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Essay

Eine neue Dimension der Judenverfolgung

von Prof. Dr. Andrea Löw

Die Novemberpogrome 1938 im Deutschen Reich

Die Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung im Deutschen Reich in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 bedeuteten einen brutalen Wendepunkt in der Politik der Nationalsozialisten. 1300 bis 1500 Juden wurden getötet, in den Selbstmord getrieben oder starben in der Zeit danach in den Konzentrationslagern, über 30.000 Männer wurden verhaftet und nach Dachau, Buchenwald oder Sachsenhausen verschleppt. Hinzu kamen der Brand und die Zerstörung von etwa 1400 Synagogen, über 170 Wohnhäusern und bis zu 7500 Geschäften.

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Gegen 3 Uhr morgens klopft es in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 an der Tür des Bürgermeisters von Lesum in der Nähe von Bremen, gleichzeitig Führer des örtlichen SA-Sturms. Sein Hausmeister informiert ihn, er solle ein dringendes Telefongespräch entgegennehmen. Wenig später hat Fritz Köster den wachhabenden Offizier der Bremer SA-Standarte in der Leitung, der ihn in Kenntnis setzt, dass als Vergeltung für den Mord an Ernst vom Rath überall im Reich auf höchsten Befehl hin Synagogen in Brand gesetzt und jüdische Geschäfte zerstört werden sollen. Zudem: „Die Juden sollen weg“. Köster fragt nach, was denn nun wirklich mit den Juden geschehen solle, er bekommt die Antwort: „Handeln!“ Köster mobilisiert seinen SA-Sturm und weist ihn an, den 78-jährigen jüdischen Arzt Adolph Goldberg zu erschießen. Als der SA-Scharführer August Frühling sich weigert, dies zu tun, erinnert Köster ihn an seinen Eid auf den „Führer“. Der SA-Stoßtrupp dringt in das Haus des jüdischen Arztes ein. Frühling erhält eine Pistole mit dem erneuten Befehl, den Arzt zu töten. Er weigert sich zunächst weiterhin, am Ende erschießt er jedoch den jüdischen Arzt und dessen Frau.

 

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Rudolf Bing berichtet 1940 in der Emigration darüber, wie er in der Pogromnacht mit seiner Frau entkommen kann, als der Mob in seine Wohnung in Nürnberg eindringen will. Er findet am nächsten Tag alles verwüstet vor und beschreibt: „In der ganzen Stadt boten die meisten jüdischen Wohnungen den gleichen Anblick. Namentlich waren aber alle Läden vollständig demoliert. Bald hörte man aber noch viel traurigere Botschaften. Am Nachmittag des Vortages hatte meine Frau drei Jugendfreundinnen bei sich gesehen, mit denen sie sich regelmäßig einmal im Monat traf. Der Ehemann der einen war in der Nacht vor den Augen seiner Frau erschlagen worden, sie selbst lag mit schweren Verletzungen im Gesicht im Krankenhaus. Der Ehemann der zweiten war im Gesicht und am Kopf verletzt worden, schwebte Monate lang zwischen Leben und Tod und behielt als dauernde Folge eine Lähmung des einen Armes und erhebliche Sprachstörungen, der Ehemann der dritten aber war aus seiner Wohnung geholt worden und befand sich auf dem Transport nach Dachau ins Konzentrationslager. Wenn ich nur die Schicksale dieser Nacht in meinem näheren Bekanntenkreis schildern wollte, müsste ich ein eigenes Werk schreiben.“

Diese beiden Beispiele aus zwei von hunderten Städten, in denen im November 1938 Jüdinnen und Juden gedemütigt, gequält und getötet wurden, geben einen Eindruck vom Ausmaß der ausgeübten Gewalt, aber auch davon, wie chaotisch dies teilweise vonstattenging.

 

Die Vorgeschichte

Ende Oktober 1938 ließ das NS-Regime 17.000 Jüdinnen und Juden mit polnischer Staatsangehörigkeit verhaften und zur polnischen Grenze bringen, um sie abzuschieben. Bald riegelte Polen die Grenze ab, so dass Tausende im Niemandsland zwischen den beiden Ländern festsaßen, bevor sie in mehrere Internierungslager aufgenommen wurden. Das größte von ihnen befand sich im polnischen Grenzort Zbąszyn.

In Paris erfuhr Herschel Grynszpan, ein polnischer Staatbürger jüdischen Glaubens, dass seine Eltern und seine Schwester unter den Deportierten waren. Die Familie hatte bereits seit 27 Jahren in Deutschland gelebt. Am 7. November schoss er, um auf das Schicksal der Deportierten aufmerksam zu machen, auf den deutschen Botschaftsmitarbeiter Ernst vom Rath. Für die Nationalsozialisten war dies ein guter Vorwand: Die Propaganda stellte die Schüsse in Paris als das Ergebnis einer antideutschen jüdischen Verschwörung dar. Das Deutsche Nachrichtenbüro wies die Zeitungen an, dem Attentat am nächsten Tag einen herausragenden Platz einzuräumen.

Bereits am Abend des 7. November und am Folgetag kam es im Gau Kurhessen zu Gewalt gegen die jüdische Bevölkerung. Die Region um Kassel war seit 1933 schon mehrfach Schauplatz antisemitischer Zwischenfälle gewesen, nun wies offenbar der Propagandaleiter des Gaus, Heinrich Gernand, lokale und regionale Funktionäre an, Übergriffe anzustiften. Die Ausschreitungen begannen in einem jüdischen Café in Kassel, das ein Mob aus SA-Männern, einer SS-Einheit aus Arolsen und normaler Bevölkerung demolierte. Daraufhin zog die Menge weiter zur Synagoge und verwüstete sie. Die Polizei schaute zu.

Von Kassel aus ging die Gewalt in andere Städte in der Umgebung über. Die Ereignisse in Hessen zeigen, dass die Gewalt im November 1938 nicht allein von München aus initiiert und zentral gesteuert wurde. Es gab bereits zuvor lokale Initiativen, die die Nachricht vom Attentat zum Schlag gegen die jüdische Bevölkerung nutzten.

 

Der 9. und 10. November 1938

Am Nachmittag des 9. November kam es in Dessau und Chemnitz zu Pogromen. Dann wurde München zum zentralen Schauplatz. Nahezu die gesamte NS-Führung war an diesem 9. November hier versammelt, um dort den Hitler-Putsch von 1923 zu feiern. Nachdem die Nachricht vom Tod Ernst vom Raths eintraf, berieten sich Hitler und Goebbels wohl am Rande des „Kameradschaftsabends“ im Alten Rathaus. Hitler verließ die Veranstaltung direkt danach. Der Propagandaminister forderte daraufhin gegen 22 Uhr die anwesenden Gauleiter und SA-Führer auf, dafür zu sorgen, dass die Tat Grynszpans nicht ungesühnt bleibe. In seinem Tagebuch notiert er am Folgetag: „Er [Hitler] bestimmt: Demonstrationen weiterlaufen lassen. Polizei zurückziehen. Die Juden sollen einmal den Volkszorn zu spüren bekommen. Das ist richtig. Ich gebe gleich entsprechende Anweisung an Polizei und Partei. Dann rede ich kurz dementsprechend vor der Parteiführerschaft. Stürmischer Beifall. Alles saust gleich an die Telefone. Nun wird das Volk handeln.“

Ausschreitungen sollten als Volkszorn inszeniert werden, bei denen die Polizei nicht, die Feuerwehr nur dann eingreifen sollte, wenn „arisches“ Eigentum gefährdet war. Plünderungen sollten unterbunden werden. Die Anweisungen wurden telefonisch weitergegeben, eine schriftliche Anweisung lag noch nicht vor, so konnte es in der Weitergabe der Anordnung leicht zu Missverständnissen kommen, wie das eingangs beschriebene Beispiel zeigt. Die Telefone im Alten Rathaus reichten nicht aus, so dass die Weisungen in einigen Regionen erst verzögert ankamen.

Überall im Reich feierten SA-Leute und Parteiaktivisten den Jahrestag des Putsches, viele waren mehr oder weniger angetrunken, als sie vom Tod vom Raths und den Weisungen aus München erfuhren. Parteiaktivisten, SA- und SS-Männer, Hitler-Jugend und gemeinsam mit ihnen teilweise auch einfache „Volksgenossen“ sowie Kinder und Jugendliche machten sich ans Werk. Bald brannten Synagogen, klirrten Fensterscheiben.

Fünf Minuten vor Mitternacht verschickte das Geheime Staatspolizeiamt in einem Fernschreiben genaue Anweisungen, um 1:20 Uhr in der Nacht präzisierte Reinhard Heydrich, der Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes der SS, diese in einem weiteren Fernschreiben. Zu diesem Zeitpunkt war die Gewalt an vielen Orten bereits in vollem Gange. Die Umsetzung der zunächst mündlich weitergegeben Weisungen und das Ausmaß der Gewalt unterschieden sich lokal erheblich.

Synagogen brannten, jüdisches Eigentum wurde zerstört oder geplündert. Die Bilder der brennenden und zerstörten Synagogen und Geschäfte verstellen manchmal den Blick auf die Gewalt gegen die Menschen. Die Gewalttäter prügelten und demütigten Juden. Es gab Tote, Frauen wurden vergewaltigt, Menschen brutal zusammengeschlagen.

Der Terror machte auch vor Kindern und alten Menschen nicht Halt. Jüdische Waisenhäuser und Altenheime wurden in mehreren Städten zerstört. In Emden wurden die Bewohner des Altenheims nachts aus den Betten geholt und gezwungen, an der brennenden Synagoge vorbeizumarschieren. Sie mussten Kniebeugen und Gymnastikübungen machen. In Nürnberg zwangen SA-Männer die Patienten im jüdischen Krankenhaus strammzustehen, auch die gerade operierten, einige starben später an Blutungen. Die Liste solcher Gewaltakte ließe sich fortsetzen.

Derartige Demütigungen waren nicht angeordnet worden, hier gab es ein beträchtliches Maß an Eigeninitiative. Bei den Plünderungen jüdischen Eigentums spielten offenbar Frauen eine aktive Rolle. Häufig waren angetrunkene Jugendliche bei den Gewaltakten und Demütigungen aktiv beteiligt, die entweder der Hitler-Jugend angehörten, von ihren Lehrern mobilisiert wurden oder sich spontan anschlossen. Nahezu überall versammelten sich Schaulustige, um sich die Schäden anzusehen oder noch etwas in den zerstörten Geschäften für sich zu ergattern.

Nach Rücksprache mit Hitler gab Goebbels am Nachmittag des 10. November die Anweisung, dass die Ausschreitungen zu beenden seien. Nun sollten verschärfte gesetzliche Maßnahmen folgen, besonders im Hinblick auf die „Arisierung“ jüdischen Eigentums.

 

Verhaftungen

Gestapo-Chef Heinrich Müller hatte noch in der Nacht des 9. November die Verhaftung von 20.000 bis 30.000 jüdischen Männern angeordnet, und zwar „vor allem vermögende Juden“. Reinhard Heydrich konkretisierte diesen Befehl später in der Nacht noch. Die Auswahlkriterien machen deutlich, dass es hier vor allem darum ging, wohlhabende Juden durch die Inhaftierung zur Ausreise und der damit verbundenen Aufgabe ihres Besitzes zu zwingen. Doch waren die inhaftierten Juden keineswegs alle wohlhabend und auch nicht, wie ebenfalls angeordnet worden war, relativ jung und gesund.

In manchen Orten fand sich eine große Menge Schaulustiger ein, die Spalier standen, als die Gefangenen durch die Städte zum Bahnhof gebracht und dann in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald oder Sachsenhausen verschleppt wurden. Die knapp 31.000 jüdischen Männer wussten nicht, wann und ob sie wieder freikommen würden. Die Ankunft in den Lagern war für sie ein großer Schock, vor allem das erneute Ausmaß an Misshandlungen und die verbalen Einschüchterungen. Mehrere hundert jüdische Häftlinge starben zwischen November 1938 und Anfang 1939.

Die Frauen der Verhafteten wussten zunächst häufig nichts Genaues über den Verbleib ihrer Männer, mussten außerdem mit der schwierigen Situation nach den Pogromen allein fertig werden. Sie mussten die Schäden beseitigen, die Geschäfte auflösen und sich darum bemühen, die Auswanderung vorzubereiten und die erforderlichen Papiere dazu zu organisieren, denn der Nachweis über die bevorstehende Emigration war die einzige sichere Möglichkeit, die Männer aus den Lagern zu befreien.

Reaktionen

Im Bewusstsein der Jüdinnen und Juden markierten die Novemberpogrome eine tiefe Zäsur: Der Terror im November 1938 übertraf alles, was sie bis dahin hatten erleben müssen. Spätestens nun wurde den allermeisten klar, dass jüdisches Leben im Deutschen Reich ohne Perspektive war. Victor Klemperer schreibt in seinem Rückblick auf das Jahr 1938 am Silvesterabend in sein Tagebuch: „Seit der Grünspan-Affäre das Inferno.“ In Breslau notiert Willy Cohn am 11. November, es „kann leicht noch viel schlimmer kommen; ich bin ziemlich pessimistisch.“

Deutsche und österreichische Jüdinnen und Juden, die in ihrer Heimat verwurzelt waren und diese nicht verlassen wollten, die sich vor einer ungewissen Zukunft in der Fremde fürchteten und sich zuvor damit getröstet hatten, dass es schon nicht schlimmer kommen werde, sahen sich nun eines „Besseren“ belehrt. Die Grenzen des Vorstellbaren waren in diesen Tagen verschoben worden. Nun geriet die Auswanderung deutscher und österreichischer Jüdinnen und Juden zur panischen Flucht.

Dies traf sich mit den Zielen der NS-Führung in dieser Phase. Noch im November 1938 wurde eine Auswanderungsbehörde eingerichtet, wie es sie in Österreich bereits gab. Die Auswanderung sollte massiv forciert werden und in der Tat stiegen die Emigrationszahlen in der Folge an. 175.000 bis 180.000 Juden flohen allein in den Jahren 1938 und 1939 aus dem NS-Staat (inklusive Österreich), vorher waren es 20.000 bis 24.000 jährlich gewesen.

Jedoch: Die zugleich betriebene Beraubung der jüdischen Bevölkerung erschwerte ihre Auswanderung: Verarmte Emigranten wollte kein Land aufnehmen. Ohnehin waren weiterhin kaum Länder bereit, die jüdischen Auswanderer aufzunehmen, im Gegenteil verschärften immer mehr Länder ihre Einreisebestimmungen. Hoffnungslosigkeit machte sich bei denjenigen deutschen Jüdinnen und Juden breit, die nicht auswandern konnten. Im November 1938 stieg die Zahl derer, die sich das Leben nahmen, sprunghaft an.

Und die Reaktion der nicht-jüdischen deutschen Bevölkerung auf die Pogromnacht? Es ist sehr schwer, hier Verlässliches zu sagen, jedoch ist diese Frage von zentraler Bedeutung: Hier haben wir es mit der ersten Massengewalt gegen deutsche Juden zu tun, die sich vor aller Augen abspielte, an der sich zudem in der einen oder anderen Form auch viele beteiligten, z.B. mindestens durch Plünderungen.

Wurden in den Lageberichten deutscher Behörden kritische Töne verzeichnet, betraf dies vor allem die Zerstörung von Gegenständen. Dass Maßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung zu ergreifen seien, wurde diesen Berichten zufolge wenig bestritten. Aus manchen Orten ist überliefert, dass viele Deutsche bestürzt über die Misshandlungen gewesen seien, aus anderen wiederum wird von Applaus für die Ausschreitungen berichtet. Allerdings ist es ein Problem bei diesen Stimmungsberichten, dass viele sehr vorsichtig ihre eventuell vorhandene Kritik äußerten, da sie nicht riskieren wollten, als „Judenfreund“ dazustehen. In den Berichten der Exil-SPD ist die Rede davon, dass die Ausschreitungen von der Mehrheit scharf verurteilt wurden – hier jedoch ist zu bedenken, dass diese Berichterstatter sich in hohem Maße auf das ihnen vertraute sozialistische Milieu stützten. Kurz: Es ist nicht ganz einfach, die Meinung „der“ deutschen Bevölkerung zu den Pogromen zu fassen, doch handelte es sich wohl nicht um den von der NS-Führung propagierten Ausbruch des „Volkszorns“. Große Teile der deutschen Bevölkerung haben sich nicht beteiligt, viele standen der Gewalt ablehnend gegenüber, was auch einige zeitgenössische Berichte und Tagebücher bestätigen.

Doch selbst wenn die Ablehnung gegenüber den Pogromen größer war, als das Regime es wahrhaben wollte: Die partielle Kritik an der Zerstörung in dieser Nacht bedeutete keine generelle Ablehnung der NS-Judenpolitik, und die antijüdischen Maßnahmen in der Folge der Pogrome stießen kaum auf Kritik. Die zumindest öffentlich weitgehend passive Haltung der meisten Deutschen in dieser Nacht war ein Erfolg für das Regime, einer weiteren Radikalisierung schien nun nichts mehr im Wege zu stehen. Und dies war der Weg, den die NS-Führung beschritt.

 

Der November 1938 im Prozess der Judenverfolgung

Nach offiziellen NS-Angaben wurden in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 91 Juden getötet, 36 Personen schwer verletzt und mehrere Frauen vergewaltigt. Die tatsächlichen Zahlen waren weit höher. Die Bilanz dieser Tage im November 1938 lautet ungefähr: 1300 bis 1500 Juden wurden getötet, in den Selbstmord getrieben oder starben in der Folgezeit in den Konzentrationslagern, über 30.000 Männer wurden verhaftet und nach Dachau, Buchenwald oder Sachsenhausen verschleppt. Etwa 1400 Synagogen, über 170 Wohnhäuser und bis zu 7500 Geschäfte wurden zerstört.

In der Forschung besteht Einigkeit über die immense Bedeutung der Novemberpogrome im Prozess der Judenverfolgung, viele Forscher betonen den Zäsur-Charakter, einige gehen eher davon aus, dass es sich um den traurigen Höhepunkt der antijüdischen Politik und Gewalt seit 1933 handelt.

1938 erreichte die Judenverfolgung eine neue Dimension. Dies war bereits beim „Anschluss“ Österreichs im März zu erkennen, als vor allem die Wiener Jüdinnen und Juden in einem Ausmaß gedemütigt wurden, wie dies zuvor im Deutschen Reich nicht der Fall gewesen war. Die Entfesselung der Gewalt in Österreich wirkte auf das Altreich zurück und so nahmen Übergriffe im Frühjahr 1938 vor allem in Berlin zu. Im Juni 1938 wurden 10.000 Menschen in „Schutzhaft“ genommen, die vom Regime als „arbeitsscheu“ oder „asozial“ charakterisiert worden waren, darunter 1500 Juden. Im November wirkten dann von oben angeordneter Terror und lokale Gewaltbereitschaft zusammen und radikalisierten sich gegenseitig.

In der Rückschau erscheinen diese Ereignisse allzu leicht als Vorläufer der eigentlichen, dann während des Krieges folgenden, Katastrophe. Doch zeigen die zeitgenössischen Tagebücher und Berichte das Ausmaß des Schreckens für die deutschen und österreichischen Jüdinnen und Juden in diesem November 1938. In dieser Nacht trat das ungeheure Potenzial an Hass zutage, mit dem das NS-Regime, aber auch Teile der Bevölkerung in aller Öffentlichkeit den Jüdinnen und Juden den Krieg erklärten. Hier war eine Grenze überschritten worden.

Die jüdische Bevölkerung begriff in diesen Tagen, dass es im Deutschen Reich, in ihrer Heimat, keine Zukunft für sie geben würde. Gewalt in einem solchen Ausmaß wie in diesen Tagen  war ihnen bis dahin unbekannt gewesen. Die Emigration entwickelte sich zur panischen Flucht. Doch vielen gelang sie nicht mehr.

 

Andrea Löw ist Stellvertretende Leiterin des Zentrums für Holocaust-Forschung am Institut für Zeitgeschichte München – Berlin und Honorarprofessorin am Lehrstuhl für Zeitgeschichte der Universität Mannheim.

 

 

Quellen und neuere Literatur:

  • Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland, Band 2: Deutsches Reich 1938–August 1939, bearb. v. Susanne Heim. München 2009.
  • Uta Gerhard/Thomas Karlauf (Hrsg.), Nie mehr zurück in dieses Land. Augenzeugen berichten über die Novemberpogrome 1938. Berlin 2011.
  • Alan E. Steinweis, Kristallnacht 1938. Ein deutscher Pogrom. Stuttgart 2011.
  • Raphael Gross, November 1938. Die Katastrophe vor der Katastrophe. München 2013.

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