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Jihādistische Rechtfertigungen von Gewalt gegen Deutschland

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Während Deutschland bis zu den Attentaten des 11. September 2001 vorwiegend als Rückzugsraum für transnational operierende Jihādisten diente, wurde es seitdem zu einem Zielland für jihādistisch motivierte Gewalt. Insbesondere die Beteiligung der Bundeswehr am ISAF-Einsatz in Afghanistan wurde als Rechtfertigungsgrund für Anschläge in Deutschland angeführt. Im August 2015 riefen deutsche Jihādisten, die sich dem „Islamischen Staat“ (IS) in Syrien angeschlossen haben, ihre Anhänger in Deutschland dazu auf „Ungläubige“ im Inland zu töten, sofern eine Ausreise in den IS nicht möglich sei. Als ein Hauptmotiv nannten auch sie die deutsche Unterstützung für die Gegner des IS.

In den vergangenen Jahren wurde in Deutschland eine Reihe von Anschlagsplanungen und auch -versuchen unternommen, die jedoch fast alle im Vorfeld aufgedeckt werden konnten oder aufgrund von Konstruktionsfehlern in den Sprengsätzen nicht zur Umsetzung gelangten. Das erste und bislang einzige vollendete Attentat auf deutschem Boden ereignete sich am 2. März 2011, als Arid Uka am Frankfurter Flughafen zwei US-Soldaten erschoss und zwei weitere schwer verletzte, die sich auf dem Weg in einen Einsatz in Afghanistan befunden hatten.

 

Vor allem durch den ISAF-Einsatz (2001-14) in Afghanistan standen nicht mehr allein die USA als primärer Feind im Mittelpunkt jihādistischer Aufmerksamkeit, sondern auch andere daran teilnehmende Staaten wurden zu Zielländern jihādistischer Anschläge, darunter nicht zuletzt Deutschland, das in Afghanistan nach Großbritannien unter den EU-Staaten das zweitgrößte Kontingent an Soldaten stellte.
Nach jihādistischer Deutung war Deutschland dadurch in einen „Krieg gegen Muslime“ eingebunden. In jihādistischen Videos und Texten wird Deutschland seitdem explizit als feindlicher Staat, der Muslime unterdrücke und töte, und damit als Anschlagsziel benannt. Aufsehen erregte kurz vor den Bundestagswahlen 2009 ein Video, in dem Bekkay Harrach (st. 2010) Deutschland mit Attentaten drohte, sofern das Bundeswehrkontingent nicht aus Afghanistan abgezogen werden sollte.

Obgleich die Truppenpräsenz in Afghanistan eine entscheidende Rolle bei der Rechtfertigung von gegen Deutschland gerichteter Gewalt spielte, werden auch das deutsche Staatswesen mit seiner freiheitlich demokratischen Grundordnung sowie die nichtmuslimische Mehrheitsgesellschaft als „Feinde des Islams“ bezeichnet.

Die Ablehnung der Demokratie wird neben theologischen Argumenten oft verbunden mit dem Ausdruck des Empfindens, dass Muslime im Allgemeinen, jedoch vor allem Salafisten (siehe auch Salafismus in Deutschland), aufgrund ihres Glaubens Anfeindungen seitens der Gesellschaft und Verfolgungen durch staatliche Organe ausgesetzt seien. So etwa fanden die Demonstrationen gegen öffentliche Auftritte der rechtsextremen Partei pro NRW im Frühjahr 2012 in Nordrhein-Westfalen, bei denen Karikaturen des Propheten Muhammad gezeigt worden waren, ihren programmatischen Niederschlag in Videos und Stellungnahmen. Darin wurden die Muslime in Deutschland – bzw. die Salafisten im Besonderen – als die eigentlichen Opfer der Zusammenstöße mit der Polizei dargestellt. Die an den Auseinandersetzungen beteiligten Salafisten wurden zu einer Vorhut des Widerstands stilisiert, die stellvertretend für die „unterdrückten Muslime“ agiere. Die Zusammenstöße in Nordrhein-Westfalen wurden auch genutzt, um Salafisten bzw. Jihādisten in Deutschland strategische Empfehlungen für das weitere Vorgehen zu geben. Anstatt sich bei Demonstrationen unkontrollierbaren Situationen auszusetzen, sollten sie Mitglieder der pro NRW gezielt töten.

Mit dem Entstehen des sogenannten „Islamischen Staates (IS)“ in Teilen Syriens und des Irak ist die Rechtfertigung von jihādistischer Gewalt gegen Deutschland in eine neue Phase eingetreten. Anfang August 2015 veröffentlichte der IS ein Video in deutscher Sprache, in dem der bekannte Jihādist Mohamed Mahmoud alias Abu Usama al-Gharib (geb. 1985 in Wien) sowie ein weiterer junger Mann mit dem Kampfnamen Abu Umar al-Almani sich an Jihādisten in Deutschland und Österreich richten und zu Anschlägen aufrufen. Wenn man nicht in der Lage sei, in den Islamischen Staat zu emigrieren, sollte der Kampf im Heimatland geführt werden. Jeder einzelne könne „Ungläubige“ (kuffār) schlicht mit einem Messer töten. Zur Legitimation dieses Aufrufs erklären sie, dass der IS Rache üben werde für die Beleidigung des Propheten, für den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan sowie für die Unterstützung der Kräfte, die in der Region den IS bekämpfen.

Militärische Interventionen – in direkter oder indirekter Form – in Gebieten, die von Jihādisten als „islamischer Boden“ betrachtet werden, dienen nach wie vor als wichtiger Rechtfertigungsgrund für Anschläge in Deutschland. Ideologisch schließt dies in den Hauptzügen an ein Grundlagendokument jihādistischer Theorie an, nämlich an die Schrift Die Verteidigung der muslimischen Gebiete ist die wichtigste individuelle Pflicht, die bereits 1984 während des Afghanistankrieges von ʿAbdallāh ʿAzzām (st. 1989) verfasst wurde. Er argumentiert darin, dass der jihād zu einer Glaubenspflicht für jeden Muslim werde, sobald Feinde in islamisches Territorium eindringen. Einen bedeutenden Beitrag zur Weiterentwicklung dieser Theorie leistete der saudische Autor Yūsuf al-ʿUyairī (st. 2003), in dessen Sicht der Islam auf religiöser, politischer, ökonomischer und kultureller Ebene bekämpft werde. Deshalb sei der jihād die Pflicht jedes Einzelnen und nicht an den Befehl einer Person gebunden. Damit geht es auch nicht mehr allein um die militärische Bedrohung eines Territoriums, sondern um eine „Gefährdung des Islams“ auf verschiedenen Ebenen, zu deren Abwendung jihād zu führen sei. Deutlich wird also, dass Aspekte des demokratischen Staates wie freie Meinungsäußerung von Jihādisten als Angriffe auf den Islam und als Unterdrückung von Muslimen gewertet werden können. Zuletzt zeigte sich dies besonders dramatisch bei dem Anschlag auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo in Paris im Januar 2015, in der auch Karikaturen des Propheten Muhammad abgebildet worden waren.

Dr. Mariella Ourghi

 

Lesetipps:

  • Behnam T. Said, Islamischer Staat. IS-Miliz, al-Qaida und die deutschen Brigaden, München 2014.
  • Guido Steinberg, Al-Qaidas deutsche Kämpfer. Die Globalisierung des islamistischen Terrorismus, Hamburg 2014.
  • Guido Steinberg, Der nahe und der ferne Feind. Die Netzwerke des islamistischen Terrorismus, München 2005.

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