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Länderberichte

Bosnien und Herzegowina, die EU und das Urteil „Sejdic-Finci“

Countdown für Verfassungsreform läuft

Bosnien und Herzegowinas EU-Integration stagniert. Das 2008 unterzeichnete Stabilitäts- und Assoziationsabkommen (SAA) ist bis heute nicht in Kraft. Einzige Ursache ist die immer noch ausstehende Implementierung des Urteils des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) im Fall Sejdic/Finci gegen Bosnien und Herzegowina vom 22. Dezember 2009. Darin werden diskriminierende Bestimmungen gegen Juden, Roma und Vertreter anderer nationaler Minderheiten in der Verfassung festgestellt. Das Land verstößt mit diesen Bestimmungen gegen die europäische Menschenrechtskonvention.

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Die Implementierung des Urteils „Sejdic-Finci“ steht unter einem ungünstigen Stern. Zu unterschiedlich sind die Vorstellungen der Parteien des Landes, welche Verfassungsänderungen das Urteil erfordert. Während die serbischen Politiker diese Änderungen auf ein Minimum beschränken wollen, drängen die bosniakischen Parteien auf tiefgreifende Reformen. Die Kroaten vertreten eine andere Haltung: Sie wollen das Urteil dazu nutzen, um ihren politischen Einfluss im Lande zu erhöhen.

Jeder Ansatz, der nicht alle Wünsche gleichermaßen erfüllt, hat kaum Aussicht auf Erfolg. Die Implementierung des Urteils folgt damit dem bekannten Muster der früheren Verfassungsreforminitiativen. Diese scheiterten an den Maximalforderungen der Politiker und dem fehlenden Wunsch nach Einigung. Doch neuerdings ist Bewegung in die Verhandlungen geraten. Seit Anfang des Jahres hat die EU eine aktivere Rolle in den Gesprächen eingenommen. Unter dem Stichwort des „Fascilitating“ führt sie Beratungen mit den Delegationen der verschiedenen Parteiblöcke, um einen gemeinsamen Entwurf für die Verfassungsänderungen zu vereinbaren.

Ob dies gelingt, ist unklar. Zwar sind Konturen eines Kompromisses erkennbar. In der Streitfrage nach den Wahlmodalitäten der Präsidiumsmitglieder fehlt weiterhin die Einigung zwischen den bosniakischen und kroatischen Parteien. Obwohl die EU davon ausgeht, dass die politischen Kräfte bis zum 11. April das Problem lösen, gilt dies nicht als sicher. Ursache ist die anhaltende Krise in der Föderation. Aufgrund der verfahrenen politischen Lage richten die dort führenden Parteien ihren Blick bereits auf die Wahlen im kommenden Jahr. Kompromisse sind in Zeiten des Wahlkampfes bekanntlich schwer zu erzielen. Scheitern die Parteien erneut, könnte das für Bosnien und Herzegowina schwere Folgen haben. Brüssel kündigte an, in einem solchen Fall die EU-Integration des Landes „einzufrieren“. Der EU-Kandidatenstatus würde für Bosnien und Herzegowina in weite Ferne rücken. Die Leidtragenden wären die Bürger des Landes.

Die ewige Reform

Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs geht auf die Klage von Jakob Finci, Vorsitzender der jüdischen Gemeinde von Bosnien und Herzegowina und Botschafter a.D. in der Schweiz, sowie Dervo Sejdic, dem Leiter einer in Bosnien und Herzegowina ansässigen Roma-Organisation, zurück. Beide werfen ihrem Land Diskriminierung vor. In anderen Worten: Weil Finci Jude ist und Sejdic ein Roma, dürfen sie nicht bei den Präsidentschaftswahlen kandidieren oder in die Volkskammer entsandt werden. Aus Sicht der europäischen Richter war die Sachlage klar. Bosnien und Herzegowina verstößt mit diesen Bestimmungen gegen die europäische Menschenrechtskonvention. Das Land muss diese aus der Verfassung und dem Wahlgesetz entfernen. Die Entscheidung des Gerichtshofs ist für Bosnien und Herzegowina bindend. Seit 2002 sitzt es im Europarat. Die Achtung der Konvention und die Befolgung der Rechtsprechung des EGMR gehören zu den obersten Pflichten der Mitgliedschaft.

Die Entscheidung des Gerichtshofs im Fall „Sejdic-Finci“ war keine Überraschung. Seit 2005 wies die „Venedig-Kommission“ auf die unzulässige Diskriminierung der sogenannten „Anderen“ in Bosnien und Herzegowina hin. Doch unternommen wurde nichts. Mit dem Urteilsspruch des EGMR hat sich die Ausgangslage verändert. Um Verfassungsreformen kommt das Land nicht mehr herum. Doch das ist leichter gesagt als getan. Seit Jahren ringt Bosnien und Herzegowina schon um solche Reformen. Das hat einen Grund: Die Verfassung, die im Daytoner Friedensvertrag unter Annex IV verankert ist, stellt keine gute Ausgangslage dar. Gianni Buquicchio, Präsident der „Venedig-Kommission“ sieht in der Disfunktionalität des Staates eines ihrer Hauptprobleme: „Power is decentralised to such an extent that effective governance becomes impossible and decision-making in the State institutions is paralysed by requirements for inter-ethnic consensus.“

Der Aufbau des Landes verdeutlicht den dezentralen Ansatz. So ist Bosnien und Herzegowina in zwei Entitäten geteilt: die Föderation von BuH mit ca. 2,3 Millionen Einwohnern, mit überwiegend Kroaten und Bosniaken, und die Republika Srpska (RS) mit 1,4 Millionen Einwohnern. Dort bilden die Serben die Mehrheit. Während die Föderation in zehn Kantone aufgeteilt ist, jedes davon mit einer eigenen Regierung und einem Parlament, fehlt diese Ebene in der RS. Darüber hinaus gibt es den Distrikt Brčko mit 75.000 Einwohnern, der bis vor Kurzem noch unter direkter Aufsicht der internationalen Gemeinschaft stand. Gleichzeitig besteht aber die Supervision über Bosnien und Herzegowina in Gestalt des Hohen Repräsentanten (HR) fort.

Die strukturelle Komplexität des Landes hat Auswirkungen auf verschiedene Bereiche. So z.B. auf die Rechtssprechung. Diese ist zersplittert und die Zuständigkeit der Justizinstitutionen sind aufgrund der vielen Ebenen oftmals unklar. Die „Venedig-Kommission“ sieht darin den Grund, warum die Bürger des Landes vor dem Gesetz nicht gleich sind: „The fragmentation of the judicial and prosecutorial system raises difficulties relating to legal certainty. Furthermore, as no tools for the harmonisation of the case law throughout the country exist, citizens living in different parts of the country may get a significantly different judgment for similar cases.“

Hinzu kommen die ethnischen Quota. Sie verfestigen die nationalen Konfliktlinien im politischen Entscheidungsprozess und sind ein zentrales Kriterium bei der Verteilung von Posten in den staatlichen Institutionen. Letzteres fördert Patronage und Korruption. Experten weisen auf die Gefahr hin, dass in instabilen Demokratien mit gespaltenen Gesellschaften konkordanzdemokratische Elemente wie Elitenpakte, (ethnische) Vetos und andere Gruppenrechte Ethnokratie, Klientelismus und Nepotismus erzeugen können. Im Korruptionsindex von Transparency International nahm Bosnien und Herzegowina 2012 Platz 72 von 179 ein.

Die jetzige Verfassungsstruktur erschwert zudem die EU-Integration des Landes. Buquicchio unterstreicht: „With the present arrangement, the country is not able to participate fully in the process of European integration. (...) Membership of the EU is far more demanding. It requires the State to have administrative capacities to carry out extremely complex negotiations.“ Für den Präsidenten der „Venedig-Kommission“ ist eine grundlegende Reform daher unausweichlich.

Trotz des überwältigenden Reformbedarfs waren die Versuche, die Verfassung zu ändern, bisher stets erfolglos geblieben. Diese Erfahrung musste die internationale Gemeinschaft in Bosnien und Herzegowina machen. Sie hatte sich mehrfach darum bemüht, einen Reformprozess anzukurbeln. Zuletzt mit ihrer Initiative in Butmir im Oktober 2009. Diese galt schon nach wenigen Verhandlungstagen als gescheitert. Das gleiche Schicksal ereilte auch die anderen Versuche. Das prominenteste Beispiel war das so genannte „April-Paket“ von 2006. Es umfasste die weitreichsten Reformen.

Hauptursache für die Misserfolge waren stets die Maximalforderungen der bosnisch-herzegowinischen Politiker und ihre geringe Kompromissbereitschaft. Die Forderungen lassen sich bündeln: Während die bosnisch-serbischen Kräfte ein konföderales Staatsgebilde anstreben, ziehen die bosniakischen Parteien einen Gesamtstaat vor, der über weitreichende Kompetenzen verfügt. Dazwischen befinden sich die Kroaten. Sie stehen einer strukturellen Verfassungsreform zwar aufgeschlossen gegenüber, allerdings nur wenn ihnen diese einen größeren politischen Einfluss verspricht.

Jeder Ansatz, der nicht alle Wünsche erfüllt, hat kaum Aussicht auf Erfolg. Doch eine solche Quadratur des Kreises erscheint so gut wie unmöglich. Das allein deshalb, weil die RS-Serben im Prinzip gar kein Interesse an Verfassungsänderungen haben. Sie sind mit der jetztigen Machtverteilung zufrieden, denn sie sichert ihrer Entität Autonomie. Milorad Dodik, Präsident der Republika Srpska, wird deshalb nicht müde, die Vorzüge der Dayton-Verfassung herauszustreichen.

Aber auch die Kroaten sind keine Hilfe, um die von Buquicchio angemahnte Funktionsfähigkeit des Staates zu verbessern. Denn für sie steht die Reform des Wahlgesetzes des Landes im Mittelpunkt. Das Gesetz lässt zu, dass auch Bosniaken für den kroatischen Präsidentschaftskandidaten stimmen können, was den beiden stärksten Parteien im kroatischen Spektrum, die Kroatische Demokratische Gemeinschaft BiH (HDZ BiH) und die Kroatische Demokratische Gemeinschaft 1990 (HDZ 1990), ein Dorn im Auge ist. Ein solches „Cross-Voting“ wollen die HDZs künftig ausschließen, um bei den Wahlen zum dreiköpfigen Präsidium die Siegeschancen ihres Kandidaten zu erhöhen.

Aber auch die bosniakischen Kräfte trugen zur Konsensbildung zu wenig bei. Ihr Beharren auf dem Ausbau der gesamtstaatlichen Institutionen traf bei den RS-Serben erwartungsgemäß auf kein Verständnis. Gleichzeitig zeigten sie kaum Bereitschaft auf die Bedenken der Kroaten einzugehen. Sie haben mit ihrer starren Haltung ebenso wie die anderen beiden Volksgruppen und Parteien zum Scheitern der Verfassungsreformen beigetragen.

Chancen für die Implementierung

Anders als bei den vorherigen Verfassungsreforminitiativen ist der internationale Druck auf Bosnien und Herzegowina diesmal hoch, die Reform nicht erneut ins Leere laufen zu lassen. Dafür gibt es einen Grund. Scheitern die Politiker, scheitert faktisch auch die EU-Integration des Landes. Dafür gibt es Anzeichen: Das 2008 unterzeichnete Stabilitäts- und Assoziationsabkommen (SAA) ist bis heute nicht in Kraft. Bislang gilt nur das sogenannte „Interimsabkommen über Handel- und handelsbezogene Fragen“. Das SAA liegt „auf Eis“, weil Verstöße gegen die Menschenrechtskonvention für die EU inakzeptabel sind. In anderen Worten: Ohne die Umsetzung des Urteils „Sejdic-Finci“ ist der Weg von Bosnien und Herzegowina zur EU-Mitgliedschaft verstellt. Damit das Land sieht, dass die EU es ernst meint, setzte sie ihm eine Frist. Der Leiter der EU-Delegation in BuH, Peter Sörensen, machte klar, dass die Verfassungsänderungen bis zum 11. April 2013 unter Dach und Fach sein müssen. Der Termin hat einen Grund. Die EU drängt Bosnien und Herzegowina, die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr im Einklang mit der Menschenrechtskonvention durchzuführen.

Ob dies gelingt, ist jedoch unklar. Zwar beteuern die Parteien des Landes, das Urteil fristgerecht umzusetzen. Doch wäre dies nicht die erste Frist, die sie verpassen. Die EU hatte dem Land schon früher eine Reihe von „Deadlines“ ausgesprochen. Diese liefen stets ohne greifbaren Erfolg aus. Die EU-Kommission kritisierte schon vor zwei Jahren: „The overall pace of reforms has been very limited. Respect for democratic principles and the right to equal treatment without discrimination, as embodied in the ECHR, remain essential requirements of the IA and of the SAA. The lack of a credible process for the harmonisation of the Constitution with the European Court of Human Rights' decision of December 2009 in the Sejdic-Finci case, remains an issue of serious concern.“

Zwar gab es auch Positives: Immerhin war es den Politikern aus Bosnien und Herzegowina gelungen, eine für die Implementierung des Urteils zuständige parlamentarische Kommission einzurichten. Doch wurde rasch deutlich, dass diese keinen Handlungsspielraum besaß, um einen parteiübergreifenden Vorschlag zu erarbeiten. Das Exklusivrecht dafür behielten die Vorsitzenden der führenden Parteien. Diese saßen nicht in der Kommission. Die eigentlichen Verhandlungen über die verfassungsrechtlichen Änderungen fanden damit außerhalb des Parlaments hinter verschlossen Türen statt. Gebracht hatte dies wenig, da nach wie vor politischer Wille für einen „echten“ Kompromiss fehlte.

Angesichts der auswegslosen Lage wuchs der Druck auf die EU, die Parteien aus Bosnien und Herzegowina aus der Blockade zu führen. Trotz des geringen Fortschritts würdigte der Europäische Rat die Bemühungen von Bosnien und Herzegowina. Er machte aber gleichzeitig klar, dass mehr Anstrengungen (credible efforts) notwendig seien, um die Rechtsprechung des EGMR zu befolgen. Doch Fortschritte bei der Implementierung des Urteils blieben trotz mehrfacher Ankündigung des Ministerratsvorsitzenden Vjekoslav Bevanda weiterhin aus. Erst im Sommer 2012 begann sich eine neue Dynamik zu entwickeln. Ursache war die veränderte Herangehensweise in Brüssel. Im Rahmen des sogenannten „High Level Dialogue“ mit Bosnien und Herzegowina vereinbarten die EU-Vertreter mit den Vorsitzenden der Parteien eine „Road Map“, bis wann die Verfassungsreformen vorliegen müssen. Allerdings blieben auch diesmal die Ergebnisse hinter den Erwartungen zurück. Anstelle des vereinbarten gemeinsamen Entwurfs legten die serbischen, kroatischen und bosniakischen Parteien nach Ablauf der Frist jeweils einen eigenen Vorschlag mit Verfassungsänderungen vor. Diese spiegeln die teils unversöhnlichen Grundpositionen wider, die schon aus den vorherigen Verfassungsreformdebatten bekannt sind.

Die serbische Position

Die serbischen RS-Politiker haben das Ziel, Verfassungsreformen auf ein Minimum zu beschränken. Dieser Vorsatz zieht sich wie ein roter Faden durch die Reformvorschläge. Hintergrund ist, dass die Serben mit der bisherigen Machtverteilung zufrieden sind. Sie möchten daher keine Eingriffe in die Verfassung, die diese Verteilung zu ihrem Ungunsten verändern könnte.

Konkret bedeutet dies, dass im Fall des Präsidiums die Zahl der Mitglieder mit drei unverändert bliebe (ein Mitglied aus der RS, zwei aus der Föderation). Nur die ethnischen Kriterien für die Präsidentschaftskandidaten sollten künftig entfallen. Mit einer solchen Regelung stünde einer Kandidatur eines Vertreters der „nicht-konstitutiven“ Völker“ (z.B. aus den Reihen der „Anderen“) nichts mehr entgegen. Die Serben waren zu diesem Zugeständnis bereit, da sie davon ausgehen, dass ein nicht-serbischer Kandidat in der RS keine Chance auf den Wahlsieg hat.

In anderen Bereichen wollen die serbischen RS-Vertreter keine Änderungen zulassen: Sie pochen darauf, ihr Präsidiumsmitglied weiterhin direkt zu wählen. Das Motiv ist klar. Ein von der Entitätsbevölkerung gewählter Präsident verfügt über mehr demokratische Legitimität als ein Kandidat, der aus dem Parlament stammt. Die Direktwahl untermauert den Anspruch der RS-Vertreter auf die „Quasi-Eigenstaatlichkeit“ ihrer Entität.

Allerdings räumen die Serben den Bosniaken und Kroaten aus der Föderation die Möglichkeit ein, ihre beiden Präsidiumsmitglieder im Parlament zu wählen, falls es dort für das „serbische Modell“ keine Mehrheit gibt. Diese Großzügigkeit ist nicht zufällig: Die RS-Serben bevorzugen sogenannte „asymmetrische Lösungen“, um so ihre Entität von der Föderation und dem Gesamtstaat institutionell abzugrenzen.

Auch die Aufgaben der Volkskammer blieben nach der serbischen „Minimallogik“ von Reformen weitgehend unberührt. Die Delegierten kämen nach wie vor aus den Entitätsparlamenten. Ihre Zahl würde von 15 (fünf Bosniaken, fünf Kroaten, fünf Serben) auf lediglich 18 Vertreter sich erhöhen sowie Vertreter der Gruppe der „Anderen“ einschließen. Insgesamt kämen sechs Delegierte aus der RS (fünf Serben und ein Vertreter der „Anderen“) sowie 12 aus der Föderation (fünf Kroaten, fünf Bosniaken und zwei aus den Reihen der „Anderen“).

Die bosniakische Position

Im Unterschied zu den Serben drängen die bosniakischen Parteien auf tiefgreifende Verfassungsänderungen. Dies betrifft vor allem die Volkskammer. Sie fordern, die Zahl der Delegierten von 15 auf 21 zu erhöhen. Davon kämen zwei Drittel aus der Föderation (fünf Kroaten, fünf Bosniaken, zwei Serben und zwei Vertreter der „Anderen“). Aus der RS käme ein Drittel der Delegierten, in anderen Worten: Drei Serben, ein Bosniake, ein Kroate und ein Vertreter der „Anderen“. Im Unterschied zur serbischen Position wollen die Bosniaken die Zahl der Delegierten nicht nur erhöhen, sondern auch die Gruppe heterogener zusammensetzen. Aus der RS sollten demnach neben Serben und einem Vertreter der „Anderen“ neuerdings Bosniaken und Kroaten in die Volkskammer entsandt werden. Umgekehrt kämen aus der Föderation künftig Serben und nicht wie bisher nur kroatische und bosniakische Delegierte.

Der Wunsch nach mehr Heterogenität kommt nicht von ungefähr. Die Dominanz der Serben in der RS ist den Bosniaken ein Dorn im Auge. Ihr Vorschlag verfolgt das Ziel, diese Vorherrschaft durch die Entsendung nicht-serbischer RS-Delegierter zu schwächen. Das vermuten auch die RS-Serben. Es wundert nicht, dass dieser Vorschlag bei ihnen daher keine Zustimmung findet.

Geringe Chancen auf Realisierung hat auch der bosniakische Vorschlag zur Reform der Präsidentschaft. Auch hier ist der Widerstand der Serben vorprogrammiert. Zwar stimmen Bosniaken und Serben darin überein, die ethnischen Kriterien bei den Präsidentschaftskandidaten zu streichen. Allerdings schlagen die Bosniaken vor, das Präsidium künftig im Parlament des Landes zu wählen. Dies versetzt die RS-Serben in Alarmbereitschaft: Sie fürchten dadurch die Stärkung des Gesamtstaates zu Lasten der Entitäten.

Die kroatische Position

Die Kroaten plädieren für weitreichende Verfassungsänderungen. Allerdings nur, wenn diese ihnen größeren politischen Einfluss einräumen. Die Umsetzung des Urteils „Sejdic-Finci“ bietet dazu einen geeigneten Anlass, auch wenn das Urteil mit der Situation des kroatischen Volkes in Bosnien und Herzegowina nichts zu tun hat. Die Kroaten fürchten jedoch, dass angesichts des serbischen Widerstands gegen Verfassungsreformen dies die letzte Chance sein könnte, um die von ihnen empfundene politische und rechtliche Benachteiligung des kroatischen Volkes gegenüber den anderen beiden Gruppen zu lindern.

Der Wunsch nach mehr Macht ist somit das Leitmotiv der kroatischen Reformvorschläge. Konkret heißt dies: Für die Volkskammer schwebt ihnen vor, die Gesamtzahl der Delegierten auf 24 zu erhöhen. Davon sollen zwei Drittel aus der Föderation (sechs Kroaten, sechs Bosniaken, zwei Serben und zwei Vertreter aus der Gruppe der Anderen) und ein Drittel aus der RS (fünf Serben, ein Kroaten, ein Bosniake und ein Vertreter der „Anderen“) stammen. Nach diesem Vorschlag wären sieben Kroaten, sieben Bosniaken, sieben Serben sowie drei Vertreter der „Anderen“ dort vertreten. Ähnlich wie die Bosniaken drängen die Kroaten darauf, die Delegiertengruppen aus den Entitäten heterogener zusammenzusetzen. Das Motiv liegt auf der Hand: Gelänge es, mehr Kroaten in die Volkskammer zu entsenden, würde dies ihre Machtposition stärken. Genau aus diesem Grund lehnen die RS-Serben diesen Vorschlag ab.

Geringe Erfolgsaussichten haben auch die kroatischen Vorschläge für die Wahlmodalitäten im Präsidium. Ähnlich wie die Bosniaken fordern die Kroaten, die Mitglieder im Parlament zu wählen. Der kroatische Vorschlag geht allerdings weiter, denn gleichzeitig sollen auch die Zuständigkeiten der Volkskammer für diese Wahl erweitert werden. Die Stärkung dieser Kammer ist für die kroatischen HDZ-Parteien wichtig. Sie verfügen hier über die Mehrheit der Delegierten und könnten auf diese Weise den Sieg „ihres“ Präsidiumskandidaten durchsetzen.

Die Sozialdemokraten

Die einzige relevante Partei, die keinen eigenen Vorschlag einreichte, war die Sozialdemokratische Partei (SDP). Obwohl die SDP ähnliche Vorstellungen zur Verfassungsreform wie die „Partei der Demokratischen Aktion“ (SDA) vertritt, schloss sie sich dem bosniakischen Vorschlag vom August, der unter SDA-Federführung entstanden war, nicht an. Auslöser war das zerrüttete Verhältnis zwischen den beiden Vorsitzenden der SDA und SDP, Sulejman Tihic und Zlatko Lagumdzija. Tihic nimmt dem SDP-Parteichef übel, dass dieser letztes Jahr die Regierungskoalition mit der SDA auflöste. Lagumdzija setzte Tihic vor die Tür, nachdem der SDA-Chef gegen den Staatshaushalt gestimmt hatte. Um Tihics Partei in der Koalition zu ersetzen, gewann Lagumdzija die beiden kroatischen HDZ-Parteien und die bosniakische Partei des Medienmoguls und Sicherheitsministers Fahrudin Radoncic, die Partei für eine bessere Zukunft von BiH, (Föderationsebene) sowie auf Gesamtstaatsebene Milorad Dodiks „Allianz der Unabhängigen Sozialdemokraten“ (SNSD) als neue Verbündete hinzu. Doch Lagumdzijas Manöver scheiterte auf halbem Weg. Zwar gelang es dem SDP-Chef, die SDA aus der Koalition im Gesamtstaat zu verdrängen, in der Föderation blockierte Tihics Partei jedoch bisher sämtliche Versuche, eine neue SDP-geführte Regierungskoalition ins Amt zu bringen. Da aus der Patt-Situation kein Ausweg in Sicht scheint, richten die beiden Vorsitzenden Tihic und Lagumdzija ihren Blick bereits auf die Wahlen im kommenden Jahr, wenn die Karten wieder neu gemischt werden. Die SDP ist beim Kampf um die bosniakischen Wählerstimmen derzeit allerdings im Nachteil. Sie hat viel an Wählergunst durch die andauernde Regierungskrise in der Föderation verloren. Die SDP lässt ihre Vorstellungen über die Implementierung des „Sejdic-Finci“-Urteils daher offen, um die Auswahl an potentiellen Verbündeten für künftige Koalitionen möglichst breit zu halten. Nur in einem Punkt haben sich die Sozialdemokraten festgelegt. Die Verfassungsänderungen dürfen nicht „asymmetrisch“ sein. Im Klartext: Für die Föderation und die Republika Srpska müssen die gleichen Änderungen gelten. Dies ist auch die Position, die die SDA vertritt.

Kompromiss in Sicht?

Vor diesem Hintergrund ist das Risiko hoch, dass sich das Szenario der vergangenen gescheiterten Reformversuche fortsetzt und die Implementierung des Urteils „Sejdic-Finci“ erneut ins Leere läuft. Zu unterschiedlich erscheinen die Vorstellungen der Parteien des Landes, welche Verfassungsänderungen das Urteil erfordert. Hinzu kommt, dass nicht nur die Kroaten, sondern auch Bosniaken und Serben die Implementierung zur Verwirklichung anderer Ideen nutzen, die mit der Bekämpfung der Diskriminierung der „Anderen“ wenig zu tun haben.

Die serbischen RS-Parteien verfügen im Machtpoker über die komfortabelste Lage. Dies hat zwei Gründe: Erstens, ungeachtet der parteipolitischen Couleur besteht zwischen den serbischen Parteien ein Konsens über die Implementierung des Urteils. Demnach gilt es, keine Änderungen zuzulassen, die die Autonomie der RS untergraben. Da zweitens die Verfassungsreformen das gesamtstaatliche Parlament verabschiedet und die RS-Vertreter sich dort durch das so genannte „Entitätsveto“ gegen unliebsame Entscheidungen schützen, ist eine Einigung ohne sie unmöglich.

Die aktuelle Entwicklung bestätigt dies. Unter dem Stichwort des „Fascilitating“ führt die EU seit Jahresbeginn Beratungen mit den Parteiblöcken. Diese machten Konturen eines Kompromisses sichtbar, der sich an den serbischen Vorschlägen orientiert: So soll die Volkskammer lediglich um Delegierte aus der Gruppe der „Anderen“ erweitert werden. Auch die Präsidentschaftswahlen sollen weiterhin direkt stattfinden. Um dem Urteil zu genügen, werden die ethnischen Kriterien bei den Präsidiumskandidaten entfernt.

Den serbischen Parteien ist es damit gelungen, sich gegen die beiden anderen Gruppen durchzusetzen. Mehr noch: Die RS-Vertreter haben den Ball ins Feld der Föderation zurückgespielt. Dort liegt der entscheidende Knackpunkt zur Reform der Präsidentschaft. Es ist klar, dass die Kroaten Direktwahlen nur akzeptieren, wenn sie den Wahlausgang des kroatischen Präsidiumsmitglieds zu ihren Gunsten beeinflussen können. Mehrere Varianten stehen zur Debatte. Eine davon ist die Schaffung zweier fiktiver Wahleinheiten in der Föderation. Aus diesen Einheiten sollen das bosniakische und das kroatische Präsidiumsmitglied hervorgehen, auch wenn die ethnischen Kriterien für die Kandidaten künftig wegfallen. Die Überlegung lautet: In der einen Einheit stellen zusammengenommen die bosniakischen Wähler die Mehrheit, in der anderen Einheit gibt es eine kroatische Mehrheitsbevölkerung.

Doch diese Lösung gefällt den bosniakischen Parteien nicht. Sie fürchten dadurch die Schaffung einer „dritten Entität“ mit einer dominierenden kroatischen Bevölkerung, die wie die RS-Serben gegen den Gesamtstaat aufbegehrt.

Auch die Idee, die Stimmen in einer Form „degressiver Proportionalität“ auf die beiden Kandidaten zu verteilen, oder im Rahmen eines Mehrheits-Proporzsystems, das einen „Bonus“ für den jeweiligen Wahlsieger vorsieht, ist strittig. Das Ziel einer solchen Proportionalität ist es, den Nachteil der Kandidaten, die aus den kroatischen Parteien stammen, gegenüber den bosniakischen Vertretern aufzuwiegen. Denn das kroatische Wahlvolk ist den Bosniaken zahlenmäßig unterlegen. Allerdings widerspricht das Prinzip der degressiven Proportionalität der demokratischen Basisregel, nach der jede Wählerstimme das gleiche Gewicht haben soll. Genau dieses Argument führt die SDA ins Feld, um die Stimmengewichtung als „Diskriminierung von Bosniaken“ abzulehnen. Tihic ließ aus diesem Grund die Gespräche in Brüssel am 22. März platzen. Doch seine Frontalopposition hat weniger mit der Angst vor den HDZ-Kroaten zu tun. Sie dient ihm vielmehr als Projektionsfläche für den Wettkampf um die bosniakischen Wählerstimmen. Die SDA möchte sich zur „bosniakischen Schutzmacht“ stilisieren, um sich so von den Konkurrenten abzusetzen. Denn SDP und die Radoncic-Partei haben bereits erkennen lassen, für einen Kompromiss mit den HDZs offen zu sein.

Stichtag 11. April

Zwar geht die EU davon aus, den Streit zwischen den Parteien aus der Föderation bis zum 11. April zu lösen, ein Ende scheint aber vorerst nicht Sicht. Dragan Covic, Vorsitzender der HDZ, machte deutlich, dass er unter keinen Umständen von den „Brüsseler Vereinbarungen“ abrücken werde. Demzufolge sollen die beiden Präsidentschaftsmitglieder aus direkten Wahlen innerhalb der bestehenden 10 Kantone in der Föderation hervorgehen. Covic empfiehlt, die kroatischen Stimmen aus den Kantonen mit kroatischer Mehrheitsbevölkerung zusammenzutragen, in der zweiten Wahleinheit die bosniakischen Stimmen zu bündeln. In beiden Einheiten werde jeweils der Kandidat mit den meisten Stimmen den Sieg davon tragen. Covic ist davon überzeugt, dass diese Lösung den Sieg des HDZ-Kandidaten in der kroatischen Wahleinheit garantieren kann.

Auch wenn der SDA diese Lösung nicht gefällt, sie wird um einen Kompromiss mit den HDZs nicht herum kommen. Zwar dominieren die Bosniaken politisch und in Bevölkerungszahlen die Föderation, doch die Kroaten sind in den staatlichen Institutionen stark vertreten. Gehen die HDZ-Kroaten beim Urteil „Sejdic-Finci“ leer aus, ist eine Radikalisierung der kroatischen Parteien nicht ausgeschlossen. Dies könnte die Dauerkrise in der Föderation weiter vertiefen. Doch das zerrüttete Verhältnis zwischen SDA einerseits und SDP sowie SBBBiH andererseits erschwert die Konsensbildung. Die Parteien stehen aufgrund der verfahrenen Lage schon mit einem Bein im Wahlkampf. Kompromisse sind in solchen Zeiten bekanntlich schwer zu erzielen.

Damit fällt den RS-Serben erneut die Rolle des „lachenden Dritten“ im Streit um die Verfassungsreformen zu. Vor allem Milorad Dodik freut sich über die „Selbstdemontage“ der Parteien in der Föderation. Die dortige Krise spielt ihm die Hände. Sie liefert ihm Argumente für seine These, dass der Staat Bosnien und Herzegowina nicht überlebensfähig sei. Gleichzeitig liefert der Streit ihm Zündstoff für den Wahlkampf. Denn Dodik steht in seiner Entität unter Druck. Das schlechte Abschneiden bei den Lokalwahlen könnten die Vorboten eines bevorstehenden Wahldebakels seiner Partei im kommenden Jahr sein. Die wirtschaftliche Lage in der RS ist wie im gesamten Land düster und die Oppositionsparteien haben sich vereint, um Dodik aus dem Amt zu drängen. Der Dauerstreit in der Föderation kommt dem RS-Präsidenten deshalb wie gerufen. Der „Kampf um die RS“ und der ramponierte Ruf einer dauerblockierten Föderation könnten ihm dabei helfen, seine Wähler mittels nationalistischer Rhetorik erneut hinter sich zu scharen.

Doch dieses Szenario böte für die Serben kein gutes Ende: Denn scheitert der Kompromiss in der Föderation, hätte dies auch für die RS weitreichende Folgen. Die EU ließ über ihre Delegation in Bosnien und Herzegowina verkünden: „Falls die einheimischen Politiker keine Lösung finden, wird die EU-Integration von Bosnien und Herzegowina eingefroren.“ Was das bedeutet erklärt die Direktorin der Abteilung für die Europäische Integration beim Ministerrat des Landes, Nevenka Savic: „Solange Bosnien und Herzegowina die Bedingungen für den EU-Integrationsprozess nicht erfüllt, hat ein Antrag für die EU-Mitgliedschaft keine Aussicht auf Erfolg. Ohne den EU-Kandidatenstatus können wir nur drei von fünf EU-Finanzinstrumenten der Vorbeitrittshilfen nutzen. Auch sind in Verhandlungen über den möglichen Beginn der Beitrittsgespräche ausgeschlossen.“ Diese Sicht teilt auch das Europäische Parlament. In seiner jüngsten Resolution ruft es die politischen Verantwortlichen in Bosnien und Herzegowina erneut zum Handeln auf. Die EU-Parlamentarier fordern strukturelle Verfassungsreformen, die das Land zu einem funktionsfähigen Staat machen.“ Am 11. April werden wir wissen, welches Ziel in Bosnien und Herzegowina obsiegt: Stillstand oder der Weg in die EU.

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10. Oktober 2012
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