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von Matthias Kopp

Der Besuch von Papst Franziskus im Irak

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„Gott hat Euren Brüdern, den Gotteskriegern, Sieg und Erfolg beschert, weshalb sie zur Ausrufung des Kalifats eilten und einen Kalifen wählten.“ Am 29. Juni 2014 ging dieser Gewaltaufruf des religiösen Fanatismus vom nordirakischen Mossul aus: Man wolle das Kalifat bis Rom ausdehnen und den Papst töten. So propagierte der selbsternannte Kalif Abu Bakr al-Bagdadi, Führer des Terrorregimes des Islamischen Staates (IS), seine Schreckensherrschaft. Geopolitische Strategien wichen immer mehr einem theopolitischen Anspruch. Die Gottesherrschaft des Kalifats sollte eine globale Größe werden.

Fast sieben Jahre später steht an diesem Ort, wo das Kalifat und die Ermordung des Papstes angekündigt wurden, dieser selbst, Franziskus, in den Ruinen von Mossul. Im Anblick der Trümmer mehrerer Kirchen betet er für den Frieden. Es war vielleicht der dichteste Moment der viertägigen Reise vom 5. Bis 8. März 2021, die Franziskus ins Zweistromland führte, inmitten auch der Corona-Pandemie. Deren Gefahren und die prekäre Sicherheitslage scheute er nicht, um dem roten Faden seines Pontifikats zu folgen, an die „Ränder der Gesellschaft“ zu gehen.

Erinnert man sich an die Christenverfolgung des 21. Jahrhunderts durch den IS in Mossul und in den vielen Dörfern und Städten der Ninive-Ebene, verbunden mit dem Vernichtungsfeldzug gegen die religiöse Minderheit der Jesiden, ist es umso erstaunlicher, dass seit drei Jahren die einst Verfolgten langsam zurückkehren. Der IS hatte kurz vor seinem Ende in Mossul verbrannte Erde hinterlassen, Häuser in die Luft gesprengt und vermint, was zu verminen war. Deshalb stehen die Rückkehrer vor dem buchstäblichen Nichts. Aber sie eint eines: Man will – als Christen und Jesiden – am Aufbau dieses Landes und seiner Zivilgesellschaft mitwirken.

Diese Mitwirkung am Aufbau forderte Papst Franziskus von der irakischen Regierung und der Bevölkerung ein, als er gleich mehrfach nicht nur die Notwendigkeit einer friedlichen Koexistenz anmahnte, sondern zugleich den berechtigten Platz der Minderheiten mit allen Bürgerrechten und -pflichten betonte: „Die Präsenz der Christen in diesem Gebiet seit uralten Zeiten und ihr Beitrag zum Leben dieses Landes stellen ein reiches Erbe dar, das die Kirche im Dienste aller nach Möglichkeit fortführen möchte. Ihre Teilnahme am öffentlichen Leben, als Bürger, die volle Rechte, Freiheit und Verantwortung genießen, wird Zeugnis davon ablegen, dass ein gesunder religiöser, ethnischer und kultureller Pluralismus zum Wohlstand und zur Harmonie des Landes beitragen kann“, sagte Franziskus im Präsidentenpalast von Bagdad.

Mossul war durch den historischen Besuch des Papstes von der Hauptstadt des organisierten Terrors zur Hauptstadt einer neuen Geschwisterlichkeit in Solidarität und Verantwortung füreinander geworden. „Wie grausam ist es, dass dieses Land als Wiege der Zivilisation von einem so unmenschlichen Sturm heimgesucht worden ist, der […] Abertausende von Menschen – Moslems, Christen, Jesiden […] und andere – gewaltsam vertrieben oder getötet hat!“, so Franziskus. Seine Botschaft war eine gegen die Angst und für ein Verbleiben.

 

Hoffnung stärker als der Tod

 

Die Geschwisterlichkeit sei stärker als der Brudermord, die Hoffnung stärker als der Tod, der Friede stärker als der Krieg. Terrorismus und Tod dürften niemals das letzte Wort haben. Es brauche Vergebung, um Heilung zu ermöglichen: „Wir sagen ein klares ‚Nein‘ zum Terrorismus und zur Instrumentalisierung der Religion.“ Er erinnerte an die „unschuldigen Opfer sinnloser und unmenschlicher Barbarei, die wegen ihrer Religionszugehörigkeit verfolgt und getötet wurden und deren Identität und Überleben selbst gefährdet war. […] Die Waffen sollen schweigen! […] Genug der Gewalt, des Extremismus, der Gruppenbildungen und der Intoleranz!“, so Franziskus in seinem Appell zu nationaler Versöhnung.

Die Reise wurde zu einer Ermutigung für Christen und Jesiden. Der Terror des IS zwang 3,2 Millionen Menschen zur Flucht. Heute leben rund 39,3 Millionen Menschen im Irak (1997: 22 Millionen). Zur größten Fluchtgruppe gehören die Christen, die im ersten Exodus nach dem Sturz Saddam Husseins das Land verließen und dann systematisch vom IS vertrieben oder ermordet wurden. Hinter den nüchternen Zahlen steht jeweils ein individuelles Schicksal: Schätzte man die Christen um das Jahr 2000 noch auf 6,6 Prozent der Bevölkerung (damals knapp 1,45 Millionen Menschen), sind es heute maximal 1,5 Prozent (585.000 Menschen), von denen die chaldäische Kirche die größte Gruppe ist, gefolgt von den assyrisch-orthodoxen, lateinischen, syrisch-katholischen und armenischen Gläubigen. Angesichts dieser Zahlen warb der Papst für ein partizipatives, die Grundrechte aller Menschen anerkennendes Gesellschaftsmodell jenseits der Spaltungen des Konfessionalismus. Die ethnische und religiöse Vielfalt des Landes ist nach Überzeugung von Franziskus Ausdruck einer eigenen irakischen Identität, die vom IS vernichtet werden sollte. Die Katastrophen „der Kriege, der Geißel des Terrorismus und konfessionellen Konflikte“ seien auf einen Fundamentalismus zurückzuführen, der die friedliche Koexistenz gefährde. Sein Flehen gegen Diskriminierung und Verfolgung war ebenso unmissverständlich wie die Forderung, dass nur ein vereinigter Irak mit allen Religionen und Ethnien für einen Frieden im Zweistromland arbeiten könne. Es gehe um Einheit in einer oft zersplitterten und von Spaltungen zerrissenen Welt. Die Wunden in den Herzen müssten überwunden und die Freiheit aller religiösen Bekenntnisse erreicht werden.

 

Auf den Spuren Abrahams

 

An diesen Äußerungen zeigt sich – neben der Stärkung der christlichen Minderheit und einem Aufruf an die zivilgesellschaftliche Verantwortung aller Iraker – ein weiterer zentraler Schwerpunkt der Reise: der interreligiöse Dialog, vor allem mit dem schiitischen Islam zwischen Euphrat und Tigris. Sechzig Prozent der Bevölkerung gehören den Schiiten an, 37 Prozent sind sunnitischen Glaubens. Der Rest teilt sich auf Christen, Jesiden und kleinere Bekenntnisse auf, die alle Abraham als Stammvater ihrer Religion sehen. Dessen Spuren im Irak wollte Franziskus aufsuchen, wie schon Papst Johannes Paul II., der vom 4. bis 7. Dezember 1999 im südirakischen Ur erwartet wurde. Die Reise sagte Staatschef Saddam Hussein damals wenige Wochen vorher ab. Jetzt, mehr als zwanzig Jahre später, stand Franziskus in jenem Ur des Abraham: „Wir sehen zum Himmel hinaus. Wenn wir nach Tausenden Jahren den gleichen Himmel betrachten, erscheinen dieselben Sterne [wie zur Zeit Abrahams]. […] Wenn wir die Geschwisterlichkeit bewahren wollen, dürfen wir den Himmel nicht aus den Augen verlieren“, sagte der Papst mitten in der wüstenähnlichen Ebene.

An diesem „Quellort des Glaubens“ verurteilte er die Beleidigung des Namens Gottes: „Feindseligkeit, Extremismus und Gewalt […] sind Verrat an der Religion. […] Wir […] dürfen nicht schweigen, wenn der Terrorismus die Religion missbraucht.“ Unmissverständlich rief er zur Achtung der Gewissensund Religionsfreiheit für alle Menschen des Irak auf. „Frieden erfordert weder Sieger noch Besiegte, sondern Brüder und Schwestern, die trotz der Missverständnisse und Wunden der Vergangenheit den Weg vom Konflikt zur Einheit gehen.“ Die Erziehung zu Geschwisterlichkeit werde der „wirksamste Impfstoff für ein friedliches Morgen sein“. Abraham habe gegen alle Hoffnung zu hoffen gewagt. „Es liegt an uns Menschen heute und vor allem an uns Gläubigen jeder Religion, die Werkzeuge des Hasses in Werkzeuge des Friedens zu verwandeln. […] Es liegt an uns, die gegenseitigen Beschuldigungen zum Schweigen zu bringen, um dem Schrei der Unterdrückten und Ausgestoßenen auf dem Planeten eine Stimme zu geben“, so Franziskus in Gegenwart von geistlichen Führern der Schiiten, Sunniten, Jesiden, Mandäer, Kakai und Zoroastrier.

Auch wenn die Juden fehlten, sprach er im Gebet bewusst alle Religionen an: „Wir, die Söhne und Töchter Abrahams, die dem Judentum, dem Christentum und dem Islam angehören, danken dir zusammen mit anderen Gläubigen und allen Menschen guten Willens, dass du uns Abraham […] als gemeinsamen Vater im Glauben geschenkt hast.“

 

Feiertag der Toleranz und Koexistanz

 

Die Verantwortung der Religionen für den Frieden in einem Land zu beschwören, in dem im Namen der Religion so viel Hass und Vernichtung verbreitet wurde, war die eine Zielrichtung des Papstes. Die andere war der Dialog mit dem schiitischen Islam, nachdem Franziskus durch den Besuch 2017 in der sunnitischen al-Azhar-Universität von Kairo und dem daraus folgenden gemeinsamen Dokument des Großscheichs der al-Azhar und des Papstes, das 2019 in Abu Dhabi unterzeichnet wurde, Grundlagen für den weiteren Dialog geschaffen hatte. Deshalb reiste Franziskus nach Najaf, um Großajatollah Sayyid Ali al-Sistani zu besuchen, der als moralische und theologische Instanz des Landes und weit darüber hinaus gilt. Im Gegensatz zum Regime in Teheran liegt ihm nicht an einer Regierung von Mullahs, sondern an einer konsequenten Trennung von Religion und Staat. Die Begegnung war ein Zeichen von Freundschaft, Verständigung und Toleranz.

Wird diese Bereitschaft zu Versöhnung und Heilung zwischen den Religionen im Irak gehört? Die Regierung hat als neuen Feiertag der Toleranz und Koexistenz den 6. März eingeführt, der künftig an die beiden historischen Begegnungen in Najaf und Ur erinnern soll. Es liegt an Regierung und Bevölkerung, die Worte des Papstes länger wirken zu lassen, als der Besuch gedauert hat. Als Büßer sei er in den Irak gekommen und bitte um Vergebung für Zerstörung und Grausamkeit, so Franziskus. Und er fügte hinzu: „Ich komme als Pilger des Friedens […].“ Die Religion müsse immer im Dienst des Friedens stehen, und der Name Gottes dürfe nicht benutzt werden, um Mord, Exil, Terrorismus und Unterdrückung zu rechtfertigen. Es war von Franziskus eine Botschaft der Toleranz, Verständigung und geschwisterlichen Solidarität; eine Würdigung der verschiedenen religiösen und ethnischen Traditionen; ein Appell gegen die Gleichgültigkeit und für ein Verbleiben aller Minderheiten im Irak.

Der Weg dahin ist lang. In Ur sagte Franziskus: „Wir, Brüder und Schwestern verschiedener Religionen, […] wollen uns von hier gemeinsam für die Verwirklichung des Traumes Gottes einsetzen: dass die Menschheitsfamilie für alle ihre Kinder gastfreundlich und aufnahmebereit werde; dass wir mit dem Blick zum selben Himmel in Frieden unseren Weg auf der gleichen Erde gehen.“ Der Aufbruch hat begonnen.

 

Matthias Kopp, geboren 1968 in Velbert, seit 2009 Pressesprecher der Deutschen Bischofskonferenz und als Nahostexperte seit über dreißig Jahren in der Region unterwegs.

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