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Entscheiden Institutionen über Wohl und Wehe von Nationen?

Daron Acemoglu, James A. Robinson: Warum Nationen scheitern. Die Ursprünge von Macht, Wohlstand und Armut, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013, 608 Seiten, 24,99 Euro.

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Warum waren in der Geschichte manche Nationen und Imperien zum Untergang verurteilt? Warum stiegen andere aber auf und dominierten sogar die Welt? Kluge Köpfe suchen schon seit Generationen kluge Antworten auf diese beiden Fragen. Das vorliegende Buch unterscheidet sich jedoch radikal von allen anderen, weil hier erstmals behauptet wird, dass ein einziger Faktor über das Schicksal der Nationen entscheidet: „Institutionen bestimmen, ob Nationen erfolgreich sind oder nicht.“ Den Schlüssel zum Erfolg sehen die Verfasser im Aufbau von sogenannten inklusiven Institutionen. Diese erst ermöglichen Fortschritt und Demokratie, schützen die Fähigkeiten und Ideen der Menschen, sichern Bürgerrechte und wirtschaftlichen Wettbewerb. Auf der anderen Seite stehen sogenannte extraktive Institutionen. Sie schützen lediglich die Macht und die Interessen einer autoritären Elite, schließen aber jeglichen Besitz, Mitbestimmung und Freiheitsbestrebung der breiten Bevölkerung aus. Wo und wie sind diese Regeln und Institutionen entstanden? Vor allem im Zusammenwirken von Wirtschaft und Politik – im Guten wie im Schlechten.

Das England der Glorreichen Revolution 1688 bildet für die Autoren den Ausgangspunkt für inklusive Institutionen, weil dort die Kontrolle der Monarchie und der Exekutive ebenso ihren Ursprung hat wie die Entwicklung demokratischer Institutionen und der Marktwirtschaft infolge der Industriellen Revolution.

 

Inklusive und extraktive Institutionen

Im Gegensatz zu dieser weltgeschichtlich gesehen glücklichen Entstehungsgeschichte der inklusiven steht die Ausbreitung extraktiver Institutionen in den feudalistischen Gesellschaftsordnungen Frankreichs, Spaniens, Portugals, Hollands und Russlands. Sie wurden im Zuge von Kolonialismus und Imperialismus in fast alle Weltgegenden getragen und bewirkten Armut. „Mehr noch, die Ertragskraft der europäischen Kolonialreiche stützte sich überall auf der Welt auf die Zerstörung unabhängiger Gemeinwesen oder auf neue extraktive Institutionen, wo dann nach der fast völligen Vernichtung der einheimischen Bevölkerung Sklaven herbeigeholt wurden.“

Ist die Schilderung auch komplexer als hier skizziert, so bleiben die Autoren doch bei der grundsätzlichen Zweiteilung der Geschichte von Reichtum und Armut, von Gerechtigkeit und Unterdrückung. In diesem manichäischen Weltbild kommt es dann konsequenterweise durch die Synergie von extraktiven, das heißt schlechten wirtschaftlichen und politischen Institutionen zu globalen „Teufelskreisen“ von Unterdrückung und Armut. Umgekehrt entstanden durch das Zusammenwirken von guten inklusiven wirtschaftlichen und politischen Institutionen „Tugendkreise“, die sich „bis in die Gegenwart erhalten und den Schlüssel für die Gründe für die Weltungleichheit liefern“. Doch was auf Anhieb zunächst schlüssig klingt, weckt im Verlauf der Lektüre Zweifel, und je mehr der Leser in die Argumentation eintaucht, verstärkt sich der Eindruck, hier werde alter Wein in neuen Schläuchen verkauft: Die inklusiven Institutionen entpuppen sich als nichts anderes als das, was man unter Demokratie und Marktwirtschaft subsumieren kann und was im aktuellen Diskurs in Wissenschaft und Politik unter „guter Regierungsführung“ zusammengefasst wird.

Die extraktiven Institutionen dagegen umschreiben im Kern nichts anderes als das, was schon Robert Michels vor einem Jahrhundert als das „eherne Gesetz der Oligarchie“ bezeichnet hat. Dessen Logik besteht darin, dass eine kleine korrupte Elite sich auch dann reproduziert, wenn eine völlig neue Gruppe das Ruder übernimmt. Gerade die Geschichte der afrikanischen Diktaturen – von den Verfassern anschaulich geschildert – bestätigt, dass Michels vielleicht auch an Karl Marx gedacht hat: Die Geschichte wiederholt sich das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.

Die anregende Fülle und Reichhaltigkeit der Argumentation der beiden Verfasser aber wird im Buch auf zwei Ebenen dargelegt: Auf der ersten geht es um die Unterscheidung von extraktiven und inklusiven Institutionen, auf der zweiten soll erklärt werden, warum in manchen Teilen der Welt gute oder schlechte Institutionen entstanden sind. Es geht also zum einen um eine institutionelle Interpretation der Geschichte, aber auch darum, ob und wie die Geschichte die institutionelle Entwicklung von Staaten beeinflusst hat. Umbruchphasen und Revolutionen entscheiden darüber, ob ein Land einen fortschrittlichen Weg einschlägt oder ob es in Armut und Unterdrückung versinkt.

Zwar verweisen die Autoren auch auf Widersprüche, so etwa darauf, dass extraktive, also schlechte wirtschaftliche und politische Institutionen ökonomischem Fortschritt nicht immer im Wege stehen, wie das Beispiel China zu Beginn des 21. Jahrhunderts eindrucksvoll belegt. Sie sind allerdings der Meinung, dass alle autoritären oder totalitären Regime echte Innovation fürchten, weil diese langfristig ihre Herrschaft untergraben könnte.

Die fulminante Weltgeschichte von ungleicher Macht-, Wohlstands- und Gerechtigkeitsverteilung am roten Faden von institutionellen Faktoren kann nur bedingt überzeugen.

 

Tautologische Irreführung?

Die Unterscheidung zwischen guten – inklusiven – Institutionen, die Wohlstand fördern, und schlechten – extraktiven – Institutionen, die ihn blockieren, erscheint nicht nur tautologisch, sondern kann auch in die Irre führen. Wer wagt heute zu prognostizieren, ob das chinesische Wirtschaftsmodell über den ökonomischen Erfolg hinaus nicht doch weiter Bestand haben wird oder eines Tages nicht nur inklusive Wirtschafts-, sondern auch inklusive politische Institutionen hervorbringen wird?

Umgekehrt zeigt die Geschichte Roms, dass die inklusiven Institutionen der Republik nach Cäsars Tod durch extraktive Institutionen abgelöst wurden. Nach der Logik von Daron Acemoglu und James A. Robinson hätte das den Tod für Roms Wirtschaft bedeuten müssen, doch das Gegenteil war der Fall. Für weitere vierhundert Jahre – einen längeren Zeitraum als von der Industriellen Revolution bis heute – erfreute sich das Römische Reich des Wohlstands und des wirtschaftlichen Fortschritts – trotz extraktiver Institutionen.

Beim Blick auf das heutige Italien fällt auf, dass der Norden ökonomisch gesehen modern erscheint, der Süden hingegen weitaus rückständiger ist und deshalb vom Norden unterstützt werden muss. Doch sind die Institutionen in ganz Italien inklusiv, wenngleich die sozioökonomische Lage im Süden wegen Korruption, geringeren Bildungsniveaus, geringerer Produktivität und wegen mafiöser Gesellschaftsstrukturen extraktiver erscheint. Am Beispiel der bevölkerungsreichsten Demokratie Indien wird wiederum erkennbar, dass trotz inklusiver Institutionen bis heute ökonomische und gesellschaftspolitische Rückständigkeit bestimmend bleibt.

Die Autoren verstehen Wachstum und Erfolg einseitig als innenpolitische Angelegenheit und übergehen, dass über Macht, Wohlstand und Armut vielmehr erst der Wettbewerb zwischen den Nationen entscheidet. Der wichtigste Grund für Niedergang und Armut ist immer noch die kriegerische Niederlage.

Das Beispiel Deutschland zeigt wiederum, dass ein politisch und wirtschaftlich inklusives System wie die Weimarer Republik durch eine extraktiv gesinnte Elite weggefegt werden kann. Das Dritte Reich hingegen beweist, dass schlimmste extraktive politische Institutionen und eine produktive Wirtschaft sowie technologische Innovation durchaus Hand in Hand gehen können. Hitlers Weltherrschaft wurde schließlich durch eine andere hochextraktive Nation, die Sowjetunion, verhindert.

Krieg, Wettbewerb, Wirtschaft und Technologie sind entscheidender für Reichtum und Armut in der Welt als alle Institutionen. Vor allem waren es innereuropäische Rivalitäten, die den Kontinent zum Zentrum der Weltpolitik machten. Überlegene Kriegsführung, technologische Durchbrüche, neue Transportmöglichkeiten und geistig-politische Attraktivität waren entscheidend, auch für die Entwicklung der Institutionen. Dazu spielte die Wechselwirkung zwischen Krieg und technologischer Innovation eine entscheidende Rolle für Macht und Wohlstand.

 

Zentralisierung und geografische Faktoren

Vor allem bleibt es befremdlich, dass die Entstehungsgeschichte von Institutionen in diesem Buch mit dem Zeitalter der Entdeckungen und der Kolonisation gleichgesetzt wird. Es ist nachgewiesen, dass die Entwicklung weitaus früher anzusetzen ist, vermutlich um 6000 v. Chr. Sesshaftigkeit und Landwirtschaft führten dann um 3000 v. Chr. zu ersten Formen von zentralisierter Herrschaft – wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung von Institutionen und Hochkulturen. Gesellschaften mit langer landwirtschaftlicher Tradition sind auch heute noch auf der Reichtumsskala weitaus höher angesiedelt als Länder, die eine kürzere Agrartradition besitzen, wie in Afrika. Valerie Bockstette, Areendam Chanda und Louis Putterman haben erforscht, dass Länder mit einer langen Geschichte von zentraler Regierungsgewalt mehr Wohlstand entwickeln als jene mit kürzerer Tradition. Auf diese Erkenntnisse wird leider nicht hingewiesen.

Besonders störend wirkt die völlige Negierung der geografischen Faktoren. Sie haben aber direkte Auswirkungen auf die unterschiedlichen und gegenläufigen wirtschaftlichen Entwicklungen der Völker. Jared Diamond hat zudem nachgewiesen, dass Wohlstand oder Kollaps zentral von klimatischen Faktoren, von Umweltschäden, feindlichen Nachbarn und freundlichen Handelspartnern und nicht zuletzt von der angemessenen (oder falschen) Reaktion der Völker auf diese Bedingungen abhängt.

So bleibt festzuhalten: Nicht allein Institutionen, sondern Staat und Gesellschaft entwickeln ein Bewusstsein von gegenseitiger Abhängigkeit, in dessen Folge der Grad der Selbstbehauptung darüber entscheidet, ob ein Volk untergeht oder weiterexistiert. Die Autoren missachten auch die geistige Schlüsselrolle von Religion, Ideen und Ideologien. Außerdem: Der Ansporn zu Wettbewerb und Konflikt – beides essenzielle und nicht wegzudenkende Attribute menschlichen Handelns – greift weiter als institutionelle Überlegungen.

So fehlt auch für eine essenzielle Wechselwirkung zwischen Institutionen und Technologie jede Erklärung. Zudem fehlt jeder Hinweis auf nationale Eigenschaften: Wie kommt es, dass Deutschland sowohl unter extraktiven als auch unter inklusiven institutionellen Bedingungen technologisch so erfolgreich war? Sind Institutionen vielleicht doch weniger wichtig als typische Fähigkeiten?

 

Impfwirkung von Institutionen?

Die Zukunftsperspektiven der Verfasser sind leider einseitig optimistisch: Nur inklusive Institutionen stehen für Fortschritt. Sie gleichen einer Impfung gegen alle (gesellschaftspolitischen) Krankheiten, während extraktive Institutionen schlimme Infektionen auslösen. Folglich prophezeien sie heute dem krisengeschüttelten Westen eine optimistische Zukunft, China und andere extraktiv ausgerichtete Länder sehen sie vor dem Abstieg.

Müssen wir aber nicht sehr viel mehr besorgt sein um die wirtschaftliche und politische Zukunft des Westens, der seit der Proklamation des Endes der Geschichte von einem Misserfolg zum anderen, von einer Fehlentscheidung zur anderen taumelt, während autokratischer Staatskapitalismus extraktiver Art beängstigende Erfolge feiert? Weltweites Wahlrecht führt nicht weltweit zu mehr Demokratie, sondern angesichts von Kriegen und Krisen gewinnen Scharlatane und Extremisten an Einfluss – auch in inklusiv ausgerichteten Nationen. Und wer will mit Fug und Recht behaupten, dass Politiker und Wirtschaftsmanager in inklusiven Institutionen im Zuge der Finanz-, Banken- und Eurokrise über ihre Machtinteressen hinaus bereit und in der Lage sind, die Art des Wirtschaftens und der Politik so umzukehren, dass die Herausforderungen bewältigt werden? Auf dieses und anderes Versagen der inklusiven Institutionen in den aktuellen Krisen haben die Verfasser nur gehaltlosen Optimismus anzubieten.

Während die Zukunftserwartungen der jüngeren Generation von behäbigen Demokraten verspielt werden, verhindert die wachsende Verschuldung inklusiver Nationen eine gemeinsame Lösung in Europa. Die immer weiter um sich greifende Eurokrise, die Staatsverschuldung der USA und weiterer Demokratien wie Japan sowie die um sich greifende Gesellschaftskrise der westlichen Demokratien beschwören auch die Gefahr, dass inklusive Institutionen sich schleichend in extraktive verwandeln können.

Transnationale Institutionen, die heute zunehmend Wirtschaft und Politik über Europa hinaus beeinflussen, wie EU, UNO, NATO sowie IWF und Weltbank, haben eine wachsende Bedeutung für den grundsätzlichen Faktor Wettbewerb zwischen den Nationen und speziell für den zwischen jenen mit inklusiven und jenen mit extraktiven Institutionen.

Dazu schweigen die Autoren ebenso wie zu der gesamten Palette der Bedingungsfaktoren für die Erklärung von Aufstieg oder Niedergang von Nationen im Verlauf der Geschichte.

 

Christian Hacke, geboren 1943 in Clausenhof, emeritierter Professor für Politische Wissenschaft an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

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