Asset-Herausgeber

von Reinhard Mohr

Anmerkungen zu politischer Korrektheit und Gendergerechtigkeit

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Als in den 1960er- und 1970er-Jahren zum letzten Mal in großem Stil, auf der Straße wie im Hörsaal, in der Wissenschaft wie auf Massenversammlungen, über eine sozialistische Alternative zum Kapitalismus gestritten wurde, war der Begriff „Politische Korrektheit“ praktisch unbekannt.

Was hätte er auch bedeuten sollen? Anständige Politik? Eine ziemlich spießbürgerliche Idee. Auch die Vorstellung, es gebe nur eine einzige, eben politisch „korrekte“ Sicht auf die Welt, wäre kaum jemandem in den Sinn gekommen. Selbst leidenschaftliche Linksradikale konzedierten, dass es konservative, liberale und libertäre, reaktionäre wie revolutionäre Interpretationen der gesellschaftlichen Wirklichkeit gab. Im imaginierten Klassenkampf gab es zwar kein Pardon, aber die Idee eines für alle verbindlichen Sprachcodes wäre den meisten Kontrahenten absurd erschienen. Man stritt über große Gesellschaftstheorien und studierte dicke Bücher von Karl Marx, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse und Jürgen Habermas. Ganz Tapfere kämpften sich sogar durch die Werke ihrer politischen Gegner wie Carl Schmitt und Martin Heidegger.

Heute tut es ein kurzer Tweet, der sich in Windeseile verbreitet. Als würde sich eine neue Aktion „Saubere Leinwand“ – die Älteren erinnern sich – in alle Lebensbereiche ausbreiten, treten überall Hausmeister der guten Sache auf, „Blog-Warte“ der einzig richtigen Gesinnung und Sprachpolizist*innen mit dem linguistischen Handmikroskop, um allfällige Verstöße gegen die politische Korrektheit zu melden und möglichst umgehend zu ahnden. „Toxisches“ Vokabular wird überall dingfest gemacht, und das betrifft längst nicht mehr nur Klassiker wie das „ Zigeunerschnitzel“, den „Mohr im Hemd“ oder den „Negerkuss“. Wer hier nicht auf dem letzten Stand ist, muss nachsitzen, etwa beim Thema „Transphobie“, einem Neologismus, den selbst gebildete Menschen erst einmal googeln müssen.

Der „Shitstorm“ im grenzenlosen Riesenreich der „Sozialen Medien“ ist zum Menetekel der Zeit geworden. Selbst die lobenswerte Kampagne des Bundesverkehrsministeriums für Fahrradhelme, bei der „halbnackte Models“ zu sehen waren, wie ausgerechnet der Stern monierte, geriet im Handumdrehen unter „Sexismus“-Verdacht. Bevor es um die Sache selbst, den Schutz vor Kopfverletzungen bei Stürzen vom Fahrrad, geht, werden Bildmotive diskreditiert, die wahrscheinlich von einer jungen, hippen Werbeagentur ausgesucht wurden.

 

Die Semantik bestimmt das Bewusstsein

 

Hinter all dem verbirgt sich ein Phänomen, das auf den ersten Blick so gar nicht zum fortschrittlichen Pathos der selbsternannten Sprachaufseher zu passen scheint: die Verbesserung der Welt durch die flächendeckende Endkontrolle der Wörter, mit denen sie beschrieben werden darf. Nicht mehr das Sein bestimmt das Bewusstsein, wie Karl Marx sagte, sondern die Semantik – bis in die letzte Alltagsformulierung hinein. Mit der Kraft der richtigen Worte sollen Berge versetzt werden. Sie wolle ab sofort „bewusster fliegen“, versprach die Klimaaktivistin Luisa Neubauer, die deutsche Greta.

Galt einst Ferdinand Lassalles aufklärerische Parole „Sagen, was ist!“, so herrscht nun das Dogma des vorauseilenden Euphemismus, der die perfekte Welt von morgen antizipiert. Aldous Huxleys Schöne neue Welt lässt grüßen. Vor einigen Jahren prangerte die „Nationale Armutskonferenz“ gleich zwei Dutzend „Unwörter“ an, darunter das so unschuldig und pragmatisch daherkommende Attribut „alleinerziehend“. Schon die schlichte Feststellung einer sozialen Tatsache gilt als kränkend, beleidigend und verletzend.

Daher ist ein notorisch schlechter Schüler nun „ein vom Bildungswesen nicht Erreichter“, Flüchtlinge heißen „Geflüchtete“ oder „Schutzsuchende“ – was wäre hier eigentlich die korrekte weibliche Form? – und Dezernenten, jedenfalls in Hannover, seit dem Jahreswechsel „Dezernent*innen“. „Fahrzeugführende“ begegnen auf der Straße möglicherweise „Idiotinnen“. So viel Geschlechtergerechtigkeit muss sein. Im Münchner Rathaus wurden jüngst gar „Anwesend*Innen“ begrüßt. In derselben diskriminierungssensiblen Logik sollen „Unisex-Toiletten“ eine repressive „Selbstkategorisierung in das binäre Geschlechtersystem“ verhindern, wie es in der Drucksache DS/0550/IV der Bezirksverordnetenversammlung Friedrichshain-Kreuzberg von Berlin heißt.

 

Bloß keine „hübschen“ Töchter!

 

Bereits im Kinderzimmer lauern die Gefahren einer patriarchalisch-rassistisch-sexistischen Indoktrinierung, für die alte, nicht selten schon tote weiße Männer die Verantwortung tragen. Das schlimmste Vergehen neben einer Verkleidung als Indianer im Karneval: die Verfestigung der genderungerechten Geschlechtertypologie. Rosa Kleidchen und blaue Jungs-Strampler sind da ebenso fragwürdig wie der Stolz der Eltern auf ihre hübsche kleine Tochter. „Stark ist das neue hübsch“, schrieb die Autorin Hatice Akyün in ihrer Kolumne für den Berliner Tagesspiegel und dekretierte im Namen einer alle Rollenklischees vermeidenden Gender-Gerechtigkeit: „Wir müssen aufhören, unsere Töchter hübsch zu finden.“ Ob auch Väter ihre bärenstarken Buben nun nicht mehr hübsch finden dürfen, bleibt vorerst ungeklärt.

„Die Gender-Mainstreamenden haben einen Beistandspakt geschlossen mit Political Correctness, Sprach-Säuberern sowie deren Wächtern, mit Religionsmissionaren, Anti-Aufklärern aller Couleur, militanten Veganern und sonstigen Entsagungsfanatikern“, resümierte die Schriftstellerin und Poetik-Professorin an der Berliner Ernst-Busch-Schauspielschule, Kerstin Hensel, schon 2015 im Deutschlandfunk den Stand der Dinge.

„Schauspielerinnen wollen keine klassischen weiblichen Rollen mehr spielen, weil von Molière bis Müller alle Dramatiker Sexisten seien. Professoren und Professorinnen werden von Studentinnen ausgepfiffen oder mit Ignoranz bestraft, wenn sie nicht im Femininum ihre Vorlesung halten.“

An amerikanischen Universitäten ist das alles lange schon Alltag. Da werden „Safe Spaces“ eingerichtet, sichere Räume also, in denen die „Student*innen“ jeglicher Herkunft nicht mit verbalen „Mikroaggressionen“ oder sie in irgendeiner Weise seelisch und moralisch überfordernden Texten, Meinungen und Tatsachen konfrontiert werden. Shakespeares Richard III. ist da natürlich keine Option mehr; Pippi Langstrumpf schon eher. Dafür sorgen entsprechende „Trigger-Warnings“, die wie Alarmanlagen für unerwünschte Inhalte funktionieren. So verlangten Studenten der Columbia University (New York), Professoren müssten sie vor dem traumatisierenden Inhalt von Ovids Metamorphosen warnen. Auf Drängen von Studentinnen der Northwestern University (Illinois), berichtet ein amerikanischer Professor, wurde ein Disziplinarverfahren gegen eine Professorin eingeleitet, die erklärt hatte, dass die Missbrauchsangst bei Liebeleien auf dem Campus übertrieben werde.

Hier wird schon das schlichte Äußern einer anderen, unliebsamen Meinung zur Ordnungswidrigkeit, wenn nicht zur Strafsache erklärt. Als Bundespräsident Joachim Gauck 2013 das Wort vom „Tugendfuror“ in den Mund nahm, warfen ihm Protagonistinnen der „#AufschreiDebatte“ in einem offenen Brief vor, er bringe „erniedrigende, verletzende oder traumatisierende Erlebnisse sowie das Anliegen, diese Erfahrungen sichtbar zu machen, in Verbindung mit dem Begriff Furie“. Das hatte Gauck zwar gar nicht gesagt, aber die Initiatorin, eine junge Studentin, legte gleich nach: „Wenn man so ein supereigenartiges Wort wie Tugendfuror liest, tut das weh und macht wütend.“

 

Hang zum „Social Engineering“

 

Hätte sie im Geschichtsunterricht aufgepasst, dann wüsste sie, dass dieses supereigenartige Wort schon zu Zeiten der Französischen Revolution und Robespierres Tugendfuror in Gebrauch war, der zum blutigen Terror wurde. Frauen waren damals freilich nur als interessierte Zuschauerinnen der Massenhinrichtungen  per Guillotine erwünscht.

Hinter all diesen – übrigens komplett humorlosen und ironiefreien – Versuchen, die Welt von falschen Worten wie falschen Ansichten zu säubern, steckt ein totalitärer Impuls. Er ist ein Verfallsund Ersatzprodukt für das, was vor rund fünfzig Jahren die „konkrete Utopie“ einer anderen, radikal befreiten, also irgendwie sozialistisch-emanzipierten Gesellschaft war. Damals ist die Sache am Ende im Sande verlaufen.

Nun sind es vor allem junge Gender-Aktivistinnen wie Margarete Stokowski, Mely Kiyak, Sophie Passmann und Ferda Ataman, die das Projekt als überzeugte Volkspädagoginnen mit Hang zum „Social Engineering“ weiterverfolgen, bei dem das Sein dem Design folgen soll. Den zentralen Widerspruch ihrer Argumentation bemerken sie gar nicht: Sie feiern „Diversity“, die „bunte“ Gesellschaft der Vielfalt und Unterschiedlichkeit von (immer mehr) Identitäten, Geschlechtern, Ethnien und Kulturen, bekämpfen im selben Atemzug aber den – selbstverständlich kritischen – Diskurs über Unterschiede und ihre Folgen mit dem allgegenwärtigen Schlachtruf der „Diskriminierung“. Motto: Alles ist anders, aber alles ist gleich. So sind die Fans der „Diversity“ die eigentlichen Gleichmacher.

Diese Mischung aus politischer Korrektheit, Gendergerechtigkeit und einem reflexhaften Antirassismus atmet die stickige Luft einer Überwachungs- und Verwaltungsbehörde, in der weder ein kreativer Geschichtsoptimismus noch der Geist der Freiheit zu Hause ist. Aus dem Subjekt der Geschichte droht das Objekt einer allwissenden Weltverbesserungsbürokratie zu werden. Noch ist diese Perspektive nur die Kopfgeburt einer Minderheit, deren akademische Fußtruppen erste Enklaven unserer Gesellschaft erobert haben.

Um zu verhindern, dass sie sich weiter ausbreiten, bedarf es scharfen Widerspruchs – ob im Uni-Seminar, in der Polit-Talkshow oder im Deutschen Bundestag.

 

Reinhard Mohr, geboren 1955 in Frankfurt am Main, Journalist, Autor und Publizist. Nach dem Studium der Soziologie arbeitete er für das Frankfurter Stadtmagazin „Pflasterstrand“, später die „tageszeitung“, die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ und den „Stern“. Von 1996 bis 2004 war er Kulturredakteur beim „Spiegel“. Heute lebt er in Berlin und schreibt als freier Autor unter anderem für die „Welt am Sonntag“.

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