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Essay

Verloren im Großraum

Carl Schmitt und die Zukunft der liberalen Weltordnung

Nicht nur im Lager der Neuen Rechten in Deutschland, sondern auch in Russland und in China dient die Großraumtheorie des deutschen Juristen Carl Schmitt (1888–1985) heute zur Begründung autoritärer Herrschaft in einem begrenzten geopolitischen Raum. Bei näherer Betrachtung erweist sich die damit einhergehende Beschwörung einer neuen multipolaren Weltordnung allerdings als realitätsfern. Stattdessen ist die internationale Ordnung, die sich abzeichnet, von zwei Universalismen gekennzeichnet, und es gilt, sich zu entscheiden: zwischen dem liberalen Universalismus des von den Vereinigten Staaten angeführten Westens und dem autoritären oder totalitären Universalismus Chinas.

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Es gibt kaum einen politischen Denker, der trotz seiner offensichtlichen Feindseligkeit gegenüber der liberalen Demokratie auch in gemäßigten Kreisen so viel Aufmerksamkeit genießt wie Carl Schmitt. Nicht nur die extreme Rechte und Linke finden Gefallen an ihm, sondern auch seriöse Juristen, Historiker und Politikwissenschaftler. Das hängt damit zusammen, dass er – zumindest formal – ein seriöser Wissenschaftler war. Er war kein irrlichternder Schriftsteller wie Arthur Moeller van den Bruck, der ebenfalls der diffusen Strömung der „Konservativen Revolution“ zugerechnet wird. Schmitt war ohne Zweifel einer der herausragenden Staats- und Völkerrechtler der Weimarer Republik. Das ist für viele ein ausreichender Grund, über seine Rolle im „Dritten Reich“ hinwegzusehen, sie zu relativieren oder sie zumindest unverbunden neben sein angeblich oder tatsächlich großes Werk als politischer Denker zu stellen.

 

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Man muss jedoch die Frage stellen, was man mit einem Staatsrechtler anfangen will, der solche Sätze schrieb: „Der Führer schützt das Recht vor dem schlimmsten Mißbrauch, wenn er im Augenblick der Gefahr kraft seines Führertums als oberster Gerichtsherr unmittelbar Recht schafft. […] Der wahre Führer ist immer auch Richter. Aus dem Führer fließt das Richtertum. Wer beides voneinander trennen oder gar entgegensetzen will, macht den Richter entweder zum Gegenführer oder zum Werkzeug eines Gegenführers und sucht den Staat mit Hilfe der Justiz aus den Angeln zu heben.“ Diese Zeilen stammen aus dem Artikel Der Führer schützt das Recht, mit dem Schmitt 1934 die Mordaktionen im Rahmen des sogenannten Röhm-Putsches „juristisch“ rechtfertigte. Schmitt nahm den Text 1940 in den Sammelband Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles 1923–1939 auf, der mehrfach nachgedruckt wurde, zuletzt im Jahr 2014.

 

Renaissance der Großraumtheorie

Im selben Band finden sich zwei erstmals 1939 erschienene Aufsätze, in denen Schmitt Überlegungen zum geopolitischen Konzept des Großraums präsentiert: Großraum gegen Universalismus und Der Reichsbegriff im Völkerrecht. Der erste der beiden Texte ist eine ausführlichere Fassung von Schmitts Gedanken zur Monroe-Doktrin in seiner Abhandlung Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte von 1939; der zweite ist direkt dieser Schrift entnommen. Wie die Apologie des politischen Mordes, die Schmitt fünf Jahre zuvor veröffentlichte, sind diese Texte unter der wissenschaftlichen Oberfläche von vor allem polemischer Natur. Gleichwohl ist von Schmitts Großraumtheorie, die er später weiter ausbaute, heute wieder viel die Rede.

Im Rahmen der alljährlich stattfindenden Carl-Schmitt-Vorlesung hat der in Cambridge lehrende irische Historiker Brendan Simms im Oktober 2022 eindringlich dargelegt, wie stark Schmitts Konzept heute sowohl in Russland als auch in China rezipiert wird. Schon 1991 habe der russische Philosoph Alexander Dugin mit Bezug auf Schmitt die Wiederherstellung des „Großraums“ der früheren Sowjetunion gefordert. In China versuche der Politikwissenschaftler Jiang Shigong Schmitts Theorie zur Rechtfertigung eines autoritären Imperiums zu nutzen.

In Deutschland hat solch eine „Großraumordnung“ Anhänger im Lager der Neuen Rechten, dem „intellektuellen“ Arm der radikalen beziehungsweise extremen Rechten. Ausgehend von Schmitt, träumte Dimitrios Kisoudis, Referent in der AfD-Bundestagsfraktion, im Oktober 2022 in der neurechten Zeitschrift Sezession von einer multipolaren Ordnung, in der Europa einen von mehreren Großräumen bilden soll. Nicht nur die EU in ihrer jetzigen Form müsse dafür weichen, sondern vor allem die NATO, die nur „Vorwand zur Sicherung der US-Hegemonie über Europa“ sei. Der Hegemon dieses Großraums muss aus Kisoudis’ Sicht Deutschland sein, weil kein anderes Land dazu in der Lage ist, diese Rolle zu übernehmen. Unwahrscheinlich, dass die Nationen, die in dem von Kisoudis imaginierten deutschen Großraum beheimatet sind, den gleichen Traum träumen wie er. Tatsächlich dürfte die multipolare Großraumordnung nicht nur an europäischen Umständen scheitern, sondern auch aus anderen Gründen unrealistisch sein.

 

Großbritannien als „raumfremde Macht“

Wer das verstehen will, muss sich zunächst Schmitts Großraumtheorie genauer ansehen und fragen, ob sie überhaupt auf unser Jahrhundert anwendbar ist. Schmitt – und das ist ein wesentlicher Ansatz zur Erklärung seiner geopolitischen Überlegungen – war von einem tiefsitzenden Ressentiment getrieben, von der Abneigung gegen diejenigen Mächte, die Deutschland aus seiner Sicht daran hinderten, den im Ersten Weltkrieg verlorenen Großmachtstatus wiederherzustellen. In Schmitts Texten aus dem Jahr 1939 standen dabei angesichts der damaligen Weltlage die Vereinigten Staaten im Vordergrund, aber Großbritannien war für ihn zumindest ideologisch der wichtigere Gegner, weil die von ihm beklagte Misere dort ihren Anfang genommen hatte. Das erklärt er in seinem Büchlein Land und Meer aus dem Jahr 1942 unter Verweis auf das 17. und 18. Jahrhundert. In diesen Jahrhunderten sei Großbritannien durch seine Siege über Spanien und Frankreich und angesichts der Schwächung Deutschlands durch die Religionskriege zum „Universalerben“ des „großen Aufbruchs europäischer“ Völker seit dem frühen 15. Jahrhundert geworden. Großbritannien habe eine „Revolution größter Art, eine planetarische Raumrevolution“ gewonnen und dadurch die Macht in der Welt vom Land auf das Meer verlegt.

Dieser britische Triumph hatte in Schmitts Augen schwerwiegende Folgen. Indem England „Herrin der See“ wurde konnte es ein globales Imperium errichten. Damit verabschiedete es sich im Grunde aus Europa: „Die Insel selbst aber, die Metropole eines solchen auf der rein maritimen Existenz errichteten Weltreiches wird dadurch entwurzelt und entlandet. Sie kann, wie ein Schiff oder wie ein Fisch, an einen anderen Teil der Erde schwimmen, denn sie ja nur noch der transportable Mittelpunkt eines über alle Kontinente zusammenhanglos verstreuten Weltreiches.“ Großbritannien wurde so für den europäischen Kontinent zu einer „raumfremden“ Macht.

 

„Großraum“ versus „Universalismus“

Um das zu untermauern, rekurrierte Schmitt sowohl in der Völkerrechtlichen Großraumordnung als auch in Land und Meer auf Benjamin Disraeli. Der als Jude geborene, aber anglikanisch getaufte Disraeli, der es bis zum Parteiführer der Tories brachte und zweimal – 1868 und 1874 bis 1880 – britischer Premierminister war, diente Schmitt als unfreiwilliger Zeuge der Anklage gegen das britische Empire. Schmitt zitiert Disraelis Aussage, England sei „eigentlich eher eine asiatische als eine europäische Macht“ und fügt hinzu, er habe Königin Viktoria nicht ohne Grund zur Kaiserin von Indien erklären lassen. Beides sind für Schmitt Beweise dafür, dass Disraeli das britische Empire als eine von Europa gelöste Macht verstanden habe.

In Wirklichkeit wollte Disraeli mit den zitierten Worten, die aus einer Wahlkampfrede des Jahres 1866 stammen, aber nur die prinzipielle Nichtinterventionspolitik der konservativen Regierung rechtfertigen, indem er darauf hinwies, dass Großbritannien Aufgaben habe, die weit über den europäischen Kontext hinausgingen. Und mit dem Titel einer Kaiserin von Indien für die britische Königin verfolgte er einen rein innenpolitischen Zweck. Durch dieses Symbol wollte er die Zustimmung der arbeitenden Klassen zur imperialen Ausdehnung Großbritanniens sichern. Die These von Disraelis „Orientalismus“, die Schmitt ausbreitete, war nicht neu. Sie entsprach in der Tendenz den gängigen antisemitischen Anfeindungen, mit denen Disraeli während seiner politischen Laufbahn konfrontiert war. Aber Schmitt ging noch darüber hinaus, indem er in der Tonlage des rassistischen Antisemitismus schrieb, Disraeli sei ein „ein Abravanel […] des 19. Jahrhunderts“ gewesen, „ein Eingeweihter, ein Weiser von Zion“. Ganz bewusst gab er seiner Kritik an der britischen Seemacht eine antisemitische Note.

Die Juden waren für Schmitt nicht die alleinigen Träger der Ideologie, die dem britischen Empire und der Pax Britannica zugrunde lag, aber sie hatten erheblichen Anteil an ihr. Gegen diese Ideologie, den liberalen „Universalismus des britischen Weltreichs“, entwickelte Schmitt seine Großraumtheorie, wobei er von einer ideologischen Übereinstimmung zwischen Großbritannien und den Vereinigten Staaten ausging. Er bekämpfte nicht den britischen, sondern den „angelsächsischen“ Universalismus als die „Ideologie der liberaldemokratischen Westmächte“, die er durch rein wirtschaftliche Interessen geprägt sah.

 

Schmitts Kritik an der entstehenden liberalen Weltordnung

Dabei stand Amerika aus Schmitts Sicht zunächst gar nicht auf der Seite der Universalisten. In seiner Völkerrechtlichen Großraumordnung interpretiert er die Monroe-Doktrin von 1823 als „Präzedenzfall einer völkerrechtlichen Großraumordnung“. Am 2. Dezember 1823 hatte der amerikanische Präsident James Monroe in der Rede zur Lage der Nation die Unabhängigkeit der Staaten Nord- und Südamerikas von den europäischen Mächten erklärt. Er teilte die Welt in zwei Sphären auf und forderte die allgemeine Anerkennung des Prinzips der Nichtintervention. Amerikanische Mächte dürften nicht in Europa und europäische Mächte nicht in Amerika intervenieren.

Aus Schmitts Sicht hatte Monroe auf vorbildliche Weise ein Großraumprinzip mit Interventionsverbot aufgestellt. Doch dabei sei es nicht geblieben. Der erste Schurke in diesem Stück war für Schmitt Theodore Roosevelt, der die Monroe-Doktrin 1904 durch das Roosevelt-Corollary ergänzt hatte. Damit beanspruchten die Vereinigten Staaten das Recht, zum Schutz der westlichen Hemisphäre jederzeit in den lateinamerikanischen Staaten zu intervenieren. Schmitt hielt diesen Zusatz für eine Umkehrung der eigentlichen Bedeutung der Monroe-Doktrin. Tatsächlich war er eine Ergänzung, denn die alte Absicht, Interventionen nichtamerikanischer Mächte zu verbieten, blieb bestehen.

Die beiden anderen Schurken waren Woodrow Wilson und Franklin D. Roosevelt. Obwohl dieser als Präsident das Corollary seines entfernten Cousins widerrief, betrachtete Schmitt ihn und Wilson als Vollstrecker der von Theodore Roosevelt begonnenen Politik. Gemeinsam hätten die drei Präsidenten aus der Monroe-Doktrin „eine überstaatliche und übervölkische Weltideologie“ gemacht, die nicht anderes sei als ein „Instrument der Herrschaft des angelsächsischen Kapitals auf dem Weltmarkt“, einer Herrschaft, unter der vor allem Japan und Deutschland zu leiden hätten. Auf diese Weise habe sich die amerikanische Außenpolitik mit dem „Universalismus des britischen Weltreiches“ verbunden. Schmitt sah den Übergang von der Pax Britannica zur Pax Americana – oder besser: zur liberalen Weltordnung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – voraus, und was er sah, gefiel ihm nicht.

 

Toxische Mischung aus Antisemitismus, Antiliberalismus und Antiamerikanismus

Die Großraumtheorie, die er dagegensetzte, war von seiner Warte aus ein defensives Konzept. Er träumte von einer Welt der voneinander abgeschlossenen Großräume, in der durch die Trennung Frieden herrschen würde. Ein „echtes Großraumprinzip“ bestand für Schmitt in der „Verbindung von politisch erwachtem Volk, politischer Idee und politisch von dieser Idee beherrschtem, fremde Interventionen ausschließenden Großraum“. In jedem Großraum musste es ein – autoritär regiertes – „Reich“ geben, das – wie das durch den „Anschluss“ Österreichs entstandene „Großdeutsche Reich“ in Mittel- und Osteuropa – das Zusammenleben von Völkern und Volksgruppen organisierte, die „einander nicht artfremd“ waren. Ausgeschlossen aus dem europäischen Großraum blieben die Juden, die aus Schmitts Sicht „artfremd“ und darum auch „raumfremd“ waren. Sie waren Agenten des „angelsächsischen“ Universalismus, der alle Großräume bedrohte. Nicolaus Sombart, der Sohn des Soziologen Werner Sombart, hat davon berichtet, dass in den 1930er Jahren ein Disraeli-Porträt über Schmitts Schreibtisch gehangen habe, so wie während des Zweiten Weltkriegs das Foto Erwin Rommels über dem Kartentisch des britischen Feldmarschalls Bernard Montgomery. Den Feind immer im Blick – oder im Nacken.

Angesichts der Mischung aus Antisemitismus, Antiliberalismus und Antiamerikanismus, die Schmitts Großraumtheorie anhaftet, ist es nicht verwunderlich, dass sie heute für Ideologen unfreier Regime wie Dugin und Jiang interessant ist. Was aber lässt sich mit ihr anfangen? Im Grunde war sie schon in dem Moment obsolet, als Schmitt begann, sie niederzuschreiben. In Großraum gegen Universalismus beruft er sich auf Hitler, der Roosevelt im April 1939 mit Blick auf die Monroe-Doktrin in einer Rede habe wissen lassen: „Genau die gleiche Doktrin vertreten wir Deutsche nun für Europa, auf alle Fälle aber für den Bereich und die Belange des Großdeutschen Reiches.“ Damit habe der „Führer“ die Idee einer „schiedlich-friedlichen Abgrenzung der Großräume in einfachster Sachlichkeit ausgesprochen“. War Schmitt wirklich nicht in der Lage, Propaganda als solche zu erkennen? Wie dem auch sei: Seine Idee einer Welt selbstregulierender Großräume war angesichts von Hitlers Weltherrschaftsplänen von Anfang an eine Illusion.

 

Illusion einer multipolaren Ordnung im 21. Jahrhundert

Und heute? Es ist unübersehbar, dass Putins Russland an der Wiederherstellung des sowjetischen Machtbereichs als einem von Russland kontrollierten Großraums arbeitet und dabei vor keinem Mittel zurückschreckt. Doch daraus entsteht noch keine multipolare Welt von Großräumen. Der Kalte Krieg war zwar auch eine machtpolitische Konfrontation, aber vor allem der Zusammenprall zweier universaler Ideologien: des westlichen Liberalismus und des kommunistischen Totalitarismus. Die unipolare Phase der Weltpolitik, die auf den Sieg der Vereinigten Staaten und des Liberalismus im Kalten Krieg folgte, ist zu Ende, aber multipolar wird die Welt dadurch nicht. Die Konfrontation der Weltmächte im Kalten Krieg schloss die relative Bewegungs- und Handlungsfreiheit von Regionalmächten in verschiedenen Subsystemen nicht aus. Aus dieser Perspektive ist das russische Streben nach dem Großraum auch ein Zeichen für Provinzialität, das heißt für die Gebundenheit an einen begrenzten Raum, für die Unfähigkeit, Weltmacht zu sein. Zwar will auch China einen eigenen Großraum in Asien errichten, aber das heißt nicht, dass es sich damit begnügen wird. Wir wissen längst, dass es nicht so ist. Man sieht es an den Aktivitäten Chinas überall in der Welt, nicht zuletzt in Afrika, hinter denen machtpolitische Interessen, aber auch ideologische Überzeugungen stehen.

Der chinesische Literaturwissenschaftler Wang Hui hat in seiner vierbändigen Geschichte des chinesischen Denkens die Grundlage eines modernen chinesischen Universalismus skizziert, in dem er ein dem westlichen Universalismus überlegenes Modell globaler Herrschaft sieht. Er stützt sich dabei besonders auf den Philosophen Kang Youwei, der am Ende der Qing-Dynastie, in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, für die Reform des chinesischen Staates eintrat. Wang wirbt in der Tradition der völkerassimilierenden Qing-Dynastie für die Schaffung eines multiethnischen Imperiums globalen Ausmaßes, für eine globale Einheit der Staaten unter einem wohlwollenden kulturellen und ökonomischen Hegemonen. Diese Vision richtet sich gegen die liberale internationale Ordnung, vor allem aber gegen den Einfluss der Vereinigten Staaten und stimmt aus Sicht des amerikanischen Sinologen David K. Schneider mit den Zielen der chinesischen Staatsführung überein. Wie die Sowjetunion im Kalten Krieg zielt das heutige China nicht zuletzt auf eine gezielte Beeinflussung der Entwicklungsländer durch dafür geschaffene Organisationen und Institutionen.

Damit stehen sich abermals zwei Universalismen gegenüber – der liberale des von den Vereinigten Staaten angeführten Westens und der autoritäre Universalismus Chinas. Darüber sehen die Europäer gerne hinweg oder haben es zumindest lange versucht. Statt von Multipolarität zu träumen, wäre es besser, den bipolaren Charakter des sich entwickelnden neuen planetarischen Staatensystems zu akzeptieren und die Konsequenzen daraus zu ziehen.

Zweifellos ist der Westen, ist auch Europa, verschiedenen Bedrohungen ausgesetzt, ob nun dem russischen Expansionismus oder dem islamistischen Terrorismus. Nicht erst seit dem Überfall des tendenziell totalitären Putin-Regimes auf die Ukraine ist Russland die größte geopolitische Bedrohung für die Europäische Union. Der polnische Außenminister Radoslaw Sikorski hat recht, wenn er, wie am 24. Februar 2024 in der Neuen Zürcher Zeitung, sagt, es gebe für die NATO und die Europäische Union allen Grund, sich auf russische Angriffe auf weitere Staaten wie Lettland oder Polen vorzubereiten. Die Ukraine und ganz Europa müssen als Räume der Freiheit gegen das von einer großrussischen Ideologie getragene Bestreben Moskaus verteidigt werden, einen eurasischen Großraum im Schmitt’schen Sinne zu bilden. Genauso ist Israel als ein Vorposten der Freiheit im Nahen Osten zu verteidigen.

Diese Herausforderungen ändern aber nichts daran, dass wir es auf planetarischer Ebene mit der Konfrontation zweier Universalismen zu tun haben. Brendan Simms hat in seiner Carl-Schmitt-Vorlesung darauf hingewiesen, dass der westliche Universalismus im Wesentlichen von den Ländern der Anglosphäre – den Vereinigten Staaten, dem Vereinigten Königreich, Australien und Neuseeland – sowie den Staaten der Europäischen Union getragen werde. Staaten wie Israel, Japan, Taiwan, Südkorea und einige andere zählen ebenfalls dazu. Dieser liberaldemokratischen Schicksalsgemeinschaft, die auf die Führung durch die Vereinigten Staaten angewiesen ist, wird im 21. Jahrhundert kein freiheitlicher Staat entkommen. Nimmt man beides zusammen – die regionalen Kriegsschauplätze und den ideologisch-machtpolitischen Gegensatz zweier Weltmächte –, bleibt nur eine Schlussfolgerung: Wie zwischen 1947 und 1990 befinden wir uns heute, um ein Wort Raymond Arons aufzugreifen, in einem Zustand des „Kriegerischen Friedens“. Er dürfte nicht allzu schnell zu Ende gehen.

 

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Prof. Dr. Matthias Oppermann

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