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Soziale Marktwirtschaft und Disruption

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Gesellschaftliche Zerrissenheit und der Zuwachs populistischer Standpunkte und Parteien stellen die soziale Kohäsion in den westlichen Industrienationen auf die Probe. Die epochalen Herausforderungen Klimawandel und Digitalisierung sowie die Verschiebungen in der globalen politischen Tektonik formen bereits jetzt eine neue Lebenswelt. Der sich abzeichnende demografische Wandel, das Auseinanderdriften von Metropolregionen und ländlichen Räumen sowie neue parteipolitische Konstellationen werden in Deutschland das Lebensgefühl tiefgreifend verändern. Diese Veränderungen können zu Kippmomenten („Tipping-Points“) führen. Dabei bezeichnen Kippmomente Situationen, in denen sich ein System qualitativ rasch und zumeist irreversibel ändert. Besonders problematisch ist dabei, dass Prozesse, die ein System zum Kippen bringen können, sich oftmals selbst verstärken.

Die Änderung des globalen Klimas ist ein anschauliches Beispiel für ein System, das zu kippen droht: Die Erderwärmung bedeutet nicht nur den allmählichen Anstieg der Durchschnittstemperaturen, man muss auch damit rechnen, dass es in bestimmten Bereichen zu abrupten Änderungen kommt. So könnte das Schmelzen des Grönländischen Eisschildes einen schnellen und massiven Anstieg des Meeresspiegels auslösen oder die Versteppung des Amazonas-Regenwaldes die weltweite CO2-Konzentration sprunghaft steigen lassen. Der genaue Zeitpunkt eines Kippmoments ist zwar schwer zu bestimmen, zumeist lassen sich jedoch tiefgreifende Umbrüche bereits im Vorfeld erahnen, wenn die Änderungen in einem ökologischen System sich selbst verstärken und immer rascher vonstattengehen.

Auch in der Gesellschaft erleben wir solche Kippmomente: Der rasche Umsturz eines politischen Systems nach Jahren relativer Stabilität, die scheinbar plötzliche Veränderung der Parteienlandschaft, das unvorhergesehene Wiederaufleben wirtschaftlichen Protektionismus oder die schlagartige Veränderung des sozialen Klimas in einem Stadtteil sind Beispiele. Kippmomente sind jedoch zumeist nicht unabänderbare Schicksalsschläge, sondern der Wandel kann gestaltet werden.

Die Soziale Marktwirtschaft zielt darauf ab, gesellschaftliche Wandlungsprozesse zu gestalten, um Freiräume für alle Menschen zu öffnen, damit ein gutes, gelingendes Leben möglich ist. Eine kluge Wirtschaftspolitik und geordnete Märkte sind Mittel, um dies zu erreichen. Die Welt soll vor Kippmomenten bewahrt, sich abzeichnende Fehlentwicklungen sollen zurückgeführt werden. Die Botschaft der Sozialen Marktwirtschaft ist eine optimistische. Auch Ludwig Erhards Formel vom „Wohlstand für alle“ ist so zu verstehen: Es geht weniger um die Segnungen materiellen Konsums, sondern „Wohlstand für alle“ zielt darauf ab, dass allen die Möglichkeit eröffnet werden soll, an den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Errungenschaften der Moderne teilzuhaben.

Optimismus des Miteinanders

Dieser optimistischen und dem Menschen zugewandten Botschaft der Sozialen Marktwirtschaft wieder mehr Gehör zu verschaffen, erscheint aus zweierlei Sicht geboten: Wir werden, erstens, unsere Welt nur auf eine gelingende Zukunft hin gestalten, wenn wir davon überzeugt sind, dass es eine gute Zukunft geben kann. Der grassierende kulturpessimistische Grundton gerade bürgerlicher Eliten ist auch einer der sich selbst verstärkenden Prozesse, die zu einem Kippmoment einer hoffnungslosen und resignierten Gesellschaft führen können: Die pessimistische Sicht des einen bestätigt die negative Haltung des anderen – und umgekehrt. Um hier entgegenwirken zu können, bedarf es der Kärrnerarbeit des genauen Hinschauens und der Suche nach detaillierten Lösungen.

Ein konkretes Beispiel: Es hilft uns wenig, wenn wir mit Blick auf eine CO2-Steuer pauschal konstatieren, dass dies der Wirtschaft schadet oder sie sozial unausgewogen ist und eine solche Steuer zwar die Welt besser machen will, aber letzten Endes größeren Schaden anrichtet als Gutes schafft. Statt dieser Pauschalisierungen müssen wir realistische, umsetzbare Lösungen suchen, die die gesamte Gesellschaft mitnehmen. Wie das gelingen kann, zeigt das „Schweizer Modell“ zur CO2-Steuer. In der Schweiz wurde festgelegt, dass die Einnahmen aus der CO2-Abgabe zu zwei Dritteln wieder als Pro-Kopf-Pauschale an die Bevölkerung zurückverteilt werden; das verbleibende Drittel wird für energetische Sanierungen und andere Klimaschutzprojekte verwendet. Haushalte mit geringem CO2 -Ausstoß werden durch dieses Modell also finanziell entlastet. Da diese aber gleichzeitig zu den Einkommensschwachen zählen, werden soziale Härten abgefedert und zudem auch Lasten bis hinein in die Mittelschicht erkennbar reduziert. Insgesamt wird so effektiver Klimaschutz betrieben (und es werden Kippmomente vermieden), die Wirtschaft wird zukunftsfähig gemacht, und die Lasten werden nach dem bekannten Prinzip verteilt, dass breite Schultern mehr tragen können als schmale – ein Kompromiss im Sinne der Sozialen Marktwirtschaft.

Zweitens – und dies ist der wichtigere Punkt: Die Soziale Marktwirtschaft ist ein Versprechen darauf, dass wir für die Herausforderungen in Wirtschaft und Gesellschaft übergreifende Kompromisse finden können. Dies erfordert kein geformtes, auf Gleichsinn ausgerichtetes Kollektiv, sondern eine Gesellschaft, in der sich unterschiedliche Vorstellungen und Ideen mit Respekt begegnen und in der die politische Vermittlung der Normalfall ist. Die Soziale Marktwirtschaft stellt gegen die Hochkonjunktur der aktuellen Untergangsszenarien den Optimismus des Miteinanders und die Tugend der Toleranz. So konnte der US-amerikanische Ökonom Thomas Schelling, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaft im Jahr 2005, mithilfe spieltheoretischer Überlegungen in seinem berühmten Tipping Point Model zeigen, dass das Auseinanderbrechen einer Gesellschaft beziehungsweise die Segregation gesellschaftlicher Gruppen umso wahrscheinlicher ist, je geringer die Toleranz in einer Gesellschaft ausgeprägt ist.

Irenisches Denken

Alfred Müller-Armack, dem wir den Begriff der Sozialen Marktwirtschaft verdanken, sprach in diesem Zusammenhang von „sozialer Irenik“. Abgeleitet vom griechischen Begriff είρήνη („Frieden“), meint er damit nicht nur die Versöhnung von wirtschaftlicher Effizienz und gesellschaftlichen Anliegen in der Sozialen Marktwirtschaft, sondern zugleich die Vermittlung unterschiedlicher gesellschaftspolitischer Positionen innerhalb der Gesellschaft. In einem Aufsatz von 1950 schreibt er: „So kann unsere Hoffnung auf eine mögliche Einheit nur die Irenik sein, eine Versöhnung, die das Faktum der Gespaltenheit als gegeben nimmt, aber ihm gegenüber die Bemühung um eine gemeinsame Einheit nicht preisgibt.“ Für seine Zeit sah Müller-Armack in den Strömungen von Katholizismus, Protestantismus, Sozialismus und Liberalismus die vorherrschenden gesellschaftspolitischen Richtungen, die es miteinander zu verbinden galt. Nicht um diese einzelnen Positionen einzuebnen, sondern um in gegenseitiger Achtung an dem Problem der sozialen Gestaltung mitzuwirken. Hieraus erwächst das Fundament für eine gesellschaftlich sensible und die Gesellschaft versöhnende Soziale Marktwirtschaft. Nochmals MüllerArmack: „Irenisches Denken bedeutet auch hier, in vielfacher Perspektive denken zu können, sich des steten, unabdingbaren Zieles zu vergewissern und zugleich mit den technischen Prinzipien vertraut zu sein, nach denen man soziale Ziele realiter erreicht.“

Keine Wünsch-Dir-was-Marktwirtschaft

Zugleich gilt: Die Soziale Marktwirtschaft ist kein in sich hermetisch abgeschlossenes Modell, das es gegen jeden Widerstand durchzusetzen gilt. Die Realität ist wichtiger, als starr an vermeintlich althergebrachten Prinzipien festzuhalten. Der Ruf nach (einer wie auch immer zu bestimmenden) Prinzipientreue, wie sie gern mit der deutschen Ordnungspolitik in Verbindung gebracht wird und wie sie so mancher Ökonom auch heute herbeisehnt, ist ebenso verfehlt wie die Vorstellung, Soziale Marktwirtschaft sei alles das, was die deutsche und europäische Politik macht. Soziale Marktwirtschaft ist keine Wünsch-Dir-was-Marktwirtschaft. Wir bedürfen weder eines wirtschafts- und sozialpolitischen Dogmatismus noch eines Fatalismus; vielmehr bedarf es ordnungspolitischer Klugheit. Immer wieder neu zu justieren, wie Wirtschaft und Gesellschaft freiheitlich gestaltet werden können und wie Prinzipien im Lichte wechselnder Bedingungslagen auch künftig gedeutet, aktualisiert und ergänzt werden können: Hierin liegt die Stärke einer realitätsnahen Sozialen Marktwirtschaft. Das Prinzip der Haftung beispielsweise, aber auch die Herausforderungen der Monopolkontrolle sind in einem digitalen Zeitalter anders zu deuten und müssen anders umgesetzt werden als auf den Gütermärkten der 1950er-Jahre. Die Novelle des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen von 2017, mit der festgelegt wurde, dass auch dort Marktmacht entstehen kann, wo Leistungen unentgeltlich erbracht werden, und dass die Fusionskontrolle auch auf Unternehmen mit niedrigen Umsätzen, die zu hohen Kaufpreisen erworben werden, auszuweiten ist, sind Beispiele dafür, wie das Wettbewerbsrecht mit Blick auf Digitalunternehmen wirksam bleiben kann.

Die Gegenwart aus dem Blickwinkel von Kippmomenten zu betrachten, bringt einen weiteren Aspekt mit sich. Ob ein System kippt oder nicht, hängt auch von den jeweiligen Kontexten ab. Allgemein gesprochen: Wenn sich ein System bereits nahe dem Kippbereich bewegt, kann eine winzige Veränderung der Umweltbedingungen, eben des Kontexts, genügen, um ein unwiderrufliches Kippen auszulösen. So mag eine kleine konjunkturelle Delle für das politische Klima gravierende Auswirkungen haben; umgekehrt kann das Aufhellen der politischen Stimmung positiv auf die Wirtschaftslage wirken. Ludwig Erhard war sich wie kein zweiter dieser Wirkungsketten bewusst und war davon überzeugt, dass Fachkompetenz und die Fähigkeit, gesellschaftlich versöhnend zu wirken, die besten Mittel sind, um gesellschaftlichen Wandel zu gestalten und Kippmomente zu verhindern. Mit einem nicht gerade geringen Maß an Selbstbewusstsein schrieb er im November 1949 an Konrad Adenauer: „Die soziale Marktwirtschaft […] zu einem guten, segensreichen Ende zu führen vermag nur der, dessen wirtschaftspolitische Autorität trotz mancher Gegnerschaft so unbestritten ist, dass er die Geister zuletzt doch versöhnen kann, ohne sich selbst untreu werden zu müssen. Es ist nicht Hochmut, sondern Nüchternheit, wenn ich Ihnen sage, dass diese Aufgabe in Deutschland nach Lage der Dinge nur mir zufallen kann.“

Kontextuale Kippmomente und Resilienz

Zugleich ist mit dem Gedanken der kontextualen Kippmomente auch der Gedanke der Resilienz verbunden, also das Vermögen eines Systems, in einem bestimmten Zustand zu verharren oder dorthin zurückzukehren. Wenn wir in einem System X eine hohe Resilienz haben, dann ist es voraussichtlich nicht so schlimm, wenn sich in einem System Y, das mit dem anderen System zusammenhängt, etwas ändert oder dieses sogar in einen neuen Zustand kippt. Bereits Walter Eucken, der programmatische Vordenker der deutschen Ordnungspolitik, hat in seinem 1952 posthum erschienenen Buch Grundsätze der Wirtschaftspolitik darauf hingewiesen, dass „eine Interdependenz der Wirtschaftsordnung mit allen übrigen Lebensordnungen“ besteht. Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: Wenn politisch beschlossen wird, den Braunkohleabbau in der Lausitz zu beenden, bedeutet das ein schwerwiegendes Kippen der lokalen Ökonomie hinein in einen neuen, wirtschaftlich prekären Zustand. Wenn aber die daraus resultierenden sozialen Verwerfungen politisch aufgefangen werden, dann muss das politische System nicht gleich mit umkippen. Aber dafür muss das politische System stabil sein, das heißt: resilient.

Gegen das allzu pessimistische Lamento „Noch nie ging’s uns so gut, aber …“ lautet die Botschaft der Sozialen Marktwirtschaft „Noch nie ging’s uns so gut, weil …“. Für eine solche Sicht auf die Welt sei jedem das Werk Factfulness. Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist von Hans Rosling empfohlen. Der schwedische Wissenschaftler zeigt auf, welche enormen Fortschritte wir auf dem Weg zu einem globalen Frieden und zu Wohlstand in der Vergangenheit bereits gemacht haben, dass wir auch in Zukunft darauf hoffen können. Statt also zu erwarten, dass vom Euroraum im Speziellen bis hin zur westlichen Zivilisation im Allgemeinen der Untergang kurz bevorsteht (ohne die tatsächlich bestehenden Probleme kleinreden zu wollen) und nur radikale Lösungen helfen, setzt die Soziale Marktwirtschaft auf Aushandlungsprozesse, die manchmal eben nur in eine Politik der kleinen Schritte münden können, aber nicht selten ein effektiver Weg sind, Kippmomente abzuwenden. Zugleich muss man sich bewusst sein, dass die vorherrschenden Deutungsmuster und Stimmungslagen wesentlichen Einfluss auf reale, wirtschaftspolitische Entscheidungen haben. Auch hierzu hat Walter Eucken einen wichtigen Hinweis gegeben: „Die Meinungen der Menschen, ihre geistige Haltung sind für die Richtung der Wirtschaftspolitik vielfach wichtiger als die wirtschaftlichen Tatsachen selbst.“ In Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik mit Optimismus ans Werk zu gehen und so Stimmungen und Meinungen zu prägen, ist das Gebot der Stunde.

Die Soziale Marktwirtschaft ist mehr als ein Wirtschaftsmodell: Sie ist zugleich immer auch eine Gesellschaftsordnung, in der das gelingende Leben des Einzelnen der eigentliche Maßstab für die Güte dieser Ordnung ist. Die aus heutiger Sicht naiv und romantisch erscheinende Forderung nach einem Eigenheim mit Garten, wie es sich bei den frühen Vertretern der Sozialen Marktwirtschaft findet, ist vielleicht heute – und nicht nur aus ökologischen Gesichtspunkten – aktueller denn je. Dort, wo der Mensch in einer lebenswerten Umgebung soziale Einbettung und Glück erfahren kann, wird man auch die Bedrohung globaler Kippmomente gelassener und realistischer diskutieren können. Das Plädoyer für einen eigenen Garten kann uns heute als Chiffre dafür dienen, dass gesellschaftliche Prozesse dem Einzelnen einen Lebens-Raum lassen müssen, in dem er oder sie sein oder ihr Lebens-Glück entfalten kann. Bis heute gilt – wenn auch im übertragenen Sinne – das Wort Wilhelm Röpkes, „dass der größte öffentliche Park nicht den kleinsten Garten ersetzen kann“.


Nils Goldschmidt, geboren 1970 in Höxter, Professor für Kontextuale Ökonomik und ökonomische Bildung, Direktor des Zentrums für Lehrerbildung und Bildungsforschung an der Universität Siegen, Vorsitzender der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft e. V.

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