Asset-Herausgeber

Kurt Biedenkopf veröffentlicht seine Tagebücher 1989 bis 1994

Kurt Biedenkopf: Von Bonn nach Dresden. Aus meinem Tagebuch Juni 1989 bis November 1990, Siedler Verlag, München 2015, 432 Seiten, 29,99 Euro. Kurt Biedenkopf: Ein neues Land entsteht. Aus meinem Tagebuch November 1990 bis August 1992, Siedler Verlag, München 2015, 528 Seiten, 29,99 Euro. Kurt Biedenkopf: Ringen um die innere Einheit. Aus meinem Tagebuch August 1992 bis September 1994, Siedler Verlag, München 2015, 528 Seiten, 29,99 Euro.

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Tagebücher von Spitzenpolitikern sind selten, zumal sehr umfangreiche und sich über lange Zeiträume erstreckende. Schon deshalb reagieren Historiker, aber auch das politisch interessierte Publikum besonders neugierig. Natürlich ist das bei zeitgenössischen Politikern kaum anders: Mithilfe des Registers können sie leicht feststellen, wie schmeichelhaft oder kritisch sich der Verfasser über sie äußert – Kurt Biedenkopf tut es überwiegend kritisch. Er ist ein Intellektueller unter den Politikern, tummelt sich indes ebenso munter im Haifischbecken der Politik, mit kräftigen Urteilen spart der Verfasser auch in seinen Tagebüchern nicht. Und mögen sie häufig auch unzutreffend sein, eine Quelle sind solche Subjektivismen allemal.

Die Geschichtswissenschaft benötigt solche autobiografischen Quellen, muss sie allerdings mit quellenkritischer Sorgfalt auswerten, wozu nicht allein der ständige Rekurs auf weitere Dokumente gehört, sondern im optimalen Fall die Überprüfung an der Urfassung. Das ist aber oft nicht möglich, zumindest nicht zum Zeitpunkt des Erscheinens, weil Bearbeitungen, Kürzungen, spätere Ergänzungen nur in sogenannten kritischen Ausgaben nachvollziehbar sind. Eine Veröffentlichung der Urschrift ist in diesem Fall allein schon deshalb ausgeschlossen, weil das Tagebuch von Kurt Biedenkopf einen riesigen Umfang aufweist, bis heute etwa 12.000 Seiten: Soweit bekannt, existiert von keinem zweiten bundesrepublikanischen Spitzenpolitiker ein vergleichbar umfangreiches Tagebuch.

Handelt es sich nur um Tagebucheintragungen? Eher um eine Mischform, finden sich doch neben Eintragungen an einzelnen Tagen auch Redeauszüge, Berichte über Reden anderer Politiker, Interviews, aber auch davon ausgehende Analysen, Reflexionen, Bewertungen. Das führt zu einer gewissen Unübersichtlichkeit, ist aber bei dieser Form unvermeidbar und macht durchaus den besonderen Reiz aus, weil es sich über weite Strecken um einen Kommentar zur zeitgenössischen Entwicklung aus der Perspektive des Verfassers handelt. Allerdings ist die Orientierung und Zuordnung einzelner Passagen oft schwierig. Wie bei allen Autoren, die ihr eigenes Wirken im Spannungsfeld von Aktion und Reaktion, von Mitspielern, Gegenspielern und Konkurrenten darstellen, geht es nicht zuletzt um die eigene Leistung. Der sachliche Informationswert bleibt gelegentlich hinter den Aussagen zur politischen Selbsteinschätzung des sächsischen Ministerpräsidenten zurück.

 

Seiteneinsteiger und Querdenker

Die hier vorgelegten Bände erstrecken sich auf die Zeit vom Juni 1989 bis zum September 1994, also eine Epoche weltgeschichtlicher Veränderung und unglaublicher Dynamik. In ihr vollzogen sich der Zusammenbruch der kommunistischen Diktaturen einschließlich der DDR, das Ende der Sowjetunion und des Kalten Krieges, die Wiedervereinigung Deutschlands und die Neuordnung Europas sowie entscheidende Schritte zur europäischen Integration. Von zentraler Bedeutung in Biedenkopfs Tagebuch ist die innerdeutsche Entwicklung, vor allem der Neuaufbau rechtsstaatlicher, politischer, wirtschaftlicher und kultureller Strukturen in den neuen Bundesländern seit der Vereinigung 1990, an dem Biedenkopf als Ministerpräsident des Freistaates Sachsen 1990 bis 2002 maßgeblich beteiligt war.

War eine solch rasante neue Karriere von Biedenkopf zu erwarten, wie kam es dazu, dass er als Sechzigjähriger das erste Mal ein solch hohes staatliches Amt, noch dazu außerhalb seines früheren Wirkungskreises, wahrnahm? Zwar galt das auch für andere Regierungschefs in den neuen Bundesländern, da, wie Konrad Adenauer es nach Gründung der (alten) Bundesrepublik ausgedrückt hatte, alles neu gemacht werden musste. In fundamentalen Umbrüchen wie 1989/90 werden die Karten neu gemischt, es gibt neue Chancen, neue Karrieren. Das galt übrigens nicht allein für die Politik; an den Universitäten oder in der Wirtschaft verhielt es sich ähnlich. Und doch ist die politische Laufbahn Biedenkopfs vor und nach 1989 ein besonderer Fall.

Als „Seiteneinsteiger“ kam der brillante Bochumer Ordinarius für Bürgerliches Recht, Handels-, Wirtschafts- und Arbeitsrecht (1964 bis 1970), zeitweilige dortige Universitätsrektor (1967 bis 1969), Geschäftsführer der Henkel GmbH in Düsseldorf (1970 bis 1973) in die Politik. Der damalige Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz und neugewählte Bundesvorsitzende der CDU, Helmut Kohl – wie Biedenkopf 1930 in Ludwigshafen geboren –, setzte ihn als Generalsekretär ein. Kohls Ziel war es, aus dem „Kanzlerwahlverein“ CDU, der in der Zeit seines Vorgängers Rainer Barzel vor allem über die Bundestagsfraktion gesteuert wurde, eine organisatorisch und programmatisch starke Mitgliederpartei zu formen. Dieses Ziel erreichte Kohl mit Unterstützung des bis 1977 als Generalsekretär amtierenden tatkräftigen Politstrategen Biedenkopf und dessen Nachfolgers Heiner Geißler. Biedenkopf erwies sich als politischer Denker, aber auch als Querdenker, als Autor scharfsinniger Analysen, insbesondere zur Sozial- und Wirtschaftspolitik und zur Tarifautonomie, der schwer einzuordnen war, aber trotz oder wegen vieler überparteilicher Ansätze erheblich dazu beitrug, der CDU ein neues programmatisches Profil zu geben.

 

Starker Ehrgeiz, schwache Menschenkenntnis

Diese enorme Leistung bestärkte Biedenkopfs politischen Ehrgeiz und sein ausgeprägtes Selbstwertgefühl, was bei ihm wie auch seinem Nachfolger Geißler zu der Fehleinschätzung führte, als Generalsekretär auch gegen den Parteivorsitzenden, der beide gerufen hatte, agieren zu können. Zwar tragen Generalsekretäre oft den Marschallstab im Tornister, doch nur selten in der Geschichte der Bundesrepublik kam es von dieser Position aus zur Übernahme des Parteivorsitzes, zum Beispiel, als Guido Westerwelle den FDP-Vorsitzenden Wolfgang Gerhardt verdrängte. Bei einem starken Parteivorsitzenden, wie es Helmut Kohl zweifellos war, ist die Intention eines solchen Wechsels nahezu aussichtslos. Geißler und Biedenkopf unterschätzten Helmut Kohl, was für die, die ihn eigentlich kennen mussten, kein Ausweis guter Menschenkenntnis war.

Diese Vorgeschichte ist deshalb von Belang, weil das schwierige Verhältnis Biedenkopfs zu Kohl sein Tagebuch über weite Strecken prägt. Sie wirkte sich auch auf Biedenkopfs zweiten Start in die Politik aus, der – anders als seine Zeit als Generalsekretär – ein Misserfolg wurde. Er unterlag in Nordrhein-Westfalen als CDU-Kandidat für das Ministerpräsidentenamt 1980 dem SPD-Spitzenkandidaten Johannes Rau und 1987 dem innerparteilichen Gegenkandidaten Norbert Blüm, über den sich im Tagebuch viele kritische Bemerkungen finden. Wenngleich Biedenkopf für die Fusion der beiden Landesverbände Rheinland und Westfalen entscheidende Verdienste besaß, wurden seine Misserfolge doch vorwiegend auf seine eigenen Fehler zurückgeführt und nicht allein – wie Biedenkopf selbst es sieht – auf die innerparteiliche Gegnerschaft des Parteivorsitzenden und Bundeskanzlers Kohl. Frühere Ressentiments, Verletzungen, Eitelkeiten sind im Tagebuch leicht als Spätwirkungen der Entwicklungen in den 1970erund 1980erJahren erkennbar.

 

Der Überzeugungssachse

Dann aber ereignete sich der fundamentale Umbruch 1989/90: Jetzt bot sich urplötzlich die große Chance zu einer gouvernementalen Karriere. Nun machte Biedenkopf alles richtig: Noch während des unsicheren Übergangs entschied sich der Sechzigjährige ohne Wenn und Aber für eine Gastprofessur an der Universität Leipzig, knüpfte zahlreiche Kontakte, sah sich sogleich als Sachwalter der DDR-Bevölkerung gegen die von ihm als arrogant eingestufte Bundesregierung, besaß aber als Vorstandsmitglied der CDU, als Bundestagsabgeordneter und öffentlich vernehmbare Stimme Gewicht in der westdeutschen Politik – wenngleich vielleicht nicht in dem Ausmaß, welches er sich selbst zumaß. Das Angebot einer erneuten Bundestagskandidatur als Direktkandidat im Wahlkreis Bonn nahm er nicht an, wie er im Tagebuch schildert, und riskierte damit das Ausscheiden aus der Politik. Der Lohn kam schneller als erwartet. Sein Engagement in Leipzig, wo der hochkompetente Biedenkopf sofort zu einem gefragten Berater, insbesondere in Fragen der Marktwirtschaft, wurde, der weit über die Universität und die Stadt hinauswirkte, trug ihm große Sympathien ein.

Er ließ eine erstaunliche Sensibilität für Probleme des sächsischen Selbstwertgefühls erkennen, der Pfälzer wurde Überzeugungssachse. Die dortige CDU nominierte ihn als Spitzenkandidaten für die Landtagswahl und, anders als zehn Jahre zuvor in NRW, erwies er sich als hervorragender Wahlkämpfer. Er errang 1990 für die CDU die absolute Mehrheit in Sachsen, die er zweimal, 1994 und 1999, verteidigte. Nun konnte er endlich als Regierungschef gestalten und wurde trotz der extrem komplizierten und schwierigen Ausgangslage nach dem Zusammenbruch der DDR und den Herausforderungen der „inneren Wiedervereinigung“ einer der herausragenden Ministerpräsidenten. Der Aufbau Ost verdankt ihm viel. Seine erfolgreiche Politik und zweifelsfreie Kompetenz nicht allein in sächsischen Angelegenheiten, sondern ebenso über den Bundesrat im Bund, trugen ihm große Popularität ein, die er sichtbar genoss.

 

Weitsichtiger Stratege

In den beiden Bänden des Tagebuchs, die die Jahre 1990 bis 1994 behandeln, sind die wertvollsten Passagen solche, die die Veränderungen der bundesdeutschen Politik nach der Wiedervereinigung thematisieren, darunter Bund-Länder-Probleme wie Neugliederung und Länderfinanzausgleich, wo es bald zu gemeinsamen Überlegungen mit dem Bayerischen Innenminister und späteren Ministerpräsidenten Edmund Stoiber (seit 1993) kam. Pläne und Strategien für gemeinsame Initiativen mit anderen Bundesländern, sei es mit Bayern oder mit Thüringen, wo Bernhard Vogel seit 1992 genauso erfolgreich und anerkannt regierte, werden überzeugend geschildert. Viele aufschlussreiche Gespräche werden referiert, immer wieder scharfsinnige Analysen eingestreut, die Biedenkopf einmal mehr als weitsichtigen strategischen Kopf zeigen. Daneben aber kommt man durch zahlreiche Detailinformationen auf seine Kosten, auch über politische Probleme, zu denen es noch an veröffentlichten Quellen fehlt.

Auch im ersten Band über die aufwühlend spannenden Monate 1989/90 fehlen solche substanziellen Reflexionen nicht, etwa wenn Biedenkopf darüber nachdenkt, in welch spezifischer Weise und mit welch fundamentaler Wirkung die deutsche Politik durch die Sozialpolitik geprägt wird. Zu den von Biedenkopf immer wieder mit überraschenden, jedenfalls grundlegenden Einsichten dargestellten Problemen gehören der ökonomische, soziale und demografische Wandel: Hier ist er in seinem Element, hier kann er brillieren. Vieles ist bis heute aktuell und bedenkenswert.

Im ersten Band, dessen größerer Teil schon einmal veröffentlicht war, werden naturgemäß vor allem Themen der Wiedervereinigung behandelt. Zu diesen Fragen existieren inzwischen grundlegende Quellenwerke, so die Akten aus dem Bundeskanzleramt 1989/90, die Berichte zur Lage, die Helmut Kohl im Parteivorstand der CDU gab, die Edition „Die Einheit“ zum „Zwei-plus-Vier-Prozess“ aus den Akten des Auswärtigen Amtes beziehungsweise des DDR-Außenministeriums, französische, britische, amerikanische und russische Dokumentationen sowie zahlreiche „Erinnerungen“, vor allem jene von Helmut Kohl, von Hans-Dietrich Genscher, Michail Gorbatschow, James Baker sowie von zahlreichen anderen beteiligten Staatsmännern, schließlich wichtigen Beratern wie Horst Teltschik, Johannes Ludewig und anderen. Für vergleichsweise kurz zurückliegende Ereignisse sind wir also mit publizierten Quellen reich ausgestattet.

 

Ressentiments gegen Helmut Kohl

Daraus ergibt sich ein Problem für die Darstellungen von Kurt Biedenkopf, weil wir vieles inzwischen wissen, was damals nicht bekannt war. Das ist einem authentischen Tagebuchschreiber des Jahres 1989 und der 1990er-Jahre keineswegs vorzuwerfen, seine Sicht bleibt eine Quelle für die zeitgenössischen Diskussionen. Doch resultiert die Schwäche von Biedenkopfs Texten in dieser Hinsicht weniger aus dem Zeitpunkt der Niederschrift als aus dem fast auf jeder Seite begegnenden Ressentiment gegen Helmut Kohl. Selbst wenn er ihm einmal – was gelegentlich vorkommt – etwas verquält richtiges politisches Handeln attestiert, folgt wenig später zumindest eine Einschränkung, und zwar oft so unvermittelt, dass man sich fragt, wie dem rationalen Analytiker so etwas unterlaufen konnte. Immer wieder wird dem Bundeskanzler, aber auch anderen Kabinettsmitgliedern mangelndes handwerkliches Können unterstellt, dann heißt es: „Wäre ich an seiner Stelle gewesen!“ Stets dominiert die Attitüde: „Ich hätte es besser gekonnt!“ Und das gilt selbst in den Fragen, wo offensichtlich alles richtig gemacht worden ist und auch Biedenkopf keine plausible Alternative nennt, über die sich sinnvoll streiten ließe. Mangels handfester Kritikpunkte heißt es völlig unvermittelt nach einer durchaus präzisen Zusammenfassung eines Berichts von Helmut Kohl über die Planung der nächsten Schritte zur Wiedervereinigung unter dem 5. März 1990: „Ich habe den Bundeskanzler selten so unsympathisch erlebt wie an diesem Nachmittag.“ Natürlich sollte gerade ein Tagebuchschreiber mit seinem unverhohlenen Urteil nicht hinter dem Berg halten. Doch welche Aussagekraft hat ein solches Urteil? Für Kohl als Staatsmann jedenfalls keine, für Biedenkopf als Politiker aber schon.

Immer wieder kommt es in solchen Passagen zu überraschenden Fehleinschätzungen: So äußert sich Biedenkopf in Übereinstimmung mit Richard von Weizsäcker zögerlich bis ablehnend zu dem von Helmut Kohl – und allen politischen Realisten zu Recht – bevorzugten Verfahren zur Wiedervereinigung, nämlich den Beitritt der neuen Länder nach Artikel 23 Grundgesetz. Den Vorzug eines Vorgehens nach Artikel 146 Grundgesetz sahen Biedenkopf und von Weizsäcker darin, der DDR-Bevölkerung Mitbestimmung und eigenständige Beteiligung an der Gestaltung der künftigen Verfassungs-, Rechtsund Wirtschaftsordnung des vereinigten Deutschland zu geben. Doch tatsächlich weiß jeder, der sich historisch und politisch mit Verfassungsberatungen befasst, welche Dauer sie haben und welche Fallstricke sie bergen.

Biedenkopfs Meinung in dieser Frage hängt mit einer zweiten Fehleinschätzung zusammen: Ihm zufolge hätte man die auch von ihm für richtig gehaltene Wirtschafts- und Währungsunion ohne Zeitdruck in zwei bis drei Jahren umsetzen sollen, bevor man grundlegende politische Entscheidungen fällte; man hätte zeitlich nichts überstürzen sollen. Wäre diese Abkoppelung der Wirtschaft von der Politik wirklich möglich gewesen, ohne fortdauernde Dichotomien zu erzeugen?

 

Fehleinschätzungen

Die zeitliche Streckung hatte zwar auch Helmut Kohl in seinem Zehn-Punkte-Plan vom 28. November 1989 vorgesehen. Doch beginnend mit der Maueröffnung, der massiven Wanderungsbewegung von Ost nach West begannen sich innen- wie außenpolitisch die Ereignisse zu überstürzen. Spätestens nach einigen Wochen und der internationalen Reaktion auf den Zehn-Punkte-Plan war klar: Die Bundesregierung musste schnell handeln, um nicht vom Leben bestraft zu werden. Die längst veröffentlichten Protokolle über die Gespräche des Bundeskanzlers mit allen ausländischen Akteuren zeigen, dass Helmut Kohl diese Entwicklung sofort erfasste, Biedenkopf aber noch Monate später meinte, die Bundesregierung habe Zeit. Diese Diagnose verkannte die außenpolitische Konstellation vollkommen, nicht zuletzt die unkalkulierbare Entwicklung in der Sowjetunion. Alle wesentlichen politischen Akteure teilten hingegen die Einschätzung, man müsse schnellstmöglich das „Zeitfenster“ nutzen, in dem eine Wiedervereinigung möglich sei. Dass Biedenkopf ausgerechnet die außenpolitische Kompetenz Kohls bemängelte, die sich gerade in den Verhandlungen als überragend – und schließlich erfolgreich! – erwies, lässt sich nur mit seinem Ressentiment erklären.

Doch auch grundsätzlich verbindet Biedenkopf die berechtigte und notwendige Hochschätzung der Oppositionsbewegung in der DDR mit einer Unterschätzung der internationalen und außenpolitischen Zusammenhänge: Die Friedliche Revolution hat das unschätzbare und bleibende Verdienst, den Zusammenbruch der DDR herbeigeführt beziehungsweise stark beschleunigt zu haben; sie hat das Verdienst, eine Dynamik entfaltet zu haben, die die internationalen Akteure ebenfalls zu Reaktionen zwang und der Bundesregierung die Möglichkeit gab, ihrerseits den rasanten Verfall der DDR in den außenpolitischen Verhandlungen argumentativ einzusetzen. Vorausgegangen aber waren die Destabilisierung der Sowjetunion und anderer kommunistischer Diktaturen, darunter vor allem derjenigen Polens und seiner durch Solidarność initiierte Entwicklung von der Diktatur zur Demokratie. Und schließlich konnte die Wiedervereinigung, der Abzug der Roten Armee und die NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands nur international erstritten werden – gegen eine Mehrheit von Skeptikern und Gegnern dieses Prozesses.

 

Eine neue Verfassung?

Aber nicht nur in diesen Bedingungszusammenhängen, sondern ebenfalls im politischen Gehalt ist Biedenkopfs Position nicht ohne Fragwürdigkeiten: Er unterschätzt die in der DDR vorhandene Zielsetzung eines sogenannten Dritten Weges; das gilt international, wie die Dokumentation „Die Einheit“ jüngst belegt hat, aber ebenso für wirtschafts- und sozialpolitische Vorstellungen. Wie sie mit den grundlegenden Prinzipien des überzeugten Marktwirtschaftlers Biedenkopf in Einklang zu bringen sind, bleibt schleierhaft: Eine neue Verfassung zu beraten, hätte nicht allein ein zeitliches Risiko bedeutet, sondern ebenso ein substanzielles. Kohls Einschätzung, das Grundgesetz müsse unbedingt erhalten und deshalb der Weg über Artikel 23 gewählt werden, war deshalb politisch richtig, wenn man keine andere Republik wollte.

Die Reihe dieser Beispiele ließe sich verlängern, und das ist bedauerlich, weil diese insgesamt aufschlussreichen und interessanten Texte durch die ermüdende Wiederholung von Ressentiments nicht gewinnen, sondern verlieren. Für die Veröffentlichung der weiteren Bände sollte man deshalb besser auf die (Ab-)Wertungen verzichten, die ohnehin jeder kennt.

 

Horst Möller, geboren 1943 in Breslau, von 1992 bis 2011 Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin und von 1996 bis zu seiner Emeritierung 2011 Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

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