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von Klaus Brill

In Novi Sad lud die Konrad-Adenauer-Stiftung zur Debatte über "den Osten" Europas

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Gehören sie dazu, die Serben und die anderen Völker des Balkans? Dann wäre es hohles Getöse, wenn die Laudatoren des europäischen Einigungsprozesses erklären, es habe dank der Friedensmaschine Europäische Union nun schon seit 74 Jahren keinen Krieg mehr „in Europa“ gegeben – ein einsamer Rekord. In Serbien, in Bosnien, in Kroatien, Slowenien und dem Kosovo gab es jedoch einen grausamen Krieg zwischen Angehörigen verschiedener Ethnien, und das erst vor zwanzig, dreißig Jahren. Die drei Brücken von Novi Sad, der Hauptstadt der Autonomen Provinz Vojvodina im Norden Serbiens, wurden im April 1999 durch Bomben der NATO zerstört. Hier auf dem Balkan gibt es noch eine Erlebnisgeneration, für die das Projekt Europa ähnliche Dringlichkeit und Bedeutung haben könnte wie 1957 bei der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft für die Bürger der sechs beteiligten westeuropäischen Länder. Es geht um gute Nachbarschaft und um Frieden – in ganz Europa. Nicht zu vergessen, dass gerade auch im Osten der Ukraine wieder ein Krieg im Gange ist, seit 2014.

Nicht zum ersten Mal ist es das Schicksal des Balkans und der weiter nördlich gelegenen Regionen Ostmitteleuropas, dass sie von West-Europa aus nicht als Nachbarschaft, sondern als Peripherie wahrgenommen werden. Es liegen dort – und das hemmt vielleicht den Durch- und Überblick – viele unterschiedliche, oft auch kleine Staaten. Sie sind das Ergebnis historischer Prozesse, die seit dem Ersten Weltkrieg die Landkarte in diesem Teil des Kontinents radikal verändert haben. Selbst wenn 1989 der Kollaps des Kommunismus das Tor zu einer radikalen Neuordnung Europas im Geiste freier und gleichberechtigter Koexistenz aufgestoßen hat, so sind doch viele Hoffnungen unerfüllt geblieben. Noch immer wird „der Osten“ von Westen aus als eine Zone des Unbehagens wahrgenommen. Oliver Jens Schmitt, Professor für die Geschichte Südosteuropas an der Universität in Wien, empfindet schon das Etikett „der Osten“ als „große Chiffre der Ausgrenzung“. Allein der Umstand, dass 2004 von der Ost-Erweiterung der EU und nicht von einer Wiedervereinigung der beiden Hälften Europas gesprochen wurde, sei bezeichnend, erklärte der Historiker jüngst auf einer Konferenz der Konrad-Adenauer-Stiftung in Novi Sad.

Dieses Treffen Anfang Juni 2019, an dem 212 Wissenschaftler, Politiker, Schriftsteller und Studenten aus neunzehn europäischen Nationen teilnahmen, war nicht zufällig in das Parlament der Autonomen Region Vojvodina in Nord-Serbien gelegt worden. „Im Parlament schlägt das Herz einer Demokratie – wenn es denn schlägt“, so formulierte es Norbert Lammert in seiner Eröffnungsansprache. Und Demokratie ist natürlich ein großes Thema, wenn eine solche Konferenz sich mit der Fortentwicklung der EU befasst und noch dazu unter dem Motto „Brücken bauen in Europa“ steht.

 

„Rekordverdächtige Vielfalt“

 

Es ist der Leitsatz einer Serie von Veranstaltungen der Konrad-Adenauer-Stiftung, von denen die Tagung in Novi Sad bereits die zehnte war. In Prag hatte der Turnus 2002 begonnen, ein Jahr später traf man sich in Danzig und danach im Zwei-Jahres-Abstand in Budapest, Riga, Hermannstadt, Tallinn, Bratislava und Vilnius. Unter der Regie der Kölner Germanistin Birgit Lermen versorgten sich Autoren, Professoren und sonstige Diskutanten wechselseitig mit einer überbordenden Fülle von Informationen, Interpretationen und Inspirationen. Von großem Reiz war es, dass eine besondere Aufmerksamkeit stets der Literatur galt und dass neben Historikern und Politikwissenschaftlern auch Germanisten und Slawisten zu Wort kamen.

So war es jetzt auch in Novi Sad, das nach Lemberg der zweite Tagungsort außerhalb der Europäischen Union war. Novi Sad ist die Hauptstadt der Vojvodina, einer Region mit knapp zwei Millionen Einwohnern. Zwei Drittel von ihnen sind Serben, die restliche Bevölkerung gliedert sich in 26 Minderheiten, die alle in der Regionalversammlung vertreten sind. Entsprechend bunt gescheckt ist das Panorama der Kulturen und Religionen; im Parlament wird in sechs Sprachen gedolmetscht. „Diese gelebte und rekordverdächtige Vielfalt auf kleinem Raum ist beispielgebend für Europa“, meinte die stellvertretende Vorsitzende der Konrad-Adenauer-Stiftung Beate Neuss, die in Chemnitz Internationale Politik lehrt.

Wer etwa heute über das Zusammenleben von Christen, Juden und Muslimen in Europa nachdenkt, tut gut daran, die Erfahrungen heranzuziehen, die hier in den Jahrhunderten osmanischer Herrschaft damit gemacht wurden. Der epochale Roman Die Brücke über die Drina erzählt davon am Beispiel der Stadt Višegrad, heute an der bosnisch-serbischen Grenze gelegen. Dass sein Autor Ivo Andrić 1961 den Literatur-Nobelpreis erhielt, war womöglich auch der Sympathie geschuldet, die man in Stockholm für die damals gerade gegründete Bewegung der blockfreien Staaten und das führend beteiligte Jugoslawien empfand. So schilderte es Michael Martens, Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

 

„Europa erzählen, Europa lesen“

 

Von aufregenden Lektüreerlebnissen berichtete auch Oliver Jahraus, Germanist aus München, der sich durch Werke von Aleksandar Tišmar, Danilo Kiš und Bora Ćosić, dem „serbischen James Joyce“, gearbeitet hatte. Jahraus bewegte die Frage, ob der Balkan wirklich als Peripherie zu sehen sei und Europa dort schon ende. Sein Fazit: „Wenn wir von Europa erzählen, müssen wir die Fähigkeit haben, Europa zu lesen.“

Oder zu hören, bei einer Lesung. Die albanische Schriftstellerin Lindita Arapi, die auch als Redakteurin für die Deutsche Welle tätig ist, erzählte vom Leben in einer Kleinstadt unter dem Kommunismus, einem Dasein in übermächtiger Angst und Isolation. Ihre serbische Kollegin Dragana Mladenović las Gedichte aus der jüngsten Vergangenheit, aus Sphären familiärer und nationalistischer Verstrickungen. Sie will, wie sie sagte, mit ihren Werken zu gesellschaftlichen Veränderungen beitragen.

Vieles ist noch verkrustet, und die Wunden der Kriege sind keineswegs verheilt. Stanislav Hočevar, katholischer Erzbischof von Belgrad, wünscht sich deshalb „eine Art systematischen, organisierten Dialog“ zwischen den Konfessionen. Zu sprechen wäre etwa über die Probleme der Familie oder die massenhafte Abwanderung junger Menschen nach Westund Nordeuropa. „Hier [in Serbien] sind Nation und Konfession ein und dasselbe, und das ist sehr gefährlich“, sagte der Geistliche. Weshalb die Kirchen durchaus die Anführer im Prozess der Versöhnung und Zusammenarbeit sein könnten, wie der serbisch-orthodoxe Theologe und Professor Rade Kisić aus Belgrad ergänzte. Er wusste von einer kleinen Stadt in Bosnien zu berichten, in der der serbisch-orthodoxe Priester, sein katholischer Kollege und der Mufti beste Freunde geworden seien. Ein Beispiel, eine Möglichkeit – und eine Ausnahme.

Dass in Novi Sad auch die politische Gegenwart mit ihren ungelösten Fragen zur Sprache kam, war ebenso unvermeidlich wie erwünscht. Schon in seiner Begrüßungsansprache ließ Staatspräsident Aleksandar Vučić keinen Zweifel daran, wohin für Serbien die Reise geht. „Wir sind Vorreiter auf dem Balkan, wir wollen so schnell wie möglich in die Europäische Union“, sagte er. „Wir möchten zeigen, dass wir es wert sind, Teil der Familie zu werden.“

 

Reformen und Rückschritte

 

Ministerpräsidentin Ana Brnabić bezeichnete die europäische Integration als „strategische Priorität der Republik Serbien“ und fügte hinzu: „Für mich ist die EU in erster Linie ein Friedensprojekt.“ Dabei ist ihr durchaus bewusst, dass der von vielen Zweifeln begleitete Prozess der serbischen Aufnahme in die EU „ein Marathon ist und kein Sprint“. Die Verhandlungen laufen seit 2014, sechzehn Kapitel wurden eröffnet, vieles ist noch abzuarbeiten. „Wir werden weitermachen mit den Reformen“, sagte Ana Brnabić.

Dies ist nach Ansicht vieler Forscher und Politiker in der Alt-EU auch dringend notwendig, nicht nur in Serbien, sondern ebenso in Bosnien und Herzegowina, Montenegro, Albanien, Nord-Makedonien und dem Kosovo, die allesamt ebenfalls in die Union streben. Zwei weitere Teilstaaten des früheren Jugoslawien gehören bereits dazu: Slowenien seit 2004, Kroatien seit 2013.

In diesen Ländern – mit Ausnahme Sloweniens – lässt der Gang der Dinge durchaus zu wünschen übrig. So sieht es jedenfalls Marianne Kneuer, Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Hildesheim und Präsidentin der International Political Science Association (IPSA). Sie trug in Novi Sad Ergebnisse einer umfassenden Studie vor, wonach in Fragen der Demokratisierung auf dem West-Balkan seit 2007 „überwiegend Rückschritte“ zu verzeichnen seien. Kriterien der Bewertung waren dabei unter anderem die Verfassung des Rechtsstaates, die Verbreitung der Korruption, die Stabilität von staatlichen Institutionen und Parteien und die Unabhängigkeit der Presse.

Bosnien und Herzegowina sowie Nord-Makedonien schwanken demnach zwischen Demokratie und Autokratie. Serbien, Albanien und Montenegro seien allenfalls als halb konsolidierte Demokratien anzusehen, nur Slowenien gelte als „voll konsolidierte Demokratie“. Auch das EU-Land Kroatien weise Mängel auf, und die südöstlichen Nachbarn Bulgarien und Rumänien, schon seit 2007 Mitglieder der EU, befänden sich an der Grenze zur „defekten Demokratie“, wie Marianne Kneuer meint. „Das heißt also: kein Fortschritt, Stagnation, Rückschritt.“ Im übrigen diagnostizierte sie auch in Ungarn und Polen „eine demokratische Erosion“.

 

Konzentration auf Kernaufgaben

 

Dies wirft Fragen auf, die die gesamte Europäische Union betreffen. War es naiv, zu glauben, der EU-Beitrittsprozess als größte Demokratisierungsmaschinerie der Weltgeschichte werde den Rechtsstaat ein für alle Mal etablieren? Hat man die bösen Kräfte des Nationalismus und die Beharrung korrupter nationaler Eliten unterschätzt? Sollte man die Länder des West-Balkan überhaupt in die EU aufnehmen? Und wie steht es um die Balance zwischen Nationalstaat und europäischem Gehäuse?

Andreas Rödder, Professor für Neueste Geschichte in Mainz, setzt auf „ein offenes und flexibles Europa“. Soll heißen: Nicht die seit 1983 propagierte und im Maastricht-Vertrag von 1992 bekräftigte „immer engere Union“ (ever closer union) sollte das Ziel bleiben, sondern eine Abstufung je nach Einzelfall: hier Vertiefung der Integration etwa mit Blick auf die EU als Global Player, dort Rückbau, wo nötig, und im Ganzen Konzentration auf Kernaufgaben wie Verkehr, Infrastruktur, Digitalisierung, Handel und Verteidigung. Europa müsse „seine Kraftquellen richtig ausschöpfen, und das sind die Nationalstaaten in Europa“, sagte Rödder. Die Frage sei also nicht EU oder Nationalstaaten, sondern EU und Nationalstaaten. Was übrigens auch eine Perspektive für die künftige Zusammenarbeit mit Großbritannien biete. Der Ehrenvorsitzende der Konrad-Adenauer-Stiftung, Bernhard Vogel, ergänzte dies mit einer Warnung davor, „zu schnell zu springen“ und schlug vor, die EU der Zukunft nicht als Bundesstaat oder Staatenbund zu denken, sondern als Staatenverbund – ein Begriff, den das Bundesverfassungsgericht geprägt hat.

Unstrittig war dabei, dass die EU zurzeit für manche Herausforderung, wie etwa die Migration, den Klimawandel, die Energieversorgung oder die Cyberkriminalität, nicht gerüstet ist. „Kein europäischer Staat leistet das aus eigener Kraft, und ganz sicher ist Europa derzeit nicht in der Lage, das gemeinschaftlich lösen zu können“, erklärte Norbert Lammert. Er verglich die Entwicklung der EU mit dem Turmbau zu Babel und plädierte leidenschaftlich dafür, nun nicht untätig auf dieser riesigen Baustelle zu verharren.

„Wenn wir den Turm nicht zu Ende bauen“, sagte er, „hätten wir Anspruch auf den Titel der mutlosesten, ratlosesten, vielleicht dämlichsten Generation, die je in Europa gelebt hat.“

 

Klaus Brill, geboren 1949 in Alsweiler, Publizist und früherer Korrespondent in Mittelosteuropa.

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