Asset-Herausgeber

Barrierefreiheit als Wettbewerbsvorteil

von Carsten Dethlefs

Marktwirtschaftliche Prozesse ermöglichen Inklusion und Teilhabe

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Quer durch die Parteienlandschaft werden „Inklusion“ und „Teilhabe“ von Menschen mit Behinderung diskutiert. Die Parteien demonstrieren Empathie und den Anspruch, den vermeintlich schwächsten Gesellschaftsmitgliedern helfen zu wollen. Als selbst Betroffener kann man jedoch den Eindruck gewinnen, dass sich dahinter oft politische Kosmetik statt ernst gemeinter Handlungswille verbirgt. Ich bin seit meinem vierten Lebensjahr vollständig erblindet, CDU-Kommunalpolitiker in Heide, Altstipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung und promovierter Ökonom. Zwei Aspekte möchte ich beim Thema Inklusion und Marktwirtschaft besonders in den Fokus rücken: das paternalistische Politikverständnis und die Egoismen der Sozialverbände.

Zunächst muss man sich jedoch klarmachen, was genau eine Behinderung ist. In Paragraph 2 des Sozialgesetzbuches IX heißt es: „Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Menschen sind von Behinderung bedroht, wenn eine Beeinträchtigung nach Satz 1 zu erwarten ist.“

Aus dieser Formulierung könnte ein universeller Betreuungsanspruch abgeleitet werden. Es stellt sich jedoch die Frage, ob die Repräsentation der Betroffenen auf diese Weise garantiert und in geeigneter Form gegeben ist. Die Politik ist hierfür ein guter Prüfstein. Sie soll in einer funktionierenden Demokratie von jedermann für jedermann ausgeübt werden können. Aber wie viele politisch handelnde Personen mit Handicap kennen Sie? Neben Wolfgang Schäuble fallen den meisten wohl kaum weitere Akteure ein. Dabei beträgt der Anteil der Menschen mit Behinderung bundesweit etwa zehn Prozent der Gesamtbevölkerung. Durch die Alterung in unserem Land und die größere Wahrscheinlichkeit, hochbetagt auch körperlich behindert zu sein, nimmt dieser Anteil stetig zu. Die politischen Akteure sprechen also oftmals von Teilhabe; in ihren eigenen Reihen lässt sie jedoch stark zu wünschen übrig.

In erster Linie behandeln Diskurse Fragen der Versorgung, jedoch nicht der Ertüchtigung oder Einbeziehung in politische Aktivitäten. Dabei gab es in den USA bereits Anfang des 20. Jahrhunderts mit Thomas Pryor Gore (1870–1949) den ersten blinden Top-Politiker. Der Urgroßvater von Al Gore war Senator von Oklahoma. Er bewies, dass Menschen mit Behinderung bereits lange vor der Erfindung technischer Hilfen ein leitendes politisches Amt ausüben konnten. Heutzutage gibt es eine Vielzahl technischer Hilfen, die es auch blinden Menschen erlauben, produktiv und konstruktiv zu arbeiten. Über die Existenz dieser Hilfsmittel und die zuständigen Kostenträger wird vonseiten der Selbsthilfeverbände allerdings wenig informiert. Somit bleiben vielfältige Barrieren in den Köpfen aller Beteiligten bestehen und Potenziale ungenutzt. Die Angst der Verbände, sich selbst überflüssig zu machen, sobald die Mitglieder der vertretenen Gruppe zu autonom werden, ist deutlich spürbar.

Natürlich ist man mit einer Behinderung eingeschränkt. Mit einem Rollstuhl kommt man keine Treppe hinauf, und ein Blinder erkennt keine Straßenschilder. Es gibt jedoch kreative Lösungen. So sind einige Produktentwickler sehr viel weiter, als dies vielfach kommuniziert wird. Das iPhone ist nur eines der allseits bekannten Geräte; es lässt sich von blinden Menschen über bestimmte Applikationen fast vollständig über die Sprache steuern und kann große Teile der Umwelt wahrnehmen. Treppenlifte oder Fahrstühle ermöglichen es motorisch eingeschränkten Personen, mit wenig Aufwand von Etage zu Etage zu gelangen. Gebärdensprache gewährleistet die Verständigung zwischen Hörenden und gehörlosen Personen. Dolmetschende Personen können online zugeschaltet werden.

Diese Beispiele zeigen, dass sich Menschen mit und ohne Behinderung oft, wenn auch noch nicht in jeder Lebenslage, auf Augenhöhe begegnen können. Ein Beispiel für den Fortschritt auf dem Feld der möglichen Teilhabe ist meine eigene Behinderung: Augenlicht ist für die Nutzung innovativer Produkte nicht durchgängig nötig. Blinde sind hier nicht stark benachteiligt. Der Markt ist in diesen Fragen weiter als unsere vorherrschenden Meinungen und die Sorgen vieler Verbände.

Einen Ausweg aus der Paternalismusfalle bietet die Ausrichtung eines Faches, das ich seit 2016 an der Fachhochschule Westküste in Heide lehre. Es heißt: „Menschen mit Behinderung als Zielgruppe – Barrierefreiheit als Wettbewerbsvorteil“. Sobald man Menschen mit Behinderung nicht mehr nur als Kostenfaktor wahrnimmt, sondern als zu erobernde, wachsende Zielgruppe, beweist die Marktwirtschaft ihren wahrhaft sozialen Charakter. Durch die Herstellung barrierefreier Angebote konkurrieren Unternehmen um eine wachsende Zahl von Konsumenten und ermöglichen ihnen somit weitreichendere Teilhabemöglichkeiten. Der Wettbewerb lässt das passendste Produkt für die Überwindung jeder Beeinträchtigung hervortreten. Wenn hierdurch höhere Kosten für die Betroffenen oder die Produzenten entstehen, können und sollten Kostenträger auf den Plan treten – aber auch nur dann. Viele Produkte, die eine Win-win-Situation ermöglichen, sind aktuell bereits weit verbreitet. Die Aufklärung darüber sollten die Betroffenen zunehmend selbst, jenseits bestehender Verbandsstrukturen, in die Hand nehmen. Die kommerzielle Werbung kann und sollte ihren eigenen Beitrag leisten.

Alfred Müller-Armack, der Schöpfer des Begriffs der Sozialen Marktwirtschaft, hätte heute wahrscheinlich seine helle Freude an den jüngsten Entwicklungen auf dem Feld des Marktes mit inklusiven Produkten. So beschrieb er die Soziale Marktwirtschaft in seinem Buch Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft aus dem Jahr 1947 als einen „der Ausgestaltung harrenden, progressiven Stilgedanken“. Dieser Wirtschaftsform waren und sind somit keine Grenzen gesetzt – und damit auch nicht der Ausweitung auf die beschriebene Art von Produkten. Dies zeigt nur allzu deutlich, wie marktwirtschaftliche Prozesse motiviert werden können, um sozialen Nutzen zu stiften. Wo es eine Zielgruppe gibt, ist auch ein schöpferischer Prozess.

Ludwig Erhard, der wohl bekannteste Vertreter der Sozialen Marktwirtschaft, war selbst – so berichten es Biographen – aufgrund einer Kinderlähmung in seinem Bewegungsablauf eingeschränkt. Aber wer erinnert sich schon daran? Im Kopf haben wir nur das ikonische Bild von Erhard mit der Zigarre im Mund. Er hat es vorgemacht: Wahre Inklusion ist erst dann vollständig erreicht, wenn das eigene Handicap zur Nebensache wird.

Die Voraussetzungen hierfür sind gegeben. Man sollte nur mehr auf freiheitliche, marktwirtschaftliche Prozesse vertrauen als auf Paternalismus und Verbandsstrukturen. In einer freiheitlichen Demokratie darf es keine Staatsbürger erster und zweiter Klasse geben. Jedermann muss die Chance haben, sich durch eigene Anstrengungen voranzuarbeiten. Behinderungen dürfen dabei nicht im Wege stehen.

 

Carsten Dethlefs, geboren 1980 in Heide, promovierter Ökonom, seit 2011 Mitglied des Promotionskollegs Soziale Marktwirtschaft der Konrad-Adenauer-Stiftung, seit 2018 freiberuflicher Coach und Berater.

 

Bei dem Beitrag handelt es sich um den dritten Teil der Serie „Mensch und Wirtschaft“, die in der Mai/Juni-Ausgabe 2021, Nr. 568, der Zeitschrift Die Politische Meinung eröffnet wurde und in der Mitglieder des Promotionskollegs Soziale Marktwirtschaft der Konrad-Adenauer-Stiftung Fragen zur Sozialen Marktwirtschaft erörtern.

 

Teil 1:

Hans Rusinek: Arbeit for Future? Von montags bis freitags die Welt retten, DPM 568 Mai/Juni 2021, S. 77-80, www.kas.de/de/web/die-politische-meinung/artikel/detail/-/content/arbeit-for-future.

 

Teil 2:

Rolf H. Hasse, Maximilian Kutzner: Zukunftspotenzial Soziale Marktwirtschaft. Eine kluge Ordnungspolitik für Klimaschutz, Digitalisierung, Bildung und Demografie, DPM 569 Juli/August 2021, S. 106-110, www.kas.de/de/web/die-politische-meinung/artikel/detail/-/content/zukunftspotenzial-soziale-marktwirtschaft

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