheit“ ist seit Monaten in den Schlagzeilen. Wie beurteilen Sie die Sicherheitslage in Nordrhein-Westfalen?

Herbert Reul: Wenn Sie auf die Polizeiliche Kriminalstatistik schauen, ist NRW so sicher wie lange nicht mehr. Die Zahl der Wohnungseinbrüche zum Beispiel ist im vergangenen Jahr um ein Viertel gesunken – der stärkste Rückgang der letzten dreißig Jahre. Trotzdem gibt es natürlich noch viele offene Baustellen. Da steht an erster Stelle der Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Die Gefahr eines Anschlags ist auch in Deutschland unverändert hoch. Viel zu tun gibt es auch in den Bereichen reisende Banden und kriminelle Clans. Mir ist wichtig, dass wir den Menschen keine leeren Versprechungen machen, sondern Schritt für Schritt daran arbeiten, dass die Bürgerinnen und Bürgern das Vertrauen in den Rechtsstaat zurückgewinnen.

In einigen Medien ist die Rede von einem Staatsversagen und rechtsfreien Räumen, Stichwort „No-go-Areas“. Kann man davon sprechen oder ist das Ihrer Ansicht nach überzogen?

Herbert Reul: Manches ist sicher übertrieben. Aber am Ende ist es eine Frage der individuellen Wahrnehmung. Und: Wenn manche Menschen das so empfinden, dann müssen wir das ernst nehmen. Das war für mich übrigens einer der wesentlichen Gründe dafür, warum ich das Angebot unseres Ministerpräsidenten Armin Laschet, mich zum Innenminister zu berufen, angenommen habe. Das Vertrauen in den Staat sinkt, wenn die Menschen glauben, wir könnten ihre Sicherheit nicht mehr garantieren. Das gilt im Großen wie im Kleinen. Es ist deshalb extrem wichtig, dass der Staat seine Handlungsfähigkeit unter Beweis stellt. Da braucht man keine großen Reden und Programme, sondern praktisches Handeln.

Verbinden Sie damit die Hoffnung, dass die Alternative für Deutschland (AfD) von der politischen Bühne verschwindet?

Herbert Reul: Die AfD ist keine programmatische Partei, sondern eine Protestpartei. Deshalb müssen wir bei den Gründen für diesen Protest ansetzen. Ich bin davon überzeugt: Wenn wir es schaffen, dass die Menschen wieder darauf vertrauen, dass der Staat für ihre Sicherheit sorgt, dann hat sich dieser Protest ganz schnell erledigt.

Sie haben das Sicherheitspaket I auf den Weg gebracht. Es richtet sich gegen den Terrorismus, aber auch gegen die Alltagskriminalität. Welche wichtigen Maßnahmen sind in diesem Paket enthalten?

Herbert Reul: Unser Plan lautet: Wir geben der Polizei Gesetze und Ermittlungsinstrumente an die Hand, die ihre Arbeit erleichtern und nicht behindern. Das nordrhein-westfälische Polizeigesetz hatte angesichts der aktuellen Sicherheitslage schon lange ein Update nötig. Unser Sicherheitspaket I befasst sich mit der Bekämpfung terroristischer Gefahren, mit gefährlicher Kriminalität, mit Mord und Totschlag ebenso wie mit bandenmäßig organisierter Alltagskriminalität wie Taschendiebstahl. Wir haben mit dem Sicherheitspaket verschiedene Antworten auf unterschiedliche Herausforderungen entwickelt. Konkret heißt das beispielsweise, die Videobeobachtung auszubauen. Wir brauchen mehr Möglichkeiten, Kriminalitätsschwerpunkte im öffentlichen Raum zu beobachten. Es heißt aber auch, dass wir Fußfesseln einführen werden – insbesondere im Bereich des Terrorismus, aber auch bei Sexualstraftätern. Beides erleichtert der Polizei ihre Arbeit. Diese Maßnahmen sind keine Allheilmittel, es sind einzelne Instrumente und Teile einer Gesamtlösung. Wir werden darüber hinaus die sogenannte Strategische Fahndung einführen. Dabei wird die Polizei bei uns aber nur dann tätig, wenn es einen konkreten polizeilichen Anlass gibt. Das ist der kleine, aber bedeutsame Unterschied zu anderen Bundesländern. Dieser Anlass kann eine terroristische Bedrohung sein, aber auch eine Häufung von Wohnungseinbrüchen in einer bestimmten Gegend. Wir erhoffen uns damit auch Erfolge im Bereich der Rauschgiftkriminalität. Oder gegen internationale Banden, die sich auf Geldautomatensprengungen spezialisiert haben. Dieses Phänomen bereitet uns in Nordrhein-Westfalen momentan besondere Sorge.

Was gehört sonst noch zum Sicherheitspaket I?

Herbert Reul: Ein wichtiger Teil des Paketes sind die Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) und die Quellen-Telekommunikationsüberwachung. Bei der Quellen-TKÜ können die Behörden mit einer Überwachungssoftware die laufende Kommunikation eines Verdächtigen bei Messenger-Diensten wie WhatsApp mitlesen. Wir benötigen Informationen, um bestimmte Formen der Kriminalität zu verhindern oder aufzudecken. Und diese bekommen Sie nicht dadurch, dass Sie sich auf die Straße stellen und hoffen, dass Ihnen einer etwas erzählt. Wir müssen Terroristen oder Kriminelle, von denen wir wissen, dass sie schwere Straftaten planen, rechtzeitig abhören können – natürlich nur nach vorheriger richterlicher Anordnung. Diese Instrumente hatten wir bislang nicht. Im Vergleich zu anderen Bundesländern holen wir hier auf.

Auf die kriminellen Milieus wird mehr Druck ausgeübt. Wie wichtig ist auf der anderen Seite die Prävention?

Herbert Reul: Prävention ist eine wichtige Maßnahme, um Kriminalität zu verhindern, wobei Polizei und Verfassungsschutz nur eine Teilaufgabe erfüllen können. Ganz wichtig ist, dass wir auch das Elternhaus erreichen. Wir haben gelernt, dass bei jugendlichen Mehrfachstraftätern das Elternhaus eher mitwirkt, wenn die Polizei gezielte Präventionsmaßnahmen durchführt. Aber auch Sozialpädagogen und die entsprechenden Einrichtungen vor Ort müssen sich im Anschluss um die Jugendlichen kümmern.

Die Polizei ist nicht nur in ihrer Alltagsarbeit stark gefordert, sondern auch bei Großeinsätzen, wie zum Beispiel beim G20-Gipfel in Hamburg, bei Demonstrationen und Fußballspielen. Bleibt da noch genügend Raum für die Anliegen des Bürgers vor Ort?

Herbert Reul: Die Polizei muss immer nach Dringlichkeit entscheiden. Ein Mordfall wird etwa einem Bagatelldelikt vorgezogen. Es ist leider so, dass wir nie überall gleichzeitig sein können. Wir müssen die verfügbaren Polizisten also richtig und klug einsetzen. Damit wir künftig eine noch bessere Abdeckung erzielen, haben wir im vergangenen Jahr angekündigt, bis 2022 jährlich 2.300 neue Polizisten und Polizistinnen einzustellen. Und wir haben 2017 schon damit angefangen. Wir haben immer öfter Großveranstaltungen und Gefahrensituationen. Hierfür werden speziell ausgebildete Polizisten benötigt. Wir werden jetzt spezielle Beweissicherungs- und Festnahmehundertschaften einrichten. Andere Bundesländer haben das bereits. Wir müssen auch bei Großdemonstrationen in der Lage sein, einzugreifen und den harten Kern von den restlichen Teilnehmern zu trennen.

Beunruhigend ist die Gewalt gegen Rettungskräfte, sowohl gegen Polizei als auch Feuerwehr und Technisches Hilfswerk. Wie kann man diese Gewalt erklären, wie ihr begegnen?

Herbert Reul: Im vergangenen Jahr gab es in Nordrhein-Westfalen mehr als 9.000 Straftaten gegen Polizistinnen und Polizisten. Diese Zahl hat mich erschreckt und beunruhigt. Und da fragt man sich, wie das kommt. Ich persönlich glaube, dass in Teilen unserer Gesellschaft die Gewaltbereitschaft leider zunimmt. Auf dem Schulhof wird heute manchmal nicht mehr nur geschubst, sondern leider immer öfter auch geschlagen, da geht es auch gelegentlich mit aller Härte zu – das heißt, wir haben eine zunehmende Brutalisierung. Da müssen wir gegensteuern. Der Staat und die Gesellschaft müssen bei gewalttätigen Übergriffen konsequent eingreifen. Die Menschen müssen wissen, dass die Polizei da ist und die Einhaltung von Regeln und Gesetzen überwacht – im Großen wie im Kleinen. Klar ist aber auch: Das Problem zunehmender Gewalt in der Gesellschaft kann nicht von der Polizei allein gelöst werden. Es ist maßgeblich auch eine Aufgabe von Familien, Schulen und Jugendeinrichtungen, dafür zu sorgen, dass Gewalt erst gar kein Thema wird. Weiterhin müssen wir Polizisten, Rettungskräfte und Feuerwehrleute besser ausstatten. Während bei den Polizisten Schutzwesten helfen, ist dies bei Rettungskräften fraglich, da sie dann möglicherweise im Rettungseinsatz nicht mehr arbeitsfähig sind. Vor allem aber wünsche ich mir, dass Polizisten, Feuerwehrleute und Rettungskräfte Vorfälle konsequent melden. Da sind auch die Vorgesetzten gefragt. Sie müssen sich um die Anliegen der betroffenen Mitarbeiter kümmern, sie ernst nehmen, eingreifen und auch aufklären. Und wir müssen auch einmal darüber nachdenken, ob die Ausbildung von Feuerwehrleuten und Rettungskräften in diesen Aspekten verbessert werden muss.

Nach der neuesten Kriminalstatistik sind die Zahlen bei Wohnungseinbrüchen um ungefähr ein Viertel zurückgegangen. Dennoch sind die Zahlen noch hoch, und die Aufklärungsquote ist niedrig. Wie können beim Wohnungseinbruch dauerhafte Erfolge erzielt werden?

Herbert Reul: Achtzig bis neunzig Prozent der Einbrüche erfolgen durch die Fenster. Einen großen Beitrag können die Bürger leisten, indem sie ihre Häuser und Wohnungen bestmöglich sichern. Die Polizei kann zudem dadurch effektiver werden, dass sie die Daten, die sie bei Einbrüchen erfasst, noch besser miteinander abgleicht. Mit dem sogenannten Predictive Policing können wir Einbruchschwerpunkte besser und frühzeitiger erkennen und dann rechtzeitig Gegenmaßnahmen ergreifen. Ich habe gerade entschieden, die Prognosesoftware SKALA („System zur Kriminalitätsanalyse und Lageantizipation“) landesweit in allen sechzehn Kriminalhauptstellen einzuführen. Und das dritte ist natürlich die schon erwähnte Strategische Fahndung. Wenn die Polizei auf Autobahnen Kontrollen durchführt, hat sie die Chance, auch die Diebe zu erwischen, die eben nicht aus der Nachbarschaft kommen, sondern organisierte Banden, die über die Staatsgrenzen hinweg operieren.

Sind Sie enttäuscht, wenn Sie teilweise sehen müssen, dass Täter nach langen Ermittlungen gefasst werden, dann aber mit geringsten Strafen davonkommen?

Herbert Reul: Wir haben aus guten Gründen die Gewaltenteilung. Deshalb will ich hier keine Noten für Gerichtsurteile verteilen. Trotzdem: Wenn wir beklagen, dass immer mehr Menschen das Vertrauen in die staatlichen Institutionen verlieren, dann ist das nicht allein ein Problem der Polizei. Die Justiz ist da genauso gefordert.

Soll man Schwarzfahren als Ordnungswidrigkeit oder Bagatelldelikt einordnen?

Herbert Reul: Die Null-Toleranz-Strategie sieht vor, dass auch kleine Delikte bestraft werden. Wer das wie macht, ist dann noch einmal eine andere Frage. Aber es laufen zu lassen, ist für mich der Beginn eines schleichenden Prozesses, der dazu führen kann, auch größere Straftaten künftig mit einem Achselzucken zu beantworten.

Es gibt in Nordrhein-Westfalen eine Regierungskommission für mehr Sicherheit im Land. Welche Ergebnisse erwarten Sie sich von dieser Kommission?

Herbert Reul: Die Regierungskommission soll losgelöst vom politischen Alltag evaluieren, wie sich die Sicherheitsarchitektur in den nächsten zehn, zwanzig Jahren entwickeln könnte – etwa die Zusammenarbeit von Polizei, kommunalen Ordnungsbehörden oder sogar der Bundeswehr. Wie ist die internationale Zusammenarbeit aufgestellt? Welche Aufgaben muss zwingend hoheitlich die Polizei wahrnehmen? Und welche können auch von privaten Sicherheitsdiensten wahrgenommen werden? Antworten auf diese Fragen würden uns helfen. Der zeitliche Rahmen ist allerdings längerfristig angelegt, insofern gibt es bisher noch keine Ergebnisse.

Werden Sie in diesem Jahr noch weitere Sicherheitspakete auf den Weg bringen?

Herbert Reul: Das zweite Sicherheitspaket haben wir bereits auf den Weg gebracht. Bei dieser Novelle geht es vor allem um die Umsetzung der neuen europäischen Datenschutzvorgaben. In der zweiten Jahreshälfte wollen wir mit dem Sicherheitspaket III unser Verfassungsschutzgesetz an die veränderte Bedrohungslage anpassen.

Welche Erwartungen haben Sie an den neuen Bundesinnenminister?

Herbert Reul: Wir müssen dringend den Informationsaustausch zwischen den Sicherheitsbehörden optimieren. Das gilt für Deutschland genauso wie für Europa. Da geht es um Technik, aber auch um Vertrauen. Ich glaube, Interoperabilität ist eine der ganz großen Herausforderungen der nächsten Jahre. Aber Horst Seehofer bringt mit seiner breiten Erfahrung in der Bundesund Landespolitik ideale Voraussetzungen mit, um die bisherige Kleinstaaterei im Bereich der Inneren Sicherheit zu beenden.

Wo steht Nordrhein-Westfalen bei der Kriminalitätsbekämpfung am Ende der Legislaturperiode?

Herbert Reul: Eine solche Prognose wäre nicht seriös. Dafür ist die Innere Sicherheit zu sehr von äußeren Faktoren abhängig. Aber ich will, dass die Bürgerinnen und Bürger am Ende dieser fünf Jahre sagen: Die Situation hat sich nachhaltig verbessert, Nordrhein-Westfalen ist spürbar sicherer geworden. Das ist meine Mission.

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Das Gespräch führte Ralf Thomas Baus am 27. März 2018.

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Herbert Reul, geboren 1952 in Langenfeld (Rheinland), 1985 bis 2004 Mitglied des Landtags Nordrhein-Westfalen, 1991 bis 2003 Generalsekretär der CDU Nordrhein-Westfalen, 2004 bis 2017 Mitglied des Europäischen Parlaments, 2012 bis 2017 Vorsitzender der CDU/CSU-Gruppe im Europäischen Parlament, seit 2017 Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen.

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