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Veranstaltungsberichte

„Zukunft der Erinnerung“

von Anna Lenz

Eine Berliner Konferenz der Konrad-Adenauer-Stiftung über die Literatur in der europäischen Bildungsgesellschaft

Während die deutsche Literatur im Osten Europas eine große Rolle spielt, im Westen hingegen an Bedeutung verliert, stehen die europäischen Germanisten vor der Aufgabe, ihr Fach und seine Aufgabe im 21. Jahrhun-dert neu zu überdenken. Mit dieser Zukunftsorientierung trafen sich 55 europäische Germanisten aus 15 Ländern gemeinsam mit Studierenden des Faches vom 12.-14. September auf Einladung der Konrad-Adenauer-Stiftung zu der Auftaktveranstaltung einer neuen Konferenzreihe in Berlin. Hans-Jörg Clement (Leiter Kultur der KAS) betonte eingangs den geistigen Impuls der deutschen Sprache und Kultur zur Identitätsfindung und die bildungspolitische Verpflichtung einer europäischen Germanistik.

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Europäische Erinnerungskultur

Am Anfang stand eine Klärung dessen, was „Erinnerung“ eigentlich ist und was ihre politisch-kulturelle Funktion ist. Lothar Bluhm (Koblenz) geht davon aus, dass der ubiquitäre Erinnerungsdiskurs, der in den letzten 10 bis 15 Jahren in Teilen der literarisch-kulturellen, der publizistischen, der bildungspolitischen und bildungswissenschaftlichen Öffentlichkeit zu beobachten ist, „Ausdruck einer gesellschaftlich-kulturellen Marginalisierung von Erinnerung“ sei. Die Literatur hingegen nehme sich der Aufgabe an, in Erinnerungen einzuführen und deren poetische, aber auch die ethische Dimension darzustellen. Es sei schwierig, zwischen „Bewältigen“, „Verarbeiten“ und „Bewerten“ der Vergangenheit zu unterscheiden.

Wie einseitig eine öffentlichkeitswirksame Erinnerung in der Gesellschaft sein kann, zeigt das Beispiel Italiens: Matteo Galli (Ferrara) vertritt hierzu die These, dass deutsche Filme in Italien nur interessierten, wenn sie die deutsche Geschichte und insbesondere die der Nazi-Zeit behandelten. Das heutige Deutschland sei eine große Leerstelle auf dem italienischen Filmmarkt, und selbst in der Literatur werde das „wirklich Deutsche“ in zeitgenössischen Werken von den Verlagsgesellschaften eher kaschiert als hervorgehoben. Statt einer „Bewältigung der Vergangenheit“ finde in dieser Hinsicht eine „Vergangenheitsunterhaltung“ statt. Die Gegenwart greife auf die Vergangenheit zu, statt sich ihrer selbst zu bedienen.

Dies könnte auch mit einem Misstrauen gegenüber der Gegenwart und den Personen in ihr zu tun haben. Jürgen Mittelstraß (Konstanz) erklärte in seinem Abendvortrag über „Bildung und Erinnerung. Über die sprachliche Verfasstheit kultureller Rationalitäten“: „Die moderne Welt ist eine, die dem ungeteilten, dem ganzen Ich misstraut. Und das, weil sie selbst eine geteilte Welt ist und durch sie an Macht gewinnt.“ Dabei erfülle die Bildung die Aufgabe, die Erinnerung an eine „wahre Welt“ wach zu halten, sie sei die Kultur als Lebensform. Der Appell an die Bildung wurde in Mittelstraß’ Ausführungen zum Appell an eine Aufklärung im kantischen Sinne. Mit der Rationalität als kulturellem Kern könne Wissenschaft Orientierungswissen stiften und ein konstituierendes Element in den Kulturen darstellen. Doch Rationalität sei immer sprachlich verfasst und deshalb mit der Wirklichkeit nicht konform. Deshalb müsse die wissenschaftliche Optik der Literatur erweitert werden, was auch bedeute, dass die Literatur wieder philosophischer werde: „Gewinnen kann dadurch auch die Bildung mit ihrer reflektierenden, erinnernden Wirkung.“

Zukunft der Wissens- und Bildungsgesellschaft

In ihrem Vortrag zur Zukunft der europäischen Bildungsgesellschaft berief sich Francoise Lartillot (Metz) auf Gustave Lanson, den Begründer der französischen Germanistik, der eine moderne, soziologisch geprägte Auffassung von Kultur und moralischen Überzeugungen vertrat, die mit seinen demokratisch-antiautoritären Bildungsüberzeugungen verbunden waren. Die Literatur komme immer dann als bevorzugtes Medium ins Spiel, wenn es um die Auffassung der Wissenschaft als Repräsentant des Geistes einer Nation gehe; keine nationale Literatur ließe sich ohne die Reflexion anderer Kulturen fortsetzen. In diesem Sinne offerierte Lartillot mit Lanson eine Zukunftsvision der Literatur, die mit ihrem kulturellen Anspruch auch eine Zukunft der Erinnerung allgemein stiften kann.

Doch auch wenn die Literatur eines der Medien der Wissensvermittlung ist, so ist es doch die digitale Welt, die die Weitergabe des Wissens in der Gegenwart zunehmend bestimmt. Dabei müsse beachtet werden, so Professor Rüdiger Görner (London), dass „das vermittelte, digitale Wissen nur aus Daten besteht, während das human transportierte Wissen immer eine Interpretation von Daten darstellt“. An dieser Stelle kommt die Bedeutung der Wissenstransformation ins Spiel: Wir selbst stehen in der Verantwortung, unsere Reaktion auf das vermittelte Wissen zu prüfen und zu analysieren, wie sich Wissen in uns selbst transformiert und was dabei herauskommt. Auch für die Zukunft kann angenommen werden, dass die Präsentation von Wissen und das Wissen selbst eng miteinander verbunden bleiben. Bei der Suche nach einer Antwort auf die Frage, wie sich das Medium zum Mediator verhält, müssen sich deshalb auch die Literaturwissenschaftler behaupten.

Zur Zukunft der Bildungsgesellschaft gehört vor allem das Individuum selbst. Vier Grundkonzepte aus dem 19. und 20. Jahrhundert definieren die Rolle von Bürger und Bildungsgesellschaft heute. Dazu gehören die Kunstreligion, das symbolische Kunstverständnis inklusive einer gewissen Auratisierung, die ästhetische Geselligkeit in Bezug auf eine Medialisierung sowie der ästhetische Realismus: dies seien, so Wolfgang Braungart (Bielefeld), sich wechselseitig korrigierende Prozesse, die aus der Aufklärung heraus entstanden sind. Die Literatur kann hierbei auch zur ästhetischen Komplexität erziehen.

Identität und Integration

Doch wie stellen sich europäische Identität und Integration von Minderheiten oder von Migrationsgesellschaften in der Literatur dar? Das Beispiel Migration zeigt, dass die Identitätssuche wie die Integrationsfrage das kulturelle Bild der Gegenwart prägen können. Am Beispiel Irlands zeigte Jürgen Barkhoff (Dublin), wie sich der Inselstaat im Umgang vor allem mit polnischen Einwanderern aus einem der ärmsten Länder Europas zu einem der reichsten der Welt entwickelt habe und wie so aus dem einstigen Auswanderungsland ein Einwanderungsland geworden sei. Nun aber sei eine Rezessionsphase eingetreten. „Mit den Verteilungskonflikten werden Identitäts- und Integrationsfragen neu diskutiert“.

Mit der zunehmenden Flexibilität nationaler Grenzen und den weltweiten Immigrationsströmungen stellt sich auch die Frage, ob die Welt kleiner oder größer geworden ist. Anke Bosse (Namur) antwortet dazu: „Im Digitalen ist die Welt kleiner geworden, weil sich alles in Sekunden auf den Bildschirm holen lässt, im Echten ist die Welt hingegen größer geworden, weil heute fast jeder Ort erreichbar ist“. In der Literaturproduktion spiegelt sich diese wechselseitige Bewegung etwa in der Hinwendung der Autoren zu lokal eng gefassten Handlungsräumen wider. Als Gegenbewegung zur Strömung der Globalisierung lässt sich eine Regionalisierung in der deutschen Literatur feststellen. Sie ist einerseits positiver Ausdruck einer „europäischen Selbstliterarisierung“ (Barbara Naumann, Zürich), andererseits Mittel zur Abgrenzung gegenüber der Umwelt, z.B. in der Dialektliteratur.

Zukunft der Germanistik in Europa

In einer letzten Sektion wurde die Zukunft der Germanistik in Europa diskutiert. Diese erscheint unsicher. Historisch gesehen war das Fach in den letzten 40 bis 50 Jahren immer Schwankungen ausgesetzt. Derzeit führt die Dominanz der englischen Publikationssprache in einigen nichtdeutschen Ländern zur Unterminierung der deutschen Sprache. Das Interesse an einer guten Deutschausbildung im Ausland entspricht somit auch den Interessen Deutschlands. Was das gemeinsame Anliegen und die Ziele betrifft, so gibt es – das war der Tenor vieler Konferenzteilnehmer – keinen Unterschied zwischen Inlands- und Auslandsgermanistik, wohl sind aber die Wege zu den Zielen verschieden. So sieht sich die Auslandsgermanistik eher dazu gezwungen, mit populärwissenschaftlichen Zugängen neue Interessenten zu locken. Der fatale Denkfehler ist, dass Englisch alleine als Fremdsprache genüge. Genau dies ist für viele Berufe nicht der Fall. Hier muss über die kulturelle Vermittlerrolle Deutschlands neu nachgedacht werden. Eine Informationsplattform aufzubauen, die über die Vielzahl der Berufsfelder der Germanisten informiert, wäre dabei wünschenswert.

Die Studierenden der Germanistik plädieren für ein aktuelles Deutschlandbild, dass im Germanistikstudium vermittelt werden soll, um das Deutschland von heute kennen zu lernen. Zudem müsse es gelingen, mehr talentierte Studenten für das Studium von deutscher Sprache und Literatur zu gewinnen. Auch bi- oder trilinguale Graduierten-Kollegs wie das deutsch-chinesische Kolleg in Göttingen seien wünschenswert. Man müsse die Germanistik allgemein mehr vernetzen und den Studenten mehr Mitarbeit im Fachbereich ermöglichen. Erwartungen an die Studenten müssten klarer formuliert werden und die Universität müsse sich viel mehr in die Gesellschaft einbringen. Dann kann die europäische Germanistik wirklich zur Zukunft der Erinnerung beitragen.

Anna Lenz,

Stipendiatin der Journalistischen Nachwuchsförderung der Konrad-Adenauer-Stiftung

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