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Zu Gründen, Folgen und Auswirkungen der britischen Ausstiegsentscheidung

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Inzwischen ist der Schock über die Entscheidung für den „Brexit“ westlich und östlich des Ärmelkanals verflogen, keineswegs aber die Probleme, die daraus erwachsen. Ein beiderseitiger Schock war er schon deshalb, weil eine knapp unterlegene Minderheit von Briten (rund 48 Prozent), vor allem der jüngeren Generation, den Austritt Großbritanniens nicht wünschte, auch wenn die jungen Wähler es zum Teil versäumten, ihr Votum für die weitere Mitgliedschaft Großbritanniens in der Europäischen Union (EU) abzugeben. Ebenso „shocking“ war das Abstimmungsergebnis für Brüssel, die EU und ihre Mitgliedstaaten sowie für die Regierungen in den europäischen Hauptstädten. Der kommende Exit der Briten schwächt nicht nur das weltweite Ansehen der EU, sondern auch deren Wirtschaftsleistung und ihr Finanzpotenzial.

Aller Voraussicht nach ist aber der Schaden auf britischer Seite noch größer; jedenfalls zeigte sich in ungeahnter Schnelligkeit, wie sehr die Entscheidung für den Brexit an die strukturelle Substanz Großbritanniens ging und geht. Plötzlich stand der ohnehin fragile Zusammenhalt des Vereinigten Königreiches wieder zur Disposition; schließlich hatten Schotten und Nordiren für ein Verbleiben Großbritanniens in der EU gestimmt. Nun sollen sie sich einem vor allem von Engländern befürworteten Austritt aus der europäischen Gemeinschaft beugen. Das wollen mehrheitlich die Schotten nicht, deren Versuch, das Vereinigte Königreich zu verlassen, vor drei Jahren knapp gescheitert war; jetzt aber verfügen sie über ein starkes, zusätzliches Argument, „UK“ den Rücken zu kehren.

 

Unvorhersehbare Folgen für Nordirland

Ähnliches gilt für Nordirland, wo die Lage noch komplizierter ist. Hier stimmten 56 Prozent der Befragten für die weitere EU-Mitgliedschaft Großbritanniens. Offenbar haben die Vorkämpfer für den Brexit, insbesondere Nigel Farage und Boris Johnson, in blindem Populismus übersehen, dass Brüssel in beträchtlichem Maß dazu beigetragen hat, die konfliktreiche Lage in Nordirland zu stabilisieren.1 Das geschah nicht nur durch Investitionen der EU in die dortige Wirtschaft seit dem Friedensvertrag von 1998, die zu größerem Wohlstand in der nordirischen Provinz beigetragen haben. Die Befriedung der Lage resultiert auch aus der Tatsache, dass die 499 Kilometer lange Grenze zwischen Irland und Nordirland aufgrund der gemeinsamen EU-Mitgliedschaft für die Menschen in beiden Staaten so gut wie inexistent geworden war. Nach Vollzug des Brexit könnte die bisherige „Common Travel Area“ mit ihrer gewohnten Freizügigkeit wieder zu einer echten Staatsgrenze zwischen Irland als Mitgliedstaat der EU und dem Nicht-mehr-Mitglied Großbritannien werden. Konsequenterweise wird es dann zwischen Irland und Nordirland auch wieder eine Zollgrenze mit den dazu notwendigen Grenzanlagen und Sicherheitskräften geben müssen. Verschärft wird die Lage zudem, weil London nach einem Brexit aller Voraussicht nach wieder andere Einwanderungsgesetze einbringen wird als die derzeit gültigen EU-Gesetze – mit nicht vorhersehbaren Folgen für den brüchigen Frieden zwischen Irland und der nordirischen Provinz.

Kurzum, selbst wenn gegenwärtig durch die neue Regierung von Theresa May hinsichtlich der Bestrebungen Nordirlands und Schottlands Ruhe in der politischen Debatte eingekehrt ist, beide Konflikte bleiben virulent. Dies gilt schon deshalb, weil der historisch gewachsene, strukturelle Staatsaufbau als „United Kingdom“ und die damit verbundene politische Kooperation und Kohäsion Großbritanniens im Zuge des anstehenden Brexit-Verfahrens fundamental verändert werden könnte.

 

Auseinanderdriften der Generationen und Schichten

Eine knappe Mehrheit der Briten hat für den Austritt aus der EU gestimmt. Warum ist es zu dieser Entscheidung gekommen? Bei der Beantwortung dieser Frage genügt es nicht, die teilweise verleumderisch geführte Kampagne gegen die Europäische Union und ihre Perhorreszierung besonders durch Farage, Johnson und andere anzuführen. Entscheidend waren generationelle und soziale Faktoren, gepaart mit einem spezifischen Identitätsverständnis und einer besonderen Perzeption Kontinentaleuropas. So haben die Altersgruppen zwischen 18 und 24 Jahren – insgesamt prozentual am höchsten – mit 73 Prozent für den Verbleib in der EU gestimmt; die Generationenkohorte der 25bis 34-Jährigen mit 62 Prozent, die nächstfolgende Altersstufe (35 bis 44 Jahre) mit noch 52 Prozent für die weitere EU-Mitgliedschaft. Ab dann kippt das Wahlverhalten in den älteren Generationenkohorten um: Für den Brexit stimmten die 45bis 54-Jährigen mit 56 Prozent, die nächstfolgende Kohorte zwischen 55 und 64 Jahren mit 57 Prozent und die Generation der 65-Jährigen und Älteren mit dem höchsten Prozentanteil von sechzig Prozent.

 

Europaskepsis und „Deutschlandangst“

In der sozialen Stratifikation (Schichtung) ergibt sich ebenfalls ein eindeutiges Resultat, folgt man den Sozialklassen in der Einteilung des britischen National Readership Survey (NRS): Demnach haben die Oberschicht, die gehobene Mittelklasse und die Mittelklasse mit 57 Prozent für einen Verbleib Großbritanniens in der EU votiert; hingegen die untere Mittelklasse mit 51 Prozent bereits für den Brexit, die soziale Schicht der Facharbeiter mit 64 Prozent für den Austritt, ebenso die Unterschicht der Arbeiter und Geringverdiener mit gleichem Prozentanteil.2

Ganz offensichtlich ist der jüngeren Generation, um es einmal pauschalierend zusammenzufassen, der Wert der EU bewusst. In ihrem persönlichen Erleben sind ihnen die Vorteile ungehinderter Mobilität zwischen Großbritannien und Europa vertraut, nicht zuletzt die Förderung von Bildung und Ausbildung durch die EU sowie die Finanzierung von Infrastrukturmaßnahmen und Forschungsprojekten. Die Befürchtung, Brüssel verkörpere einen „administrativen Moloch“ und werde zu einem alles reglementierenden „Superstaat“, ist bei ihnen kaum oder nur gering ausgeprägt. Anders die ältere Generation: Ab Mitte vierzig und dann immer ausgeprägter bei der älteren Generation sinkt die Zustimmung zur britischen EU-Mitgliedschaft und führt in der letzten Alterskohorte zu einer sechzigprozentigen Gegnerschaft. Hier sind offensichtlich frühere Prägungen nach wie vor virulent: etwa die (nach 1945 verlorene) Rolle als Weltmacht sowie das Bewusstsein, dass der Verlust dieser Stellung auf die beiden Weltkriege, die jeweils ihren Ausgang in Europa nahmen, nicht zuletzt verursacht von Deutschland, zurückzuführen ist. Ein stärkeres „entanglement“ (= Verwicklung) mit Europa wird aufgrund dieser Erfahrungen und Entwicklungen nicht gewünscht, stellt sich aber gerade für sie durch die Mitgliedschaft bei der EU als eine solche dar. Nicht selten wird diese Aversion auch mit Deutschland in Verbindung gebracht. Das in zwei Weltkriegen niedergerungene Deutschland versuche nun, so die Auffassung, gleichsam im dritten Anlauf, über seine Dominanz in der EU erneut die Vorherrschaft in Europa – und damit auch über Großbritannien – zu erringen. Mag dies letztlich eine irrationale Einschätzung verkörpern, als Meinung ist sie durchaus in der älteren Generation verbreitet. Diese identifiziert sich, auch durch ihre Sozialisation, noch stärker als jüngere Generationen mit der Geschichte und den Traditionen Englands beziehungsweise Großbritanniens auf der Basis eines unterschwelligen insularen Bewusstseins: „We here and they over there!“ Mit dem Blick von der Insel auf das europäische Festland ist oft mehr der Kontinent als Europa gemeint.

 

Das Nein der „lower class people”

Die soziale Schichtung der britischen Gesellschaft und ihre Auswirkungen auf die Einschätzung der EU ergeben ebenfalls ein weitgehend klares Bild: Die Oberschicht, die gehobene Mittelklasse und der überwiegende Teil der Mittelklasse plädieren für einen Verbleib Großbritanniens bei der EU; ihnen sind die Vorzüge individueller Mobilität sowie eines freien Waren- und Kapitalverkehrs oft schon durch den Beruf bewusst. Die sozialen Klassen darunter hingegen votierten für den Brexit, die unteren beiden Klassen der Facharbeiter, Arbeiter und Geringverdiener sogar mit noch höheren Prozentzahlen (64 Prozent) als in der Generation der über 65-jährigen Briten (sechzig Prozent).

Die Ursachen hierfür liegen zum Teil im jahrzehntelangen sozioökonomischen Niedergang Großbritanniens, der mit der Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft kaum etwas gemein hat, so zum Beispiel der sukzessive De-Industrialisierungsprozess einstmals blühender Industrieregionen vornehmlich in den Midlands, aber auch in Wales, der fast unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg einsetzte und nach 1945 noch einmal eine Beschleunigung erfuhr. Erheblich weiträumiger als das Ruhrgebiet mit seinen bis heute nicht völlig bewältigten Problemen, erlebten diese klassischen Industrieregionen einen unaufhaltsamen wirtschaftlichen und sozialen Niedergang. Dass es heute keine nennenswerte Auto-Industrie in Großbritannien mehr gibt, ist dafür symptomatisch.

Die Folge war ein sozialer Abstieg breiter Bevölkerungsschichten, der durch neue Industrien und Technologien sowie Dienstleistungen nur partiell aufgefangen werden konnte. Es sind gerade die Schichten der „lower class people“, die davon betroffen wurden, und daher Perspektivlosigkeit empfinden und kaum soziale Aufstiegschancen sehen.

 

Hausgemachte Einwanderungsproblematik

Zudem hat sich ihr gesellschaftliches und kulturelles Umfeld seit Ende der 1950er-Jahre zunehmend verändert, das durch die sukzessive Einwanderung von asiatischen Ethnien, aber auch aus der Karibik geprägt wurde. Die Einwanderer wurden als zusätzliche Konkurrenten auf dem umkämpften Arbeitsmarkt wahrgenommen. Der weitere Zustrom von osteuropäischen Arbeitskräften nach den 2004 und 2007 erfolgten EU-Mitgliedschaften Polens, Ungarns, Rumäniens, Bulgariens und anderer Länder erschwerte die Lage für die alteingesessene englische Bevölkerung dann erneut. Denn anders etwa als Frankreich und Deutschland, die ihre Arbeitsmärkte für Hunderttausende von Arbeitskräften aus Osteuropa erst einmal durch Moratorien sperrten, ließ Großbritannien ihren Zustrom zu – mit zum Teil massiven Folgen für das eigene, einheimische Arbeitskräftepotenzial. Dass nun viele Befürworter des Brexit aus den Unterschichten für ein Ausscheiden Großbritanniens aus der EU gestimmt haben, strafte die Europäische Union für eben diese Folgen ab, für die sie gar nicht verantwortlich war beziehungsweise ist.

Zu den beträchtlichen Unterschieden beim Wahlverhalten für oder gegen den Brexit aus sozialen und generationellen Gründen, wie eben dargelegt, kommen noch regionale Unterschiede hinzu. Denn während der Großraum London, Schottland und Nordirland für einen Verbleib Großbritanniens bei der EU stimmten, hat sich „das platte Land“ überwiegend gegen eine weitere britische Mitgliedschaft in der Europäischen Union ausgesprochen. All dies ist ebenso, wie das Abstimmungsergebnis, Ausdruck einer tiefen Spaltung des Landes in seinem Verhältnis zur EU.

 

Steigende Zustimmung für den Brexit

Wie geht es weiter? Das ist gegenwärtig sicherlich eine hypothetische beziehungsweise spekulative Frage. Politische Handlungsfähigkeit wird erst dann wieder erreicht, wenn der offizielle Antrag zum Austritt Großbritanniens aus der EU, der berühmte Brief Londons nach Brüssel, vorliegt. Nach Lage der Dinge wird dieser Brief auch abgeschickt werden. Denn es steht nicht zu erwarten, dass es zu einer Wiederholung des Brexit-Referendums kommen wird. Eine entsprechende Petition, immerhin von mehr als vier Millionen Briten unterzeichnet, ist bislang politisch folgenlos geblieben. Obwohl gut zwei Drittel der Abgeordneten des Unterhauses für den Verbleib Großbritanniens in der EU gestimmt haben, ist die Forderung nach einer zweiten Volksabstimmung nicht aufgenommen worden. Zudem ist zwischenzeitlich die Zustimmung zum Brexit sogar gestiegen. Nach einer Umfrage des britischen Markt- und Meinungsforschungsinstitutes YouGov Anfang August hat sich die Zahl der Befürworter erhöht: 46 Prozent der Briten halten den Ausstieg aus der EU für die richtige Entscheidung, 42 Prozent halten sie für falsch. Auch die Anzahl derjenigen, die sich vom Brexit einen positiven Impuls für die eigene Wirtschaft erwarten, ist von 23 Prozent vor dem Referendum auf jetzt 29 Prozent gestiegen.3

Wann immer der britische Antrag vorliegt – er stellt die unabdingbare Grundlage für das weitere Prozedere zwischen Großbritannien und der Europäischen Union dar. Artikel 50 des EU-Vertrages schreibt eine Frist von zwei Jahren für den Abschluss eines Austrittsverfahrens vor, in dem vor allem die Regelungen für die künftigen wirtschaftlichen und rechtlichen Beziehungen zwischen dem UK und der EU festgelegt werden müssen. Bei diesen Verhandlungen wird der Teufel nicht nur im Detail stecken. Gewichtige politische und formelle Probleme kommen hinzu. Dass eine Verlängerung der Zweijahresfrist die Zustimmung aller EU-Mitgliedstaaten erhält, die einstimmig erfolgen müsste, scheint eher zweifelhaft; schließlich hat Großbritannien aus ihrer Sicht per Volksabstimmung mehrheitlich den Willen bekundet, die Europäische Union verlassen zu wollen. Kommt es innerhalb der zwei Jahre doch zu einem Abkommen, bedarf dieses nicht nur der Zustimmung des Europäischen Parlaments, sondern auch einer qualifizierten Mehrheit im Europäischen Rat.4 Kernpunkte der Verhandlungen werden die Fragen eines freien Waren- und Kapitalverkehrs zwischen UK und EU sein sowie die Personenverkehrsfreiheit. Hier sind Konflikte bereits vorgezeichnet, zumal London auf Ersteres drängt, Letzteres jedoch ablehnt.

Selbst wenn sich Großbritannien vermutlich in einer schlechteren Verhandlungsposition gegenüber der EU befindet, politische Vernunft sollte auf beiden Seiten vorherrschen. Letztlich brauchen beide Seiten auf vielen Ebenen einander. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hat es Ende Juli in einem Gespräch mit seinem britischen Amtskollegen Philip Hammond beim G20-Treffen der Finanzminister auf den Punkt gebracht, indem er feststellte: „Wir sind uns natürlich einig, dass wir den Schaden aus dieser Entscheidung so gering wie möglich halten wollen für alle Beteiligten.“5 Es wäre gut, wenn sich alle Beteiligten an diese Maxime halten würden.


Günther Heydemann, geboren 1950 in Burghausen (Oberbayern), Lehrstuhl für Neuere und Zeitgeschichte am Historischen Seminar der Universität Leipzig und Direktor des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung e.V. an der Technischen Universität Dresden.


1 Vgl. hierzu auch den Beitrag des irischen Außenministers Charles Flanagan: „Die EU ist für Irland von großem nationalen Interesse“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.07.2016, S. 8.
2 Quelle: Lord Ashcroft Polls.
3 Vgl. Jochen Buchsteiner: „Die Ruhe nach dem Brexit“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.08.2016, S. 8.
4 Vgl. hierzu auch Hans-Jürgen Hellwig: „Großbritannien in der Falle“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.07.2016, S. 29.
5 „Briten wollen fiskalische Antwort auf Brexit-Votum geben“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.07.2016, S. 15.

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