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Nachhaltigkeit global: Bericht aus Indien

von Peter Rimmele

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Indien ist eines der größten Entwicklungsländer der Welt und besitzt nach China mit 1,37 Milliarden Menschen die zweithöchste Einwohnerzahl. Bis 2030 wird Indien China voraussichtlich überholt haben; dann leben in Indien zwanzig Prozent der Weltbevölkerung.

Laut NITI Aayog, der Nationalen Institution für die Transformation Indiens, ist es gelungen, „die Inzidenz mehrdimensionaler Armut zu halbieren und 271 Millionen Menschen aus den am stärksten gefährdeten Teilen der Gesellschaft aus der Armut zu befreien“. Millionen Arme müssen jedoch weiterhin mit weniger als zwei US-Dollar pro Tag auskommen. Die Corona-Pandemie hat das Land hart getroffen. Mit nahezu 400.000 bekannten täglichen Neuinfektionen und rund 3.500 gemeldeten Todesfällen täglich (es ist jeweils von einer sehr hohen Dunkelziffer auszugehen) sowie rund 3,5 Millionen aktiv Infizierten ist das indische Gesundheitssystem Anfang Mai 2021 am Rande des Zusammenbruchs angelangt. Die Millionenmetropolen sowie teilweise komplette Staaten Indiens befinden sich im mehrwöchigen Lockdown. Die Folgen dieser Pandemie werden nicht nur das Wirtschaftswachstum, sondern auch die Bemühungen um Nachhaltigkeit und soziale Fortschritte bremsen. Umso mehr steht Indien vor großen Herausforderungen. Genannt seien etwa soziale Verschiebungen und damit einhergehende Änderungen des Lebensstils und die massiven Umweltprobleme vielerorts. Die wirtschafts- und umweltpolitischen Entscheidungen, die das Land künftig trifft, werden fraglos globale Auswirkungen haben.

Indiens wachsende Infrastruktur lässt die weltweite Nachfrage nach Baustoffen, etwa Zement und Stahl, deren Produktion sehr energieintensiv ist, steigen. Das Land verfügt über vielfältige Ressourcen und ein großes Reservoir an Arbeitskräften, und es sondiert derzeit die Möglichkeiten, in direkter Konkurrenz zu China den weltweiten Bedarf an Rohstoffen zu bedienen. Indiens Umgang mit seinen Ressourcen wird die Angebotsseite der Industrie weiter befeuern und ist unter nachhaltigen Gesichtspunkten herausfordernd.

Laut India Energy Outlook 2021 hat sich der Energieverbrauch im Land seit 2000 verdoppelt, wobei Kohle, Öl und feste Biomasse achtzig Prozent des Bedarfs decken. Der Energieverbrauch und die Emissionen pro Kopf betragen allerdings weniger als die Hälfte des weltweiten Durchschnitts. Das gilt derzeit auch noch für andere Schlüsselindikatoren, wie Fahrzeugbesitz oder die Stahl- und Zementproduktion. Trotz steigenden Energieverbrauchs liegen die Pro-Kopf-Treibhausgasemissionen Indiens unter dem G20-Durchschnitt und werden ihn auch in naher Zukunft noch unterschreiten.

Nicht unproblematisch ist, dass Indiens Wachstum noch auf fossilen Brennstoffen basiert. Der Kohleverbrauch steigt, und die Städte sind einer erheblichen Umweltverschmutzung ausgesetzt – besonders spürbar ist das in Großstädten wie Neu-Delhi oder Mumbai. Indien lag zwischenzeitlich auf Platz drei der Länder mit den höchsten CO2-Emissionen.

Indien hat jedoch erhebliche Fortschritte bei der Einführung umweltfreundlicher Technologien vorzuweisen. In seiner Rede anlässlich des G20-Gipfels 2015 formulierte Premierminister Narendra Modi das ambitionierte Vorhaben, wie Indien auf nationaler Ebene die von den Vereinten Nationen vereinbarten Ziele für nachhaltige Entwicklung zu erreichen plant – nicht ohne die künftige globale Rolle seines Landes insgesamt zu skizzieren. Modi versprach, bis 2022 eine zusätzliche Kapazität von 175 Gigawatt erneuerbarer Energien zu schaffen, die Subventionen für fossile Brennstoffe zu kürzen, eine Steuer auf Kohle zu erheben und einen National Clean Energy Fund in Höhe von drei Milliarden US-Dollar zur Förderung sauberer Technologien einzurichten.

Den Beschlüssen des Pariser Klimaabkommens folgend, hat Indien ehrgeizige Klimaziele. Bis 2030 will es den Anteil von Wind- und Solarenergie, Biomasse, Wasserkraft, aber auch Kernenergie an der gesamten Stromerzeugung auf vierzig Prozent steigern. Gleichzeitig soll der CO2-Ausstoß um mindestens 25 Prozent gesenkt werden. Angestrebt werden 450 Gigawatt erneuerbare Energien. Die Frage der Realisierbarkeit wird zu Recht diskutiert; dennoch ist diesem ernst gemeinten Bestreben Anerkennung zu zollen.

Indien engagiert sich auch im Rahmen der G20 für Nachhaltigkeit und die Bewältigung der Folgen des Klimawandels. Eines der wichtigsten Ergebnisse war die Gründung der International Solar Alliance (ISA), in der die Konrad-Adenauer-Stiftung einen Beobachterstatus innehat. Die ISA wurde 2015 von Premierminister Modi und dem damaligen französischen Präsidenten François Hollande auf den Weg gebracht. Ihre Gründung war eine der ersten weltweiten Initiativen Indiens.

Die ISA hat sich zu einer Durchführungsorganisation entwickelt, die sich vornehmlich mit dem beschleunigten Einsatz von Solartechnik befasst. War die Mitgliedschaft zunächst auf Länder im Tropengürtel der Erde beschränkt, ist die Allianz seit der Änderung der Rahmenvereinbarung 2018 zur Universalisierung der Mitgliedschaft enorm gewachsen. 2020 hatten bereits neunzig Länder das ISA-Rahmenabkommen unterzeichnet.

Obgleich Indien kein bedeutender Hersteller oder Technologieriese auf dem Gebiet der Solarenergie ist, hat es sich eine Führungsposition in der ISA erarbeitet. Indien setzt auf Sonnenergie. So beabsichtigt das Land, seinen Landwirten etwa 1,7 Millionen Solarpumpen zur Verfügung zu stellen. Indiens Bestreben, den Ausbau der Solarenergie voranzutreiben und praktisch umsetzbare Lösungen für Entwicklungsländer bereitzustellen, wird weltweit anerkannt.

Eine von Indiens Schlüsselinitiativen ist das Programm One Sun, One World, One Grid (OSOWOG, „eine Sonne, eine Welt, ein Stromnetz“). Es wird häufig mit der chinesischen Seidenstraßeninitiative verglichen, doch konzentriert es sich vorrangig auf die Förderung und Gewährleistung des Zugangs zu Solarenergie. Geplant ist ein globaler Konsens über die Aufteilung der Solarressourcen.

Die genannten Initiativen belegen Indiens wachsende Rolle im globalen Wettbewerb um mehr Nachhaltigkeit. Das Land ist nicht mehr nur Anwender von Normen, sondern es setzt sie inzwischen selbst. Indiens zunehmende Präsenz im globalen Nachhaltigkeitsdiskurs ist auch Ausdruck dafür, dass man neue Wege beschreiten, neue Initiativen entwickeln will und bereit ist, herausfordernde Aufgaben zu übernehmen. Indien hat seine globale Statur und seine bilateralen oder multilateralen Beziehungen immer auf seiner umfassenden Soft Power aufgebaut. Indiens Führungsposition in der ISA stärkt zudem das Vertrauen anderer Entwicklungsländer, mutige Initiativen zu ergreifen. Obwohl das Land vor einer Reihe von Entwicklungsherausforderungen steht, präferiert es umweltfreundliche und nachhaltige Lösungen, die erhebliche Finanzmittel und Kapazitäten erfordern werden.

In den letzten zehn Jahren hat sich Indien zu einer starken Stimme im globalen Klimadialog entwickelt. Indien ist zu einem Land geworden, das herausfordernde und komplexe Initiativen ergreift und darauf hinarbeitet, diese umzusetzen – langsam, stetig und mit erstaunlichen Ergebnissen.

 

Peter Rimmele, Leiter des Auslandsbüros Indien der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Sitz in Neu-Delhi

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