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Länderberichte

Regierungsbildung in Litauen

von Oliver Morwinsky, Fausta Šimaitytė

Neues Machtbündnis mit fragiler Grundlage

Nach dem Rücktritt von Premierminister Gintaras Paluckas ist es in Litauen zu einem Koalitionswechsel gekommen: Die Demokraten („Vardan Lietuvos“) haben die Regierung verlassen, an ihre Stelle tritt nun die Parlamentsgruppe „Fraktion der Litauischen Bauern, Grünen und Christlichen Familienunion“. Umstritten bleibt auch die Partei „Nemuno Aušra“ (Morgenröte von Nemunas), die trotz massiver Proteste Teil der Koalition bleibt. Neue Premierministerin ist Inga Ruginienė – eine Gewerkschafterin und politische Neueinsteigerin, die von vielen als schwache Besetzung eingeschätzt wird. Die zentralen strategischen Ziele – Verteidigungs- und Europapolitik – werden trotz des Regierungswechsels weitergeführt werden. Ob die Koalition jedoch die gesamte Legislaturperiode überdauern wird, ist fraglich.

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Nach dem Rücktritt von Premierminister Gintautas Paluckas am 31. Juli 2025, hat sich Litauen binnen weniger Tage in eine veritable Regierungs- und Koalitionskrise hineinbewegt. Der Auslöser war weniger programmatisch als integritätsgetrieben: Medienrecherchen und parlamentarische Nachfragen verdichteten den Eindruck möglicher Interessenkonflikte im Umfeld des Premiers. Im Raum stand ein subventionierter Kredit an ein von ihm mitgehaltenes Unternehmen sowie geschäftliche Beziehungen im familiären Bereich. Die Folge waren Prüfungen durch Aufsichts- und Ermittlungsstellen, wachsende öffentliche Irritationen und Proteste in Vilnius. Als Koalitionspartner offen mit dem Ausstieg drohten, entschied sich Paluckas zum Rücktritt; verfassungsgemäß trat damit das gesamte Kabinett zurück. Am 26. August 2025 hat der Seimas Inga Ruginienė mit 78 Ja-Stimmen, 35 Nein und 14 Enthaltungen, zur neuen Premierministerin gewählt.

 

Koalitionsumbildung

Nach dem Rücktritt von Paluckas, äußerte sich die Partei „Die Demokraten“ sehr kritisch über eine Weiterführung der amtierenden Koalition, vor allem im Hinblick auf die Beteiligung der Partei „Morgenröte von Nemunas“ (nachfolgend auch Morgenröte genannt). Nach einigen Tagen des Verhandelns und der Entscheidung der Sozialdemokraten, die Koalition mit der Morgenröte fortzusetzen, traten die Demokraten aus der Koalition aus. Die Demokraten warfen der Morgenröte vor, eine Rhetorik zu pflegen, die „die Gesellschaft in die Irre führt“ und „das Vertrauen in die Demokratie“ untergräbt.

An ihre Stelle tritt nunmehr die Fraktion der Litauischen Bauern, Grünen und Christlichen Familienunion, die die „Bauern- und Grünenunion“ (LVŽS) und „Polnische Wahlaktion – Christliche Familienunion“ (AWPL-ZChR)-Abgeordnete sowie zwei Parteilose bündelt. Die Gruppe besteht insgesamt aus 11 Abgeordneten: 8 LVŽS-nahen Mandaten (inkl. 2 Parteiloser) und 3 AWPL-ZChR-Mandaten. Die AWPL-ZChR gehört auf EU-Ebene zur ECR-Familie ebenso wie die LVŽS, während die LSDP der S&D-Familie angehört.

 

Kritik an „Morgenröte von Nemunas“ in der neuen Koalition

Der Vorsitzende der Partei „Morgenröte von Nemunas“, Remigijus Žemaitaitis, steht nicht nur wegen antisemitischer Äußerungen in der Kritik, sondern auch bezüglich staatskritischer Bemerkungen. So äußerte sich Žemaitaitis herabwürdigend gegenüber der Ukraine. Es lohne sich nur in die Ukraine zu reisen, so Žemaitaitis, um „Bestechung, Korruption, Waffenverkauf und den Verkauf des Staates“ zu lernen. Seine Partei hat auch in der Vergangenheit kritische Worte über die Ukraine verloren und im Wesentlichen pro-russische Botschaften verbreitet. Dies hat dem internationalen Ansehen Litauens bereits geschadet. Einem Staat, der zu den vehementesten Verfechtern der ukrainischen Unabhängigkeit und Freiheit gehört. Die Vereinten Staaten von Amerika, die als der wichtigste Garant für die litauische Sicherheit gelten, haben Žemaitaitis in ihren Berichten als antisemitischen Politiker bezeichnet. Dies stellt für die gesamte litauische Politik ein Risiko dar.

Der litauische Sonderermittlungsdienst (STT) hat eine Voruntersuchung über die mögliche illegale Finanzierung der Wahlkampagne der Morgenröte eingeleitet.

Auch der litauische Staatspräsident, Gitanas Nausėda, beobachtet die Partei mit Argusaugen. Im November 2024 bezeichnete er die Entscheidung der Sozialdemokraten, die „Morgenröte von Nemunas“ in die Koalition aufzunehmen, als Fehler. Aktuell hält er sich mit Kritik zurück.

 

Große Massenproteste in Vilnius

Neben Žemaitaitis und seiner Partei steht auch der Parteivorsitzende der AWPL-ZChR, Waldemar Tomaszewski, in der Kritik. Er ist in der Vergangenheit immer wieder mit Widerstand gegen die Russlandsanktionen aufgefallen. Ebenso trug er am 9. Mai 2014 das orange-schwarze St.-Georg-Band, ein klares Bekenntnis zum Kreml und dessen kriegerischen Ambitionen.

Die litauische Zivilgesellschaft begehrt öffentlich gegen diese Koalition auf und fordert insbesondere ein Ende der Koalition mit der „Morgenröte von Nemunas“. Es wurde zudem an das gebrochene Wahlversprechen der Sozialdemokraten erinnert, niemals in eine Koalition mit der Morgenröte einzutreten. Am 26. August 2025 kam es auf den Straßen von Vilnius zu einer der größten Demonstrationen, die je in Litauen stattgefunden haben.

Bereits nach der litauischen Parlamentswahl im Oktober 2024 hatte es Widerstand gegen die Regierungsbildung gegeben. Am Tag der Unterzeichnung der neuen Koalition wurde ein Massenprotest, sog. „Tag der Schande“, organisiert sowie eine Onlinepetition mit über 80.000 Unterschriften und 66 beteiligten NGOs an den Präsidenten übergeben.

 

Neue Regierungschefin gilt als schwache Besetzung

Zur neuen Regierungschefin wurde Inga Ruginienė gewählt. Sie gehört erst seit einem Jahr der sozialdemokratischen Partei an und verfügt über ein ausgeprägtes sozialpolitisches Profil aus der Gewerkschaftsbewegung. Zuvor leitete sie den Gewerkschaftsdachverband (LPSK) und war Vizepräsidentin des Europäischen Gewerkschaftsbundes.

Ihre Kandidatur stützte sich vor allem auf relativ gute Umfragewerte sowie auf den Vorteil, als politische Neueinsteigerin keine Altlasten mitzubringen. Ruginienė gilt als sozialpolitisch engagiert, ambitioniert und gesprächsbereit. Allerdings auch als Neuling und ohne große Aura.

Die Opposition kritisiert, sie verhalte sich zu passiv und sei eher Objekt der politischen Prozesse als deren Gestalterin. Ein Indiz ist ihre Abstinenz von öffentlichen Auftritten, die sie völlig dem LSDP-Vorsitzenden, Mindaugas Sinkevičius, überlässt. Zudem fehlt ihr als Nicht-Parteivorsitzende die notwendige Autorität innerhalb der eigenen Partei.

Ihr starker Fokus auf sozialen Themen geht zu Lasten der Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik. Hier wird ihr mangelnde Kompetenz attestiert – gerade in Politikfeldern, in denen die Rolle der Regierungschefin in Litauen von entscheidender Bedeutung ist.

 

Koalitionsbildung, neue Sitzverhältnisse

Die Sozialdemokraten, die Morgenröte von Nemuas sowie die Fraktion der Bauern- und Grünenunion gemeinsam mit der Polnischen Wahlaktion (AWPL-ZChR) verfügen im Seimas künftig über 82 von 141 Mandaten. Damit haben sie eine Mehrheit, zumal für zentrale Abstimmungen 71 Stimmen ausreichen.

Dennoch gilt dieses Bündnis als fragil: Die Bauern stellen eine eher rechte politische Kraft dar, während die Sozialdemokraten klar links positioniert sind. Hinzu kommt, dass die Morgenröte eine populistische Partei ist. Eine programmatische Grundlage für eine stabile Zusammenarbeit dürfte daher schwer zu finden sein. Auch unterstützen nicht alle Mitglieder der Bauernpartei den Eintritt in die Koalition. Zudem gelang es ihnen nicht, zentrale politische Ziele im Koalitionsvertrag durchzusetzen.

Das Amt des Seimas-Vorsitzenden, bislang von den Demokraten gehalten, soll an die Sozialdemokraten übergehen – konkret an den erfahrenen Parlamentarier Juozas Olekas.

Ab dem 26. August 2025 läuft eine Frist von 15 Tagen, innerhalb derer ein neues Regierungsprogramm und die Kabinettsliste vorgelegt werden müssen. Am späten Nachmittag des 26. Augusts 2025 wurde bereits bestätigt, dass die Ressorts für Außenpolitik und Verteidigung unverändert bleiben. Die Regierung erhält die Befugnis zum Handeln, wenn die Mehrheit, der an der Sitzung des Seimas teilnehmenden Mitglieder ihrem Programm zustimmt.

 

Fazit

Die aktuelle Krise ist in erster Linie das Resultat von Integritätsfragen, innerem Druck innerhalb der Koalition und wachsender gesellschaftlicher Unzufriedenheit – weniger das Ergebnis unüberbrückbarer programmatischer Gegensätze.

Der Sturz von Paluckas verdeutlichte, dass selbst eine stabile parlamentarische Mehrheit nicht vor dem Zerfall geschützt ist, wenn Transparenzkrisen und die Wahl ungeeigneter Partner die politische Glaubwürdigkeit untergraben.

Die neue Koalition wird in der litauischen Öffentlichkeit vielfach als ungeeignet und im Kontext der litauischen Politik teilweise sogar als eher russlandfreundlich wahrgenommen. Absehbar ist, dass ein erheblicher Teil der Regierungsenergie in die Abwehr medialer Kritik fließen wird.

In gesellschaftspolitischen Debatten, wie beispielsweise Familie, Partnerschaftsrecht und "Wertefragen", positioniert sich LVŽS deutlich rechts der Mitte. Bei Sozial- und Strukturpolitik identifiziert sie jedoch Schnittmengen mit der Linken. Diese Entwicklung erleichtert die Durchführung von Tauschgeschäften mit der LSDP, während sie gleichzeitig die Umsetzung liberaler Vorhaben erschwert. Die Kombination mit Abgeordneten der Morgenröte sowie der AWPL‑ZChR weist auf viele unterschiedliche, teils sehr kontroverse, Positionen hin. Inhaltlich fehlt der Koalition eine gemeinsame Basis; die beteiligten Kräfte werden vor allem durch das Streben nach Macht zusammengehalten. Damit ist ihre Grundlage fragil und wenig tragfähig. Die bislang unscheinbare neue Premierministerin wird neben thematischen Schwerpunkten, auch viel Zeit auf die Bildung einer arbeits- und konsensfähigen Regierung aufbringen müssen.

Dass der Staatspräsident hingegen seiner ursprünglichen, im Oktober letzten Jahres im Rahmen der Regierungsbildung, geäußerten Kritik derzeit relativ still ist, liegt maßgeblich daran, dass er die konservative Partei ungern in der Regierung sehen möchte. Wohl um keine Neuwahlen zu provozieren, die der generellen Stabilität Litauens schaden könnten. Dennoch darf ihm eine kritische Haltung unterstellt werden.

Am strategischen außen- und sicherheitspolitischen Kurs Litauens dürfte sich jedoch wenig ändern. Dies unterstreicht die Aussage von Laurynas Kasčiūnas, Parteivorsitzender der oppositionellen Christdemokraten (TS-LKD, EVP), dass seine Partei sicherheitspolitische Grundsatzentscheidungen, die die Sicherheit Litauens betreffen, mittragen werde. Das Land bleibt einer der konsequentesten Unterstützer der Ukraine und ist fest in EU und NATO eingebunden.

Positiv hervorzuheben ist, dass die Opposition gestärkt aus der Krise hervorgeht: Sie besteht künftig aus Konservativen, Liberalen und Demokraten. Sie werden die neue Regierung stark unter Druck setzen. Ob diese die ganze Legislaturperiode bis Oktober 2028 bestehen bleibt, ist unter den aktuellen Voraussetzungen zumindest fraglich.

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Kontakt Oliver Morwinsky
Oliver Morwinsky
Leiter des Auslandsbüros Baltische Staaten
oliver.morwinsky@kas.de +371 673 312 64

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