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Gestaltung: StanHema

Allgemeinheit und Demokratie

von Christine Langenfeld

Über das Politische als Kern des demokratischen Verfassungsstaates

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Wie viel Polarisierung verträgt eine Demokratie, damit sie funktionieren kann? Welches Maß an gemeinsamem Demokratieverständnis ist erforderlich, um unsere Demokratie am Leben und lebendig zu erhalten? Es wird im Folgenden um die Frage gehen, was eine Demokratie bei aller Verschiedenheit der Lebensentwürfe an gemeinsamen Grundüberzeugungen benötigt, welche verbindlichen Regeln für alle im demokratischen Prozess gelten müssen und welche Grundwerte auch für die Mehrheit unverfügbar sind.

Doch zunächst zum Befund, der der Annäherung an die aufgeworfenen Fragen vorausgehen muss. Dass die Demokratie weltweit, so auch in Deutschland, vor großen Herausforderungen steht, deren Bewältigung alles andere als sicher ist, ist unbestritten. Eines der Kennzeichen dieser Entwicklung ist das Erstarken der extremen politischen Ränder und damit verbunden des Populismus, der in einer Reihe von Staaten, auch in der Europäischen Union, zur Ausbreitung autoritärer Regime geführt hat beziehungsweise dort, wo dies noch nicht der Fall ist, geeignet ist, Entwicklungen in eine Richtung zu befördern, die der Demokratie schaden.

Gesellschaften werden gespalten und einzelne Gruppen gegeneinander ausgespielt. Das Gemeinsame geht verloren. Bezeichnend für diese Entwicklung ist, dass sie sich in demokratischen Bahnen vollzieht: „Im Zentrum dieser Entwicklungen [steht] ein paradoxer Befund, nämlich, dass der Demokratie vor allem von der Demokratie Gefahr zu drohen scheint, weil sie immer häufiger ‚im Namen der Demokratie‘ angegriffen wird. Denn auch wenn […] die neuen populistischen Führerfiguren vieles infrage stellen – die Demokratie nun gerade nicht. Ganz im Gegenteil: Sie geben vor, in ihrem Namen anzutreten […].“1

Dieser Prozess geht einher mit einer immer stärkeren Polarisierung des öffentlichen Diskurses. Politisch Andersdenkende werden nicht mehr als politische Gegner, sondern als Feinde betrachtet, denen weder Respekt noch Anerkennung geschuldet ist. Gestritten wird nicht mehr nur über politische Sachfragen, sondern die Auseinandersetzung setzt tiefer und grundsätzlicher an. In Zweifel gezogen wird die Legitimität der demokratischen Institutionen und des politischen Prozesses selbst, wenn etwa insinuiert wird, dass es bei der Besetzung bestimmter Ämter nicht mit rechten Dingen zugegangen sei, wenn Wahlergebnisse angezweifelt, Urteile unabhängiger Gerichte infrage gestellt werden und so weiter.

Gleichermaßen bewirkt und verstärkt wird die politische Polarisierung durch die Entstehung abgeschotteter und geschlossener Diskursblasen und Wissenswelten, in denen eigene Wahrheiten bis hin zu Verschwörungstheorien propagiert werden und aus denen heraus kontroverse politische Debatten nicht mehr möglich sind. Demgegenüber benötigen funktionierende Demokratien gemeinsame, für alle zugängliche Diskursräume, in denen um politische Lösungen gerungen wird, die am Ende die Akzeptanz auch bei jenen finden, die in der Sache nicht übereinstimmen. Diese gemeinsamen, mit hoher Legitimität ausgestatteten Diskursräume, in denen sich Bürgerinnen und Bürger auf Augenhöhe begegnen, gehen immer mehr verloren. Kommunikation verläuft heute hochgradig individuell und vielfach in Paralleluniversen. Zu konstatieren ist ein Bedeutungsverlust der klassischen Intermediäre wie Presse und Rundfunk ebenso wie der politischen Parteien.

Die Themenagenden werden zunehmend im Netz gesetzt; eine Bündelung und kritisch-rationalisierende, auch an Fakten orientierte Einordnung von Interessen und politischen Anliegen, die der Fragmentierung des politischen Diskurses entgegenwirken und Grundlage für die in der Demokratie notwendige Kompromissbildung sind, ist nur noch eingeschränkt möglich, mit allen Folgen für die Akzeptanz der sodann getroffenen politischen Entscheidungen.

 

Kein „imperatives Gruppenmandat“ möglich

 

Zentrale gemeinsame Diskursräume und Zentren demokratischer Öffentlichkeit sind die Parlamente. In den Parlamenten werden Bürgerinnen und Bürger als Gleiche repräsentiert. Was Gleichheit in diesem Zusammenhang bedeutet, ist freilich umstritten. Gefordert wird an dieser Stelle, in den Parlamenten die Zusammensetzung der Bevölkerung maßstabsgetreu abzubilden. Die gesellschaftliche Diversität müsse sich in den Parlamenten widerspiegeln. Dem zugrunde liegt ein gruppenbezogenes Repräsentationsverständnis, das danach strebt, Defizite in der Vertretung bestimmter, bislang unterrepräsentierter Gruppen in den Parlamenten zu beheben – ein politisch durchaus berechtigtes und nachvollziehbares Anliegen. Allerdings: So wenig, wie es einen homogenen Volkswillen gibt, so wenig gibt es homogene Gruppeninteressen, die von den Angehörigen einer Gruppe in Reinform vertreten werden könnten und müssten. Abgesehen davon, dass eine solche Sichtweise in der Gefahr steht, den Angehörigen bestimmter Gruppen essenzialistische Formen von Identität zuzuschreiben, und damit eine Homogenität unterstellt, die es in einer pluralen und freien Gesellschaft nicht geben kann, steht es allen Abgeordneten als Trägern beziehungsweise Trägerinnen des freien Mandats zu, diejenige Politik zu vertreten, die sie als richtig erachten. Ein „imperatives Gruppenmandat“ kann es nicht geben.

Für ein parlamentarisches Regierungssystem, das auf die Suche nach Kompromissen in der politischen Auseinandersetzung angelegt ist und in dem am Ende die Mehrheit entscheidet, bedeutete ein gruppenbezogenes Repräsentationsverständnis als Ausdruck einer strikten Diversitätspolitik eine Neuorientierung hin zu einer Form der Einheitsbildung, die sich auf das Finden eines Minimalkonsenses beschränkt, mit dem alle, Mehrheit und Minderheiten, leben können. Das originär Politische – die Auseinandersetzung innerhalb einer politischen Gemeinschaft gleichberechtigter Bürgerinnen und Bürger jenseits von ethnischen, religiösen, sozialen und sonstigen Unterschieden, das Ringen um die besten Lösungen – träte in den Hintergrund. Gerade dieses Politische macht jedoch den Kern des demokratischen Verfassungsstaates aus, der den Rahmen für die Austragung politischer Kontroversen, an der alle Bürgerinnen und Bürger chancengleich teilnehmen können sollten, zur Verfügung stellen muss.

Inwieweit dieses gelingt, hängt nicht zuletzt von der Vitalität der Parteienlandschaft ab. Diese wird am wirksamsten immer noch durch ein System gewährleistet, in dem Volksparteien zusammen mit anderen, kleineren Parteien um die Gunst der Wähler konkurrieren. Denn Parteien sind am ehesten in der Lage, die Voraussetzungen für die Herstellung der Einheit in Verschiedenheit zu schaffen, indem sie unterschiedliche Interessen aufgreifen und programmatisch verarbeiten. Wenn Diversität in einer Weise verstanden wird, die gesellschaftliche Integration in der pluralen Gesellschaft verbindet, kann sie sich als produktiv in der heterogenen Gesellschaft der Moderne erweisen. Nicht institutionalisierte, Identitäten festschreibende Diversitätspolitik ist dann gemeint, sondern die Anerkennung und Ermöglichung grundrechtlicher Freiheit der Individuen in ihrer Verschiedenheit, verbunden mit der Schaffung von gesellschaftlichen Bedingungen möglichst chancengleicher Mitwirkung in Gesellschaft und Politik.

 

Der „Wille zur Verfassung“

 

Dafür sind für alle geltende „allgemeine“ Grundregeln des demokratischen Diskurses erforderlich, an die sich jedermann zu halten hat. Dies gilt insbesondere im Zuge der fortschreitenden Pluralisierung von gesellschaftlichen Interessen und individuellen Lebensentwürfen. Der Prozess der Meinungsbildung muss offengehalten werden, aber am Ende muss über Interessenkonflikte – demokratisch, das heißt durch die Mehrheit – verbindlich entschieden werden.2 An der Fähigkeit zur gemeinschaftlichen Entscheidung bemisst sich die politische Handlungsfähigkeit eines demokratischen Gemeinwesens. In der Offenheit des politischen Prozesses, der im Ergebnis zu bestimmten Mehrheitsentscheidungen führt, zeigt sich auch die Zukunftsfähigkeit des demokratischen Verfassungsstaates. Er ermöglicht den notwendigen Wandel und sichert zugleich die erforderliche Stabilität durch die Beständigkeit der demokratischen Verfahren und seiner Institutionen. Dass dies so bleibt und – um mit Konrad Hesse zu sprechen – die Verfassung ihre normative Kraft bewahrt, hängt von uns allen ab, sowohl von denjenigen, die im Staat als Mandatsund Amtsträger Verantwortung tragen, als auch von der Zivilgesellschaft. Notwendig ist – um noch einmal Konrad Hesse zu zitieren – der „Wille zur Verfassung“, die Bereitschaft, für Demokratie und Rechtsstaat gerade dort aktiv einzutreten, wo die Zustimmung zur rechtsstaatlichen Demokratie verloren gegangen ist oder verloren zu gehen droht.

Grundlage der Vorstellung, dass dies möglich ist, trotz aller krisenhaften Entwicklungen gerade der jüngeren Zeit, ist das dem Pluralismus zugrunde liegende Menschenbild: „Der Pluralismus beruht auf dem optimistischen Vertrauen, dass ein freiheitlicher Staat in der Regel ausreichend stark ist, um heterogenen Kräften zu gestatten, sich frei in Gesellschaft und Staat zu bewegen. Pluralismus setzt damit vor allem auf Toleranz und Gewaltlosigkeit.“3 Und auf die Fähigkeit zum Kompromiss (gegebenenfalls unter Zurückstellung der eigenen Interessen), möchte man ergänzen. Ein Verständnis von Freiheit, das die eigenen Vorstellungen von Selbstverwirklichung absolut setzt und Einschränkungen nicht mehr gelten lassen möchte, verträgt sich damit nicht. Erforderlich ist vielmehr ein anspruchsvolleres freiheitliches und demokratisches Ethos, ein bürgerschaftliches Interesse am Ganzen, das gepflegt werden muss, freilich nicht erzwungen werden kann.

Gefragt sind hier insbesondere die Bildungsinstitutionen, deren Aufgabe die nachhaltige politische Erziehung zur Demokratie und die Vermittlung des notwendigen Wissens über Grundlagen und Funktionsweise unseres demokratischen Verfassungsstaates ist. Es geht darum, Einigkeit darüber zu erzielen, was die Mitglieder einer hochdifferenzierten Gesellschaft miteinander verbindet. Das hierfür notwendige Fundament ist die Akzeptanz des Grundgesetzes. Allerdings greift dieses Fundament tiefer als der reine Text einer Verfassung, so zentral diese auch ist; es ist Ergebnis und Ausdruck der in einer Gesellschaft über Generationen hinweg gewachsenen und gemeinsamen Erfahrungen, sich durchaus auch wandelnden Einsichten und Überzeugungen, von denen die große Mehrheit einer Gesellschaft glaubt, dass sie gelten sollen.

 

Christine Langenfeld, geboren 1962 in Luxemburg, Rechtswissenschaftlerin, seit 2000 Inhaberin des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Georg-August-Universität Göttingen, 2008 bis 2016 Mitglied des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration und dessen Vorsitzende von 2012 bis 2016, seit 2016 Richterin im Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts, Karlsruhe.

 

1 Philip Manow: (Ent-)Demokratisierung der Demokratie. Ein Essay, Berlin 2020, S. 17.
2 Andreas Voßkuhle: „Hugo Preuß als Vordenker einer Verfassungstheorie des Pluralismus“,  in: ders.: Europa, Demokratie, Verfassungsgerichte, Berlin 2021, S. 139 (S. 157 f.).
3 Andreas Voßkuhle, a. a. O., S. 155.

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