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Inklusionserfahrungen an den Hamburger Stadtteilschulen

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Hamburg verfügt über eine lange Erfahrung mit der inklusiven Beschulung von Schülerinnen und Schülern. Schon 1997 wurden die Integrationsklassen und die Integrativen Regelklassen an Grundschulen in das Schulgesetz aufgenommen. Ebenfalls Ende der 1990erJahre wurden die „Schulen für Verhaltensgestörte“ aufgelöst und in Regionale Zentren integriert, die nur noch im Ausnahmefall die Regelschule temporär ersetzen sollten.

Hamburg kannte daher die Herausforderungen der Praxis, als das Landesparlament 2009 als eines der ersten für dieses Bundesland für Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf ein Wahlrecht zwischen einer Sonderschule und einer allgemeinen Schule einführte. In Paragraph 12 des Hamburger Schulgesetzes heißt es seitdem: „Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf haben das Recht, allgemeine Schulen zu besuchen. Sie werden dort gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern ohne sonderpädagogischen Förderbedarf unterrichtet und besonders gefördert.“

Mit der Umsetzung des neuen „Inklusionsparagraphen“ wurde im Schuljahr 2010/11 in den Klassenstufen 1 und 5 begonnen. Inzwischen hat die Umsetzung die Klassenstufen bis zum achten Schuljahr erreicht. Ein Vergleich der Zahlen über die Jahre zeigt, dass Eltern und Schüler von der neuen Möglichkeit der inklusiven Beschulung zunehmend Gebrauch machen: Während im Schuljahr 2009/10 noch 83,9 Prozent (7.181) der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf eine Sonderschule besuchten und nur 16,1 Prozent (1.378) eine allgemeine Schule, sind es im laufenden Schuljahr 2013/14 bereits 58,2 Prozent (7.480) an den allgemeinen Schulen und nur noch 41,8 Prozent (5.377) an Sonderschulen.

Parallel dazu ist die Gesamtzahl der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf über die letzten Jahre stark angestiegen. Waren es im Schuljahr 2009/10 noch 8.559 Schülerinnen und Schüler, sind es jetzt 12.857 (plus 50 Prozent). Eine überzeugende Erklärung für diesen massiven Anstieg gibt es bisher nicht. Die Schulbehörde hatte daher die Wissenschaftler Karl Dieter Schuck und Wulf Rauer mit einer Untersuchung beauftragt. Diese haben in einem Zwischenbericht darauf hingewiesen, dass der Anstieg unter anderem auf Statistikfehler und veränderte Diagnosemaßstäbe zurückzuführen sei.

 

Zu viel auf einmal

Zeitgleich wurde im Schuljahr 2010/11 in Hamburg die Stadtteilschule als neue Schulform eingeführt. Sie führt neben dem ersten und dem mittleren Abschluss auch zum Abitur. Ihre Einführung war von der CDU angeregt und 2006/07 in einer Enquete-Kommission aus Experten und Abgeordneten der Bürgerschaft vorbereitet worden. Die neue Hamburger Schulstruktur wurde von Wissenschaftlern, Praktikern und Politikern verschiedener Parteien gleichermaßen als große Chance begriffen. Die Enquete-Kommission warnte 2007 aber auch eindringlich: „Aufgrund des Umfangs der geplanten Reform soll auf eine ergänzende Reform des Schulwesens für Kinder mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf in der Sek. I zunächst verzichtet werden.“ Das bedeutet: Keine Inklusion, bevor sich die Stadtteilschule nicht etabliert hat.

Unter der grünen Bildungssenatorin Christa Goetsch und vor dem Hintergrund der Diskussionen um das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderung entschloss sich Hamburg, sich über diese Warnung hinwegzusetzen und parallel zu der neuen Schulstruktur mit der Inklusion zu starten.

Die eigentliche Ausgestaltung der Inklusion übernahm nach dem Regierungswechsel Anfang 2011 der neue SPD-Schulsenator Ties Rabe. Vier Fehlentscheidungen haben dazu geführt, dass die ohnehin schwierige Verbindung von Schulstrukturreform und Inklusionseinführung heute als gescheitert angesehen werden muss:

Erstens: Der Schulsenator verzichtete anders als etwa das Bundesland Bremen auf jede Steuerung der Inklusion. Dies führt zum einen dazu, dass einzelne Schulen überlastet werden, zum anderen können keine Förderschwerpunkte gebildet werden, um die Schülerinnen und Schüler durch speziell ausgebildete Sonderpädagogen in den Regelschulen optimal fördern zu können.

Zweitens: Nach übereinstimmenden Berichten aus den Schulen werden diese in der Regel nicht durch die Integration körperlich behinderter Kinder vor große Herausforderungen gestellt, sondern durch Kinder mit Förderbedarf in den Bereichen Lernen, Sprache sowie emotionale und soziale Entwicklung (LSE). Anders als früher erhalten die Schulen für diese Kinder nicht mehr personenbezogen entsprechende Ressourcen, sondern lediglich pauschal, gemessen an dem sozialen Umfeld der Schule. Dies führt zu massiven Fehlverteilungen und dient lediglich dem Zweck, die bereitstehenden Mittel insgesamt zu deckeln.

Drittens: Die SPD verfolgt das Ziel, bestehende Sonderschulen möglichst zügig zu schließen und die frei werdenden Flächen zugunsten des Stadthaushalts zu verwerten. Dadurch wird die freie Wahl der Eltern zwischen Inklusion in einer Regelschule und spezieller Förderung in einer Sonderschule de facto zunehmend eingeschränkt.

Viertens: Grundsätzlich gilt, dass man bei Zentralisierungen eher sparen kann und bei Dezentralisierungen mehr investieren muss. Die SPD stellt in Hamburg für die Inklusion aber weniger Geld als vorher zur Verfügung. Selbst wenn die Pauschale mit der Anzahl der Kinder vor Ort übereinstimmt, kann eine Schule pro Kind mit LSE-Förderbedarf nur 3,5 Unterrichtsstunden pro Woche doppelt besetzen. Oft erfordert bereits eines dieser Kinder in einer Klasse so viel Aufmerksamkeit und Engagement, dass für die anderen Kinder kaum noch ein regulärer Unterricht durchgeführt werden kann.

 

Mehr geht nicht

Das hat an nicht wenigen Stadtteilschulen zu großen Problemen geführt. So heißt es in einem offenen Brief einer Hamburger Stadtteilschule an den Schulsenator vom Februar 2013: „[…] Doch jetzt schlagen wir Alarm. Wir schlagen Alarm, weil wir die Ziele unserer Arbeit, jede/n Schüler/in gemäß ihren Stärken, aber auch Schwächen zu fordern und zu fördern, in hohem Maße gefährdet sehen. Wir schlagen Alarm, weil wir fürchten, dass wir den Schwächsten wie den Stärksten nicht mehr die Förderung geben können, die sie benötigen. Und wir schlagen Alarm, weil wir unsere eigenen Belastungsgrenzen schon seit Langem überschritten haben. Wir schlagen Alarm, weil mehr nicht geht.“ Eine solche Situation dürfte kaum dem Gedanken des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen entsprechen. Denn darin heißt es in Artikel 24 zwar: „[…] Bei der Verwirklichung dieses Rechts stellen die Vertragsstaaten sicher, dass […] Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen in der Gemeinschaft, in der sie leben, Zugang zu einem integrativen, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen haben; […]“. Gleichzeitig gilt: „Bei der Verwirklichung dieses Rechts stellen die Vertragsstaaten sicher, dass […] in Übereinstimmung mit dem Ziel der vollständigen Integration wirksame individuell angepasste Unterstützungsmaßnahmen in einem Umfeld, das die bestmögliche schulische und soziale Entwicklung gestattet, angeboten werden.“

Eine solche Entwicklungsmöglichkeit ist unter den gegenwärtigen Umständen an vielen Schulen nicht mehr gegeben. Dort haben aus Mangel an notwendigem Unterstützungspersonal weder die Kinder mit Förderbedarf noch die Kinder ohne Förderbedarf „ein Umfeld, das die bestmögliche schulische und soziale Entwicklung gestattet“. Offensichtlich muss die Inklusion so, wie sie in Hamburg eingeführt wurde, als gescheitert angesehen werden. Was ist also zu tun?

 

Praktische Wahlmöglichkeit

Um jedes Kind seinen individuellen Voraussetzungen entsprechend fördern zu können, brauchen wir Inklusionsschulen und Sonderschulen. Eltern müssen auch künftig die Wahl haben, welche Form der Beschulung sie für ihr Kind geeignet finden. Es geht nicht, dass Sonderschulstandorte durch gezielte Ressourcensteuerung und politische Diskussionen über ihre Existenz geschwächt werden, um dann der Argumentation zu unterliegen, ihre Anmeldezahlen würden abnehmen. Wir brauchen nicht nur eine theoretische, sondern auch eine praktische Wahlmöglichkeit.

Eine professionelle Diagnostik ist für jedes Kind unabhängig von der Art des sonderpädagogischen Förderbedarfs unerlässlich. Wenn Wissenschaftler die gestiegene Gesamtzahl von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den vergangenen Jahren auf Statistikfehler und Diagnoseunsicherheiten zurückführen, ist das ein Armutszeugnis für die Schulbehörde. Diagnosen müssen professionell und verlässlich sein und diese Diagnosen müssen dann auch ressourcenauslösend sein. Eine systemische Ressource, die sich an Richtwerten statt an tatsächlichen Zahlen orientiert, lehnen wir ab und fordern stattdessen eine schülerbezogene Mittelzuweisung.

 

Eine Aufgabe für Engagierte

Nicht jeder kann alles gleich gut – das gilt auch für Schulen und Lehrer. Hamburg hat mit den Integrationsklassen in der Vergangenheit gute Erfahrungen gemacht: Gut ausgestattete Schulen mit gut ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrern haben sich zugetraut, die Inklusion förderbedürftiger Kinder zu realisieren. Erfahrungsgemäß dauert der Umbau zu einer gelingenden Inklusionsschule viele Jahre und bedarf großen Engagements der Schulleitung, des Kollegiums und der Eltern und natürlich einer auskömmlichen personellen, räumlichen und sachlichen Ausstattung.

Statt einer flächendeckenden Inklusion ohne Vorbereitung und Ressourcen brauchen wir einen sukzessiven Ausbau dieser Integrationsklassen – mit dem Ziel, dass am Ende des Prozesses die Inklusionsschule der Regelfall ist. Auf diesem Weg wird die Inklusion nicht allen Schulen übergestülpt, sondern jenen Schulen als Aufgabe übertragen, die eine positive Einstellung und wertvolle Erfahrungen für diese Aufgabe mitbringen – und denen auch die notwendigen Mittel für eine gelingende Arbeit zur Verfügung gestellt werden.

Über ein solches Netzwerk von Leuchtturmschulen, die zugleich als Best-Practice-Beispiele für weitere Schulen dienen, kann Inklusion auf Dauer wirklich gelingen. Gleichzeitig könnten die Hamburger Stadtteilschulen, die diesen Schwerpunkt zunächst nicht wählen, deutlich entlastet werden.

 

Das Wohl aller Kinder

Schließlich ist eine Stärkung der Schulen im Umgang mit Schülerinnen und Schülern zu prüfen, die in der Schule die Sicherheit von Menschen erheblich gefährden oder den Schulbetrieb nachhaltig und schwer beeinträchtigen. In Bremen ist für diese Schülergruppe aktuell die Möglichkeit geschaffen worden, sie zunächst bis zum 31. Juli 2018 einem Förderzentrum für den Förderbedarf im Bereich sozialemotionale Entwicklung zuzuweisen, wenn eine Änderung ihres schulischen Verhaltens nicht zu erwarten ist und eine vorübergehende Zuweisung an ein Regionales Beratungs- und Unterstützungszentrum erfolglos geblieben ist. Dabei ist der Fortbestand der Zuweisung mindestens jährlich zu überprüfen und eine Rückführung in die allgemeine Schule anzustreben. Diese Möglichkeit sollte auch im Hinblick auf Hamburg diskutiert werden.

Bei allen Überlegungen sollte immer das „Wohl des Kindes“ im Mittelpunkt stehen: das Wohl aller Kinder – mit und ohne Förderbedarf. Inklusion ist eine gute, eine richtige Idee für sehr viele Schülerinnen und Schüler. Wenn wir uns als Gesellschaft zur Inklusion bekennen, müssen wir aber auch die entsprechenden Rahmenbedingungen schaffen – und wir müssen den Schulen Zeit geben. Sonst scheitert mehr als nur eine Idee.

 

Karin Prien, geboren 1965 in Amsterdam (Niederlande), Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft, schulpolitische Sprecherin der CDU-Bürgerschaftsfraktion.

Robert Heinemann, geboren 1974 in Hamburg, Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft, von 2004 bis 2008 und von 2011 bis 2013 schulpolitischer Sprecher der CDU-Bürgerschaftsfraktion.

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