Asset-Herausgeber

Chinesischer Gesellschaftsvertrag

von Frank Priess

Warum wir über die eigene Wettbewerbsfähigkeit und Investitionen in die Zukunft intensiv nachdenken müssen

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Stefan Baron, Guangyan Yin-Baron: Die Chinesen – Psychogramm einer Weltmacht, Econ Verlag, Berlin 2018, 448 Seiten, 25,00 Euro.

China steht mehr denn je im Fokus. Längst geht es nicht mehr nur um einen großen Absatzmarkt und Wachstumsmöglichkeiten für deutsche Firmen. Mit China ist ein veritabler Akteur auf die Weltbühne zurückgekehrt, noch dazu einer, den politisch völlig andere Werte leiten als die westlichen Demokratien. Der Begriff „Systemkonkurrenz“ ist nicht zu hoch gegriffen, zumal das Land die unter Deng Xiaoping verordnete Bescheidenheit abgelegt hat und sich offensiv als autoritäre Alter native empfiehlt. Grund genug also, sich intensiv mit China zu beschäftigen, wie es Stefan Baron und Guangyan YinBaron in ihrem gerade erschienenen Band Die Chinesen – Psychogramm einer Weltmacht auf eine so grundsätzliche Weise tun, dass sowohl Chinaeinsteiger wie Chinakenner in gleicher Weise davon profitieren dürften.

Interessante Ausgangspunkte der Betrachtung sind die Veränderungen, die das Bild von China in Europa im Lauf der Zeit erfahren hat. Lange war es, nicht zuletzt kulturgetrieben, positiv besetzt; in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verkehrte sich dies aber ins Gegenteil. Den entscheidenden intellektuellen Beitrag dazu lieferte, so die Autoren, der berühmte Staatstheoretiker CharlesLouis de Secondat, bekannt unter dem Namen Baron de Montesquieu, der in seinem 1748 erschienenen Hauptwerk De l’esprit des lois (Vom Geist der Gesetze) China als „orientalische Despotie“ charakterisierte. Der Westen setzte nicht nur seine Interessen in einem schwächer werdenden China robust durch. Mit zunehmender Herausbildung von Demokratie und Rechtsstaat sei zeitgleich ein geistigmoralisches Überlegenheitsgefühl entstanden, das bis auf den heutigen Tag spürbar sei.

Zu verstehen ist dies auch als Aufruf zur Fairness bei der Betrachtung Chinas und zum Anlegen gleicher Maßstäbe, etwa im Vergleich zu den USA. In vielem verhält sich China wie eine klassische Großmacht, die ihren Willen zunehmend auch gegen widerstreitende Interessen durchsetzen kann. Was den Chinesen etwa „ihr“ Südchinesisches Meer ist, war den Amerikanern in Zeiten der Monroe-Doktrin Anfang des 19. Jahrhunderts die Karibik, aus der sie europäische Konkurrenten fernhielten. Großinvestitionen und Entwicklungshilfe an politisches Wohlverhalten zu binden: Auch damit steht China nicht allein, ebenso wenig wie mit dem Versuch, im eigenen geografischen Umfeld dominieren zu wollen. Je stärker die internationale Verflechtung, desto naheliegender die Schutzanstrengungen für eigene Handelswege oder die eigene Bevölkerung einer weit verzweigten Diaspora. Für die USA ist der unipolare Moment nach dem Ende des Kalten Krieges vorbei, die Transition zu einer neuen Welt(un)ordnung löst bei den StatusquoMächten andere Gefühle aus als bei den Aufsteigern, denen – nicht nur im Falle Chinas – große Freude darüber anzumerken ist, dem erhobenen Zeigefinger des Westens endlich etwas entgegensetzen zu können.

Das „große Ich“ im Mittelpunkt

Stefan Baron und Guangyan Yin-Baron gehen intensiv der Frage nach, auf welchen geistigen Fundamenten der aktuelle Erfolg und der rapide Aufstieg Chinas beruhen. Sie stoßen dabei – nicht verwunderlich – auf Konfuzianismus und Taoismus, die sie nach wie vor als prägend und in gewisser Weise als Gegenentwürfe zum westlichen Individualismus betrachten. „Das Leben eines Konfuzianers“, so die Barons, „ist korrekt, sittenstreng, anständig, realistisch und vernunftgesteuert. Für das Spielerische, Romantische, Phantasie und Genussvolle lässt es wenig Platz. Hier sorgt der Taoismus für Ausgleich. Zudem bietet er auch eine gute Methode, Problemen aus dem Weg zu gehen. Deswegen hat er vor allem in Krisenzeiten Zulauf. Mit Konfuzianismus und Taoismus wohnen zwei Seelen in der Brust eines Chinesen. Wie mit Yin und Yang ist einmal die eine stärker, mal die andere, mal das Individualistische, mal die Gemeinschaftsorientierung. Während das öffentliche Leben der Chinesen zwischen Konfuzianismus und Legalismus schwankt, pendelt das private zwischen den beiden Polen des Konfuzianismus und Taoismus“ (S. 74).

Zu Kollektivismus führe dies entgegen verbreiteter Annahmen im Westen nicht; vielmehr stehe die Familie als großer Familienverband der Sippe im Zentrum chinesischen Denkens – nicht zuletzt als Rückzugsort, auf den man sich in Krisenzeiten allein verlassen könne. Die wechselvolle und oft von Gewalt geprägte Geschichte habe die Chinesen gelehrt, Harmonie – schon für Konfuzius von „höchster Bedeutung“ – über alles zu schätzen, Rücksichtnahme und Hilfsbereitschaft aber vor allem auf einen engeren Kreis, das „große Ich“ zu beschränken: „In diesem Sinne sind Chinesen jenseits der Familie (und guten Freunden) Egoisten par excellence, wettbewerbsorientiert, ehrgeizig, ja rücksichtslos wie kaum ein anderes Volk“ (S. 113). Daraus resultiere auch ein besonderer Gleichheitsbegriff: „In den Augen von Konfuzianern sorgt nicht (Ergebnis)Gleichheit für gesellschaftliche Harmonie, sondern das Anerkennen von natürlicher Ungleichheit der Talente und Leistungsfähigkeiten auf der Basis prinzipieller Chancengleichheit und der Möglichkeit des Aufstiegs verbunden mit Ordnung und gegenseitigem Respekt“ (S. 121) – „Chancengerechtigkeit“ würde man das wohl bei uns nennen.

Aus all dem konturiert sich ein vor herrschendes Menschenbild der Chinesen, das nicht ohne Auswirkungen auf die Frage nach den Chancen von Demokratie bleibt und selbst spezifische Aspekte wie etwa den individuellen Datenschutz in den Zeiten aufkommender Künstlicher Intelligenz massiv beeinflusst. „Die Chinesen sehen im Menschen kein autonomes Gotteskind mit natürlichen individuellen Rechten, sondern ein interdependentes, in ein Netzwerk eingebundenes Wesen. Freiheit ist für sie nicht zuletzt die Einsicht in die Notwendigkeit zwischenmenschlicher Verpflichtungen. In einer Gesellschaft aus independenten Individuen haben die subjektiven Rechte des Einzelnen ein größeres Gewicht als in einer Gesellschaft aus interdependenten Individuen. Hier hat im Zweifel die gesellschaftliche Harmonie Vorrang“, heißt es bei den Barons (S. 315). Bequem für die Herrschenden, möchte man denken, zumal, wenn ein gewisser Paternalismus – wieder einmal und eingedenk der Konsequenzen in den Zeiten Maos – gut zur aktuellen Machtkonzentration bei einer zentralen Führungsfigur im Lande zu passen scheint. Allemal liegt hier eine Infragestellung der Erwartung der Modernisierungstheorie, nach der sich mit steigendem Wohlstand und der Herausbildung einer Mittelschicht quasi von selbst die Forderung nach größerer gesellschaftlicher Teilhabe und schlussendlich Demokratie einstellen würde.

„Herrschaft für das Volk“

Die Autoren stellen sich dieser Frage: „Obwohl China in punkto immaterielle Menschenrechte nach wie vor schlecht abschneidet, weiß das Regime die eindeutige Mehrheit des Volkes hinter sich, auch die Mittelschicht des Landes, die materiell aus dem Gröbsten inzwischen heraus ist. Praktisch und konkret, wie sie sind, ziehen Chinesen den Spatz in der Hand der Taube auf dem Dach vor. Stabilität und Wohlstand sind ihnen im Zweifel wichtiger als allgemeines Wahlrecht oder gleiches Recht für alle“ (S. 316). Kein Wunder, dass dies bei den Autokraten in aller Welt auf offene Ohren stößt, denen allerdings oft die Legitimation durch wirtschaftlichen Erfolg deutlich weniger gut gelingt als der Kommunistischen Partei Chinas: „Die chinesische Staatstradition lässt sich am besten als ‚Herrschaft für das Volk‘ charakterisieren – im Unterschied zum westlichen Demokratieverständnis als einer ‚Herrschaft durch das Volk‘. Sie ist die politische Entsprechung des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Paternalismus“ (S. 312). Und: „Die Bereitschaft der Chinesen zu politischem Gehorsam ist traditionell stets an eine Bedingung geknüpft: Als Gegenleistung muss die Regierung für Ordnung, Stabilität und Wohl stand sorgen. Oben kümmert sich um unten, unten ist dafür gegenüber oben loyal, das ist der klassische chinesische Gesellschaftsvertrag“ (S. 304).

Eine solche Legitimationsgrundlage ist zwangsläufig brüchig: Was, wenn die Staatsführung dieses Wohlstandsversprechen einmal nicht mehr einhalten kann, wenn es wirtschaftlich nicht mehr besser wird, wenn junge Menschen ihre Aufstiegschancen begrenzt sehen? Welche Ventile hat ein autoritäres System dann? Dass diese Sorge die chinesischen Kommunisten umtreibt, lässt sich an der Verschärfung der innenpolitischen Repression in den zurückliegenden Jahren ablesen, an der umfassenden Kontrolle auch mit den modernsten technischen Mitteln. Vielleicht sollten dies auch westliche Unternehmenslenker bedenken, die das heutige China weiterhin kurzerhand zum Vorbild verklären und staunen, wie schnell dort etwa Flughäfen entstehen. Die Konsequenz ist, dass individuelle Bedürfnisse und Schutzinteressen gnadenlos und brutal dem angenommenen Gemeinwohl untergeordnet werden. Einspruch mittels einer unabhängigen Justiz ist ausgeschlossen.

Dabei scheint das aktuelle Modell der Volksrepublik China nicht das einzige zu sein, das sich mit Konfuzianismus und Taoismus verbinden lässt: Demokratische Erfolgsbeispiele wie Taiwan, Südkorea und Japan beweisen eindrucksvoll, dass es auch anders geht. Ein Argument übrigens, das die Autoren zwar nennen, allerdings eher etwas verschämt und auf kleinstem Raum. Ihre Zwischenbilanz: „Modernisierung, Marktwirtschaft und Globalisierung haben nicht zwangsläufig Demokratie zur Folge – obwohl mehr Bildung, Weltoffenheit, Informationsmöglichkeiten, vertiefte internationale Arbeitsteilung, wachsender Wohlstand und zunehmende Interessenpluralität in diese Richtung drängen. Außer den Ölstaaten gibt es in der Welt bisher kein Land mit hohem Pro-Kopf-Einkommen, das autokratisch regiert wird. Aber es gibt keine Teleologie der Demokratie“ (S. 411).

Merkantilismus und Künstliche Intelligenz

Der Erfolg des chinesischen Wirtschaftsmodells ist, das machen die Autoren sehr deutlich, nach wie vor auf Merkantilismus aufgebaut – der Vergleich mit früheren Zeiten und nachholender Entwicklung in Europa drängt sich auf. Man schützt den Aufstieg eigener Zukunftsindustrien, gerade solcher, die von der Führung als strategisch bewertet werden. Mit Fragen des geistigen Eigentums wird eher großzügig umgegangen, ausländische Konkurrenten werden in Joint Ventures gezwungen, undurchsichtige Staatsbeteiligungen verhindern faire Wettbewerbsbedingungen nicht selten auch auf Drittmärkten. In diesem Punkt ist die aktuelle Suche nach Gegenstrategien in den USA und der Europäischen Union (EU) durchaus sinnvoll: „Die Chinesen wissen längst, dass eine merkantilistische Wirtschaftspolitik gerade in Bezug auf Fortschritte im Hightech-Bereich mehr bringt als bloßer Ideenklau durch Wirtschaftsspionage oder Plagiate. Den noch gehören diese weiter zu ihrem Instrumentenkasten. Unzählige im Ausland lebende Chinesen, darunter auch Journalisten, sammeln systematisch nützliche Technologieinformationen, ein Heer von Hackern bricht in fremde Computer ein und fischt gefragtes technisches Wissen ab. Das Nationale Sicherheitsamt DNI in Washington schätzt, dass den USA infolge des Klaus geistigen Eigentums durch China ein Schaden von jährlich 400 Milliarden Dollar entsteht“ (S. 274).

Mittlerweile hat China die Ressourcen, um im Wettbewerb um Technologieführerschaft der Zukunft ein Wort mit zusprechen – nicht zuletzt auf dem Feld der Künstlichen Intelligenz. Die Barons zitieren etwa den bekannten Venture CapitalInvestor Lee Kai Fu, der Startups fördert und dabei nicht zuletzt auf eine gewaltige Zahl exzellent ausgebildeter chinesischer Rückkehrer aus dem Ausland zählen kann, die gern ihr eigener Chef werden möchten und vom chinesischen Staat mit großzügigsten Bedingungen gelockt werden. China habe nicht nur „die Daten, den Markt und das Talent“, so Lee, „sondern auch die besten politischen Rahmenbedingungen: geringe Auflagen beim Handel mit persönlichen Daten und eine hohe Geschwindigkeit bei der Umsetzung“ (S. 268).

Künstliche Intelligenz ist nur ein Bei spiel für die „Startvorteile“ Chinas im Bereich Innovationen: „Hilft die im Vergleich zum individualistisch geprägten Westen geringere Empfindlichkeit der Chinesen hinsichtlich Eingriffen in die Privatsphäre dem Land bei KI, so verschaffen geringere ethische Bedenken gegen den Eingriff in menschliches Erbgut als im christlich geprägten Westen China auch beste Voraussetzungen, die globale Führungsrolle in der Gentechnik zu erobern“ (S. 270). Ausreichender Anlass also, über die eigene Wettbewerbsfähigkeit und Investitionen in die Zukunft intensiv nachzudenken, statt sich zu sehr auf das Verteilen von Wohltaten zu konzentrieren und damit das Bild des „dekadenten Westens“ in den „Aufsteigernationen“ zu verstetigen.

Chinesischer Ansatz zur Lösung der Menschheitsprobleme

Die Frage nach dem Umgang mit dem „neuen China“ dürfte für den Westen eine der zentralen Zukunftsfragen sein. Beantwortet werden muss sie auf der Grundlage einer möglichst realistischen Einschätzung darüber, was China will. Die Buchautoren haben dazu eine klare Meinung: „Neben der grundsätzlich defensiven Einstellung der Chinesen und ihrem geringen Sendungsbewusstsein sprechen eine Reihe weiterer gewichtiger Umstände da für, dass Peking es mit dem ‚friedlichen Aufstieg‘ ernst meint. Der beste Schutz für die enormen Investitionen, die das Land im Ausland bereits getätigt hat und etwa im Rahmen seiner Seidenstraßen Initiative noch tätigen will, ist eine prosperierende und friedliche Welt.“ China stehe vor enormen Reform sowie Entwicklungsaufgaben und sei von globalen Herausforderungen – von Klimawandel bis Terrorismus – betroffen. Ein internationaler Systemwettbewerb oder sogar konfrontativer Konkurrenzkampf um Einflusszonen und geopolitische Dominanz ist zudem teuer und könnte Mittel vom weiteren wirtschaftlichen Wachstum ab ziehen, die für Legitimationen, etwa von Infrastrukturprojekten, im Land dringend gebraucht werden. Schon jetzt fragt sich mancher Beobachter, ob China nicht in der Gefahr steht, sich etwa entlang der neuen Seidenstraßen zu überdehnen und Erwartungen zu wecken, die es nicht erfüllen kann und die möglicherweise von einer ausufernden Verschuldung finanziert werden.

In jedem Fall nimmt China die Chancen wahr, ein Vakuum zu füllen, das die USA hinterlassen. Die irrlichternde Politik des amerikanischen Präsidenten, etwa in Sachen Trans-Pacific Partnership oder im Klimabereich, sind eindrucksvolle Beispiele. Auch setzt China darauf, eigene Soft Power massiv auszubauen. China, so Xi Jinping auf dem Parteitag der Kommunistischen Partei Ende 2017, offeriere der Welt seine „Weisheit und einen chinesischen Ansatz zur Lösung der Menschheitsprobleme“.

„Während die USA“, so die Autoren, „sich innenpolit

isch zerfleischen sowie außenpolitisch zunehmend an Glaubwürdigkeit einbüßen und gleichzeitig die EU zerbröselt, arbeitet die chinesische Führung gemeinsam mit dem Kreml systematisch an einer neuen Weltordnung“ und inszeniere sich als „verantwortungsbewusste globale Führungsmacht (S. 386).

Ken Anlass zu Defätismus

Das kann man so sehen, zu Defätismus aber und der Erwartung eines unausweichlichen Niedergangs des Westens besteht kein Anlass. Er muss allerdings an seinen Stärken arbeiten, wo immer möglich Reziprozität im gegenseitigen Umgang einfordern und eine abgestimmte Strategie entwickeln, die China differenziert, kenntnisreich, realistisch und illusionslos betrachtet. Vieles spricht für ein gemeinsames und abgestimmtes Vorgehen, zumindest im Rahmen der Europäischen Union. Keines ihrer Länder wird bilateral bessere Deals erreichen als gemeinsam. Vielleicht sollte man auch hierzulande Sunzu ähnlich intensiv rezipieren wie in China: Die angemessene Einschätzung des Gegenübers ist allemal die Grundlage für Erfolg.

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Frank Priess, geboren 1957 in Wolfsburg, Stellvertretender Leiter der Hauptabteilung Europäische und Internationale Zusammenarbeit, Konrad-Adenauer-Stiftung.

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