Der Westen tanzt am Abgrund. Nicht immer, aber immer öfter. Da sind die USA, deren Parteien sich seit Jahren übel befehden über Haushalte, Defizite und Schuldenlimits. Mitte Oktober vertagten Republikaner und Demokraten nach einem Blick in den Höllenschlund amerikanischer Zahlungsunfähigkeit ihren Bürgerkrieg, aber eine Fortsetzung im Dezember ist zu befürchten.
Da ist Europa mit seiner noch längst nicht ausgestandenen Währungskrise. In den südlichen Ländern stoßen die Sparprogramme an ihre Grenzen und beschwören die Angst vor Staatsbankrotten herauf. Die Arbeitslosenquoten in Frankreich und insbesondere die Jugendarbeitslosigkeit in Spanien, von Griechenland einmal ganz zu schweigen, erschüttern den Glauben an die Stabilität und die Verheißungen der Europäischen Union.
Um die Tour d’Horizon zu komplettieren: Japan, das einstige Wirtschaftswunderland in Asien mit westlicher Selbstverortung, ist weltweiter Spitzenreiter bei der Staatsverschuldung und hat zudem (gemeinsam mit Italien) die älteste Bevölkerung.
Just in dieser Situation wächst weltweit der Antiamerikanismus. Er wurde durch die NSA-Affäre angeheizt, die einen Höhepunkt in der Entlarvung des Lauschangriffs auf das Handy von Bundeskanzlerin Angela Merkel erlebte. Washingtons nicht immer trittsichere Außenpolitik, zuletzt in der Syrien-Frage, schadete ebenfalls. Hinzu kommen alte Vorurteile – Stichworte Wall Street und Kapitalismus – und jüngere Erfahrungen mit der Immobilienkrise und der Lehman-Brothers-Pleite 2008.
Und die Wurzeln liegen noch tiefer. Die USA sehen sich mit dem grundsätzlichen Problem konfrontiert, dass die ganze Welt von einer Supermacht Führung verlangt, aber niemand geführt werden möchte.
In der Zeit vom 14. August 2013 formuliert Jens Jessen ein „Plädoyer für eine kontrollierte Abkühlung der deutsch-amerikanischen Beziehungen“ unter der apodiktischen Zeile „Das ist nicht Freundschaft“. Am graduierten Stammtisch wird die Gewissheit verbreitet, die diplomatische Weisheit Wladimir Putins und nicht die massive militärische Drohung Barack Obamas habe dazu geführt, dass der syrische Diktator Baschar al-Assad nun endlich seine Chemiewaffen aufzugeben scheint.
Nachdenken über eine „entamerikanisierte Welt“?
Findet der Westen in dieser Situation zurück zu alter Stärke? Sehen sich seine Staaten überhaupt noch aufeinander angewiesen?
Barack Obama, der fast vier Jahre seiner Kindheit in Indonesien erlebte, etikettierte sich im November 2009 als „Amerikas erster pazifischer Präsident“ und kündigte eine neue Fokussierung auf den asiatischen Raum an.
Doch die Pazifik-Strategie der USA verplätscherte angesichts der Herausforderungen in altbekannten Krisenregionen. Die Außenpolitik Washingtons wurde von den Umbrüchen im arabischen Staatenraum, vom Bürgerkrieg in Syrien und von dem neuerdings Tauwetter versprechenden, aber noch nicht mit echten Taten aufwartenden Iran diktiert. Schließlich zwang der Government Shutdown den US-Präsidenten Anfang Oktober, eine Asienreise zum APEC-Gipfel in Indonesien mit geplanten Anschlussbesuchen in Bali, Malaysia, auf den Philippinen und in Brunei abzusagen.
Derartige Schritte schmälern den westlichen Einfluss in der Region. Gerade die kleineren Staaten in Südostasien werden sich schwertun, das ferne Washington als die von ihnen durchaus gewünschte Alternative zu dem allzu rasch mächtiger werdenden und geografisch wesentlich näheren Peking zu akzeptieren. Chinas Präsident Xi Jinping nutzte seine Reise zum Gipfel für eine intensive Goodwill-Mission, nachdem Pekings Exporte nach Südostasien (und Europa) in den Monaten zuvor stärker als erwartet gefallen waren. Und am 13. Oktober verkündete Chinas staatliche Nachrichtenagentur Xinhua in Erwartung der (letztlich verhinderten) Zahlungsunfähigkeit der USA gar, es sei nun „vielleicht eine gute Zeit für die irritierte Welt, über den Aufbau einer entamerikanisierten Welt nachzudenken“.
Überaltertes Europa
Auch diese Episode zeigt, dass die USA und Europa aufeinander angewiesen bleiben. Europa hat nicht nur das gravierende Währungsproblem, das durch die ungenierte Überschuldungspolitik einzelner Mitgliedsstaaten entstand. Noch drückender ist die Überalterung. Neunzehn der zwanzig Staaten mit den ältesten Bevölkerungen gehören zu Europa, hinzu kommt Japan. Der Trend ist irreversibel: Allein um die demografische Struktur auf dem derzeitigen Stand einzufrieren, müssten bis zum Jahr 2050 knapp 200 Millionen Menschen aus außereuropäischen Staaten nach Deutschland einwandern. Das wäre politisch und wirtschaftlich nicht zu verkraften.
Im Vergleich mit allen anderen entwickelten Volkswirtschaften sind die demografischen Probleme der Vereinigten Staaten gering. Zwar altert auch Amerika. Aber der Anteil der über 65-Jährigen läge bei konstanter Entwicklung erst im Jahr 2050 bei etwa zwanzig Prozent. Über diesen Anteil sind viele europäische Länder schon jetzt hinaus. Der große Joker der USA: Sie verfügen über nahezu unbegrenzten Raum für Zuwanderer. Selbst wenn die Bevölkerungszahl von derzeit 311 Millionen Menschen entsprechend den Prognosen bis 2050 um fast 100 Millionen zunimmt, werden die USA nur ein Sechstel der Bevölkerungsdichte Deutschlands haben. Darum werden weltweit junge Leute auch in Zukunft Amerika als das Land der nicht unbegrenzten, aber eben doch großzügig zugeschnittenen Möglichkeiten wahrnehmen.
Schon darum bleiben die USA auf unabsehbare Zeit die globale Führungsmacht. Peking kann Washington nicht ablösen. Derzeit ist die chinesische Gesamtbevölkerung zwar jünger. Aber ab 2040 leben dort prozentual mehr über 65-Jährige als in den USA. Auch die Wachstumsquoten flachen deutlich ab. Dieses Los trifft alle Staaten, die sich von sehr rückständigem Niveau zunächst mit zweistelligen Ziffern entwickeln, um dann nach wenigen Jahren in ein gemäßigteres Tempo zu wechseln.
Als Einwanderungsland taugt China mit seiner xenophoben Kultur und seiner jenseits einer schmalen Küstenlinie weiterhin völlig rückständigen Infrastruktur für die überschaubare Zukunft nicht. Dass der neue chinesische Staats- und Parteichef Xi Jinping auf eine Re-Ideologisierung und die Rückbesinnung auf maoistische Werte setzt, muss nicht gegen die Kooperation und ein gutes Auskommen mit dem Westen sprechen. Aber diese Tendenz rückt eine Modernisierung Chinas zu einer Weltmacht mit der Wahrnehmung internationaler Verantwortung, wie sie von Beobachtern noch vor wenigen Jahren vorhergesagt wurde, in weite Ferne.
„Rise of the Rest”
Dennoch gibt es den „Rise of the Rest“, den Aufstieg Chinas, Indiens, Brasiliens, Russlands und anderer Regionalmächte. Darum ist es existenziell, dass die beiden größten Volkswirtschaften der Welt, die USA und die Europäische Union, ihre zum größten Teil hausgemachten Politik-, Währungs- und Schuldenkrisen überwinden. Sie müssen stattdessen die bilaterale Kooperation intensivieren und Standards für den künftigen Welthandel in Sachen Qualität, Produktsicherheit und Recht am geistigen Eigentum setzen. Die im Juli 2013 in Washington gestarteten Verhandlungen zur Transatlantic Trade and Investment Partnership (TTIP) bieten dazu die Chance.
Doch die ökonomischen Vorteile einer noch engeren Verzahnung der beiden Volkswirtschaften und ihre Auswirkungen auf Arbeitsplätze und Wachstum sind nur ein Aspekt. Noch wichtiger ist die kulturelle Nähe Europas und der USA. Die Länder des Westens sind miteinander verbunden durch die Idee der Demokratie, der Menschenrechte und einer freien Wirtschaft. Zwar gibt es die sattsam bekannten Unterschiede. Die Europäer verstehen nicht das liberale Waffenrecht (für das die Zustimmung in den USA eher wächst) oder die Todesstrafe (deren Unterstützung dort seit Jahren abnimmt) in den Vereinigten Staaten; die Amerikaner wiederum wundern sich über die Justiz in europäischen Ländern, die Täter oft eher ermahne als tatsächlich bestrafe, und über die auf dem alten Kontinent verbreitete Mentalität, in jeder vermeintlich schwierigen Situation nach dem „Nanny-Staat“ zu rufen. Doch im Vergleich mit Asien, Afrika oder dem arabischen Staatenraum schrumpfen die systemischen und kulturellen Differenzen zwischen den USA und Europa gewaltig. Wer darum die transatlantischen Beziehungen abkühlen lassen will, sollte sagen, welche Alternativen er sieht. Auf die USA wartet kein verlässlicher Partner in Asien und auf die Europäer höchstens ein autoritäres Russland, das eher durch Stagnation als durch Stabilität gekennzeichnet ist. Wollen das die Amerikaner? Wollen das die Europäer?
Es bleiben Irritationen, die ausgeräumt werden müssen. Die hemmungslose Datensammelwut der NSA gehört dazu, weil sie die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit allzu sehr zulasten des ersteren Zieles verschiebt.
Europäische Nachrichtendienste dürfen der NSA nicht mehr die massenhafte Abschöpfung der „Metadaten“ von Telefonaten und Internet-Kommunikation gestatten. Restriktionen in diesem Bereich dienen übrigens nicht nur dem Datenschutz, sondern auch der Effizienz der NSA, die derzeit durch ein Zuviel an Daten den Heuhaufen ständig vergrößert, in dem sie die Nadel sucht. Allerdings sollte die NSA-Debatte nicht naiv geführt werden. Auch andere Länder, Deutschland eingeschlossen, spionierten und spionieren, sogar in den Hauptstädten ihrer Verbündeten. Und sahen sich die US-Geheimdienste 2011 mit dem Vorwurf konfrontiert, den bevorstehenden arabischen Umbruch nicht vorab ausgespäht zu haben, werden sie jetzt kritisiert, weil sie zu eifrig aufgeklärt haben.
Was die Kapitalismus-Schelte angeht, übersehen die USA-Kritiker drei Punkte: Das Wirtschaftssystem in Amerika unterscheidet sich zwar von europäischen Modellen, weil es größeren Wert auf den Markt und geringeren auf den Staat legt – aber es handelt sich nicht um grundsätzliche Gegenentwürfe, sondern lediglich um Varianten ein- und derselben Idee der Marktwirtschaft, die sich bei allen Problemen jedem planwirtschaftlichen oder freiheitsfeindlichen Experiment gegenüber als überlegen erwiesen hat.
Zum anderen gab es nach 2008 wichtige Reformen in den USA, die den Verbraucherschutz erhöhten, den Derivaten-Markt transparenter machten und die nach dem „Stress-Test“ eine Eigenkapitalquote von fünf Prozent für alle Banken vorschreiben – in der Europäischen Union wird eine Quote (die zugegebenermaßen nicht das entscheidende Kriterium für einen stabilen Bankensektor ist) von nur drei Prozent angestrebt.
Kapitalismus-Schelte
Der dritte Hinweis aber ist der wichtigste: Wer den Kollaps der Märkte im Jahr 2008 und die anschließende weltweite Rezession allein raffgierigen Wallstreet-Bankern anlastet, greift viel zu kurz. Die Politik trägt einen ganz entscheidenden Anteil am Entstehen der Immobilien-Blase, die das Verhängnis einleitete. Präsident Bill Clinton rief die National Homeownership Strategy aus, deren Selbstzweck darin bestand, den Anteil der Eigenheimbesitzer „auf das Allzeithoch von 67,5 Prozent bis zum Jahr 2000“ anzuheben. Denn, so sagte der Demokrat 1995, „wenn wir die Zahl der Eigenheimbesitzer in unserem Land erhöhen, stärken wir die Wirtschaft, schaffen neue Jobs, unterstützen die Mittelklasse und bekommen engagiertere Bürger“.
Um diesen „amerikanischen Traum“ zu verwirklichen, verzichteten Banken beim Kauf von Immobilien auf Anzahlungen und Gehaltsnachweise. Doch der Immobilienmarkt wurde durch den Eingriff des Staates nicht gestärkt, sondern geschwächt. Die Quote der Eigenheimbesitzer stieg auf nahezu siebzig Prozent, um nach der Krise abzustürzen auf derzeit 65 Prozent – das entspricht etwa dem Niveau zum Zeitpunkt von Clintons Rede.
Zurück zur Krise des Westens. Die Abgründe bleiben. Anstatt an ihnen zu tanzen, muss der Westen sich in einer unruhigen Welt auf seine transatlantischen Gemeinsamkeiten und Stärken besinnen. Die Europäer brauchen eine starke Führungsmacht, und die USA brauchen verlässliche Partner.
Ansgar Graw, geboren 1961 in Essen, seit 2009 Auslandskorrespondent in Washington, D. C. (USA), „Die Welt“/„Welt am Sonntag“.