Asset-Herausgeber

Worauf die Debatte um die Kapitalismusthesen von Thomas Piketty hinausläuft

Thomas Piketty: Capital in the Twenty-First Century, Harvard University Press, Cambridge (Massachusetts) 2014, 685 Seiten, 35,00 Euro.

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Manche Bücher fassen wie Brenngläser aktuelle Debatten zusammen – bei Thomas Pikettys Capital in the Twenty-First Century ist das der Fall. Das 2013 zuerst auf Französisch erschienene Werk des in Paris lehrenden Ökonomen kombiniert auf knapp sechshundert Textseiten eine datenstrotzende Analyse der Vermögensentwicklung in den wichtigsten westlichen Industriestaaten mit Handlungsempfehlungen zu der Frage: Wie könnte eine immer rasantere Akkumulation privaten Kapitals verhindert werden? Es verwundert kaum, dass eine solche im besten Wortsinne „politische Ökonomie“ stark debattiert wird. Nachdem sich zuerst die Lobeshymnen überschlagen haben – ein linksliberaler Nobelpreisträger postulierte, dass es sich um „das Buch des Jahres, vielleicht des Jahrzehnts“ (Paul Krugmann) handele –, sind zuletzt eher kritische Stimmen über das Werk zu vernehmen, das mittlerweile eine halbe Million Mal verkauft worden ist. Die Londoner Financial Times hat nachgerechnet und Piketty der Ungenauigkeit bei vielen Einzeldaten beschuldigt (FT, 23. Mai 2014); das veranlasste diesen wiederum dazu, seine Datensammlung ins Netz zu stellen.

 

Problematische Daten

Die Kritik ist berechtigt. Viele der angeführten statistischen Daten sind unzulässig extrapoliert und, wenn es um die Antike oder das Mittelalter geht, fiktional. Letzteres ist bei einem Werk, das auf einem hohen Reflexionsniveau argumentiert, ärgerlich. An mehreren Stellen werden Statistiken verwandt, die Aussagen über Wirtschaftswachstum oder Kapitalertrag im Mittelalter ausweisen sollen (Seite 356), das gesamte Wirtschaftswachstum der Welt zwischen den Jahren 0 und 2200 bilanzieren (Seite 357) oder die Wachstumsrate der Weltbevölkerung seit Christi Geburt (Seite 80) darstellen: Jeder Student eines wirtschaftsgeschichtlichen Proseminars würde bei solchen Aussagen Probleme bekommen. Verwertbare statistische Daten über die Entwicklung von Preis, Lohn und Bruttosozialprodukt existieren, optimistisch gesehen, ungefähr für die letzten 150 Jahre, in Spezialfällen auch etwas früher. Brauchbare Wirtschaftsdaten aus dem Frühmittelalter oder der Antike gibt es schlicht nicht; es liegen lediglich lokal begrenzte, einzelne Preis- und Zinsinformationen vor.

So wird bei der Analyse der staatlichen Verschuldung zwar im Text richtig auf die ungebremste deutsche Kriegsfinanzierung durch Kredite im Zweiten Weltkrieg hingewiesen (Seite 142), im Schaubild eine Seite weiter erscheint die deutsche Staatsschuld 1950 aber so hoch wie 1930 – ohne Schwankungen in der Zwischenzeit. Vergleichbar unsauber sind auch die Angaben zum persönlichen Vermögen: Nach Pikettys Angaben wäre das Immobilienvermögen der Deutschen 1950 ähnlich hoch wie 1930 gewesen; Bombenkrieg und Gebietsverluste des Zweiten Weltkrieges wären demnach wertmäßig gar nicht zu bilanzieren (Seite 141). Diese Liste ließe sich fortsetzen. So berechtigt die Kritik im Detail ist, so berührt sie aber nicht den Kern der Argumentation. Neben den erwähnten problematischen Daten hat Piketty viel aussagekräftiges Material zusammengetragen, das ihm fundierte Schlussfolgerungen hinsichtlich der Entwicklung der Vermögensverteilung in den USA, in Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Japan in der Nachkriegszeit erlaubt. Hierin liegt die eigentliche Stärke des Buches: Piketty kann belegen, dass die Privatvermögen in den genannten Staaten deutlich angestiegen sind (etwa Seite 171). Mathematisch lässt sich das mit der (schon lange bekannten) Formel „r > g“ begründen, nach der der Durchschnittskapitalertrag „r“ größer als das Wirtschaftswachstum „g“ sei. Das ist die Kernaussage des Buches: Piketty meint feststellen zu können, dass die Vermögen schneller wachsen als die Wirtschaft und deshalb der Kapitalismus quasi naturgesetzlich zur Kapitalkonzentration bei den Vermögenden führe. Damit greift er in die in allen westlichen Industriegesellschaften zurzeit geführte Debatte über die Zunahme großer Vermögen ein. Die Menge an statistischen Daten, die diesen Prozess der Vermögenskonzentration beschreiben, ist imponierend. Die Feststellung einer grundsätzlichen Entwicklung hin zu einer ungleichen Verteilung des Vermögens in den westlichen Industriegesellschaften in der Nachkriegszeit dürfte damit empirisch belegt sein.

 

Theorie und historische Kurzschlüsse

Während das sicherlich für die westlichen Industriegesellschaften nach dem Zweiten Weltkrieg zutrifft, ignoriert die dahinterstehende Theorie die längerfristige historische Wirklichkeit. Solche mathematischen Modelle prognostizieren lineare Entwicklungen und ignorieren historische Krisen mit nachfolgenden Vermögensverlusten. In der deutschen Geschichte der letzten hundert Jahre gab es davon etliche: den Ersten Weltkrieg mit ersten deutschen Gebietsverlusten und dem Verlust des deutschen Auslandskapitals, die Inflation 1923, die Bombenschäden des Zweiten Weltkrieges und die Gebietsverluste 1945, den Währungsschnitt 1948, die Vermögensverluste in der SBZ/DDR durch Verstaatlichungen, in der Bundesrepublik durch den Lastenausgleich, den Währungsschnitt für die DDR-Bevölkerung 1990. All diese Ereignisse haben Vermögende deutlich stärker betroffen als den Durchschnitt der Bevölkerung. Innerhalb eines Jahrhunderts hat es mindestens sechsmal eine partielle Enteignung der Vermögensbesitzer in Deutschland gegeben, im Schnitt also alle sechzehn Jahre. Enteignungen gab es nicht nur in der NS- oder der SED-Diktatur, sondern durchaus auch – beim Lastenausgleichsgesetz 1952 oder beim Währungsschnitt 1990 – auf demokratisch einwandfreier Grundlage. Pikettys Grundthese bedarf nach ihrer Überprüfung an der historischen Wirklichkeit wohl einer Ergänzung: Genauso, wie es in langen Friedenszeiten offenbar zu einer Kapitalakkumulation bei Vermögenden kommt, werden größere Vermögen in Krisenzeiten stärker in Mitleidenschaft gezogen.

Im letzten Abschnitt seines Buches entwirft Piketty Handlungsempfehlungen für die Politik. Dieser Teil erklärt wohl auch die Schärfe der Kritik. Der den französischen Sozialisten nahestehende Autor spricht sich für hohe Vermögenssteuern aus, gerne auch in internationaler Abstimmung. Es lässt sich kaum bestreiten, dass progressive Steuersysteme nötig sind, um ein Auseinanderdriften der Gesellschaften zu verhindern; dabei kommt es jedoch sehr auf die konkrete Ausgestaltung an, sollen wirtschaftliche Leistungsträger nicht außer Landes getrieben werden – wie gerade die Erfahrungen der französischen Sozialisten mit ihrer Steuergesetzgebung in der Ära Hollande zeigen.

Aus deutscher Perspektive ist bemerkenswert, dass Pikettys Arbeit ein weiteres Mal vor Augen führt, dass die Soziale Marktwirtschaft als theoretischer Ansatz im gegenwärtigen wirtschaftswissenschaftlichen Diskurs nur eine sehr untergeordnete Rolle spielt. Sie wird allenfalls unter dem Pseudonym „rheinischer Kapitalismus“ wohlwollend gestreift, ihre Vordenker wie Eucken, Böhm oder Erhard spielen keine Rolle. Dies ist bedauerlich, weil dadurch eine Reihe konstruktiver Lösungsansätze ignoriert wird. Ludwig Erhard wollte „Wohlstand für alle“, setzte dabei vor allem auf Wachstum, aber auch – und das ist fast in Vergessenheit geraten – auf die Förderung von Vermögensbildung. Während liberale Ansätze die Auffächerung der Gesellschaft durch Wirtschaftswachstum verringern wollen und linke Politik in der Regel auf eine Umverteilung durch progressive Steuern setzt, fordert die Soziale Marktwirtschaft zusätzlich die aktive Förderung kleinerer und mittlerer Vermögen. Hier sollte eine deutsche Debatte über Pikettys Thesen ansetzen.

 

Wolfgang Tischner, geboren 1967 in Berlin, Abteilungsleiter Publikationen/Bibliothek, Wissenschaftliche Dienste/Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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