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von Schwester Theresa-Maria Neuhaus

Krankenhausseelsorge in der Coronakrise

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Noch sehr genau erinnere ich mich an den Tag Ende Februar 2020, als die Nachrichten über eine „Viruswelle“, ausgehend von China, berichteten, die nach Europa zu uns herüberschwappt. Und sehr schnell kamen immer mehr Informationen über das Virus Corona ans Tageslicht, die uns alle sehr verunsicherten und ängstigten.

Mir kam die Bibelstelle aus dem Evangelium nach Markus vom Sturm auf dem Meer in den Sinn: „Plötzlich erhob sich ein heftiger Wirbelsturm, und die Wellen schlugen in das Boot, so dass es sich mit Wasser zu füllen begann. Jesus aber lag hinten im Boot auf einem Kissen und schlief. Sie [die Jünger] weckten ihn und riefen: ‚Meister, kümmert es dich nicht, dass wir zugrunde gehen?‘ Da stand er auf, drohte dem Wind und sagte zu dem See: ‚Schweig, sei still!‘ Und der Wind legte sich, und es trat völlige Stille ein. Er sagte zu ihnen: ‚Warum habt ihr solche Angst? Habt ihr noch keinen Glauben?‘“ (Mk 4, 37–40). Denn wie ein heftiger Sturm, wie bedrohlich sich hoch auftürmende Wellen erschienen mir die Wege, nach denen vehement gesucht wurde, um die COVID19-Pandemie einzudämmen. Einschneidende Schutzmaßnahmen wurden eingeleitet, die mit großem Einsatz umgesetzt werden sollten. Auch uns Ordensschwestern, wir sind sechs Franziskanerinnen, trafen die Anordnungen wie ein Paukenschlag, und ein erhebliches Maß an Unruhe musste bewältigt werden. Gottesdienstbesucher durften nicht mehr in die Kapelle. Aus anfänglicher Betroffenheit wurde Entschiedenheit, um für das Ende der Pandemie zu beten, denn als Schicksalsgemeinschaft sitzen wir alle in einem „Boot“.

Was brauchen die Jünger? Glauben, Vertrauen, Hoffnung. Die Gewissheit, dass sie nicht allein sind, auch wenn sie den Eindruck haben, dass Jesus schläft – dass sie sozusagen von Gott und der Welt vergessen sind. Wenn Jesus sagt: „Warum habt ihr solche Angst, habt ihr noch keinen Glauben?“, dann wirkt das zunächst wie eine Standpauke. Aber ich erkenne darin eher einen Auftrag an all die, die in Krisenzeiten begleiten: alle Pflegenden, Helfenden, Unterstützenden. Es ist der Auftrag, Angst zu lindern und Glauben zu stärken, Glauben im Sinne von Hoffnung und Vertrauen. Ein Zitat von Václav Havel gefällt mir in diesem Zusammenhang gut: „Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat – egal wie es ausgeht.“ Seelsorge stärkt Hoffnung!

Auch wenn die Möglichkeiten der Seelsorge unter den besonderen Hygieneregeln dieser Zeit sehr eingeschränkt wurden, waren in unserem Haus Gott sei Dank doch viele, viele Besuche und Gespräche möglich, die mir gezeigt haben, dass Seelsorge durchaus systemrelevant ist. Und eigentlich ist Seelsorge in dieser Zeit nichts anderes als das, was sie immer sein soll: Hoffnung spendend, Vertrauen stärkend, Zuversicht weckend, die innere Stabilität stützend. Hilfreich ist dabei ein Wort des Apostels Paulus: „Gott hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit gegeben, sondern den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit“ (2 Tim 1,6 f.).

Einige Beispiele von Begegnungen, die ich erlebt habe, erzählen von diesem Geist.

In meinem Bemühen als Seelsorgerin, die Belastungen der Menschen in der Klinik tragen zu helfen, nehme ich eine große Vielfalt der Ängste und Nöte wahr, die die Patienten und Mitarbeitenden umtreiben. Besuchsverbote, eine wesentliche Einschränkung für die Patienten, sind sehr schwer zu ertragen, auch für die Angehörigen, die nicht wissen, wie es ihren Lieben geht. Nicht jeder/jede hat Kontaktmöglichkeit über Medien wie Handy oder Laptop. So war ich an vielen Tagen und Wochen die einzige „Besucherin“ der Patienten.

Eine Begebenheit geht mir noch nach: Ein sehr schwer erkrankter Mann litt so sehr darunter, seinen Kindern und Enkelkindern seit Beginn der Corona-Pandemie nicht nahe sein zu können, dass er innerlich daran zerbrach, keinen Lebensmut mehr hatte und unerwartet starb. Die Ehefrau bestätigte es, denn sie wusste nur zu gut, wie wichtig ihm die Familie war.

In einem anderen Fall erfuhr ein Mann vom Tod seiner Schwester; er konnte nicht zu ihr aufgrund seines Krankenhausaufenthalts, und auch danach gab es keine Chance, mit der Familie zusammen zu sein und miteinander zu trauern. So war es mein Dienst, ihn täglich zu begleiten in der unsagbar tiefen Trauer.

Eine jüngere Frau wurde auf unsere Palliativstation aufgenommen und wird wohl nicht mehr auf Hilfe hoffen können, denn durch die Corona-bedingte Verschiebung einer Operation in einer Spezialklinik erfuhr sie offensichtlich nicht die notwendige Behandlung. Nun braucht sie viel Unterstützung in verzweifelten Stunden auf dem letzten Abschnitt ihres Lebensweges. Ich darf in langen Gesprächen eine seelische Brücke bauen, um mittragen zu helfen.

Dann war da Frau R., die mir anvertraute, dass ihr eine große Operation bevorstehe und sie nun von starken Ängsten und Verunsicherungen geplagt sei. Sie war untröstlich, weil ihre Kinder und Freunde aufgrund der derzeitigen Situation nicht bei ihr sein konnten. Glücklicherweise konnte ich ihr einen Kontakt zu einer Patientin vermitteln, die eine ähnliche Operation gut überstanden hatte. Mein Auftrag war dann, ihr durch Gebet und intensive Begleitung durch die heftigen Angstattacken zu helfen. Ein großes seelisches Leid, wie sie immer wieder sagte, bestand darin, dass ihr der soziale Kontakt fehlte, was sie immer wieder weinend bedauerte und als sehr belastend empfand.

Eine schwer erkrankte ältere Frau wurde eingeliefert; ich begegnete ihrer Tochter, die mir ihr Leid klagte. Aufgrund der Einschränkungen und Besuchsverbote durfte sie die demenzkranke Mutter im Pflegeheim nicht besuchen – und nun war sie voller Aggression und Ärger, denn es war absehbar, dass die Mutter sterben würde.

In einem Aufenthaltsraum traf ich auf einen Patienten, der lange zu Hause isoliert war und in all den Wochen keinen Besuch bekam. Die eigene Familie befindet sich im Ausland. Er wurde auf der integrativen Schmerzstation aufgenommen und sagte wörtlich: „Ich bin überglücklich, hier wieder mit Menschen zusammen sein zu können.“ Auch er erlebt sozialen Kontakt als äußerst heilsam und geradezu schmerzlindernd.

Unterwegs auf einem Stationsflur begegnete mir eine junge Ärztin, die ihrem Unmut Luft machen musste: Schon durch das Jonglieren durch den öffentlichen Nahverkehr und die Herausforderungen im Krankenhaus in dieser Krisenzeit spüre sie, dass sie schmerzlich an ihre Grenzen stoße. Sie dankte für mein offenes Ohr.

Auf meinen Wegen durch die Krankenzimmer konnte ich oftmals auch erfahren, wie phantasievoll einige Patienten waren, um in irgendeiner Form die sozialen Kontakte aufrecht zu erhalten. So rief zum Beispiel ein älterer Herr seine Chormitglieder an, und in abwechselnder Reihenfolge wurde auch er angerufen.

Oftmals erhielt ich Anrufe von Kindern oder Enkelkindern, die mich baten, die kranken Familienangehörigen zu besuchen und Wünsche weiterzugeben oder auch einfach „Bote“ für sie zu sein.

Ein Segen war es etwa auch für eine Frau, die mehrere schwere Operationen hinter sich hatte und lange Zeit zur Erholung brauchte. Sie ließ mich teilhaben an einer „Videokonferenz“ mit der Familie daheim, die sich tageweise abwechselnd meldete. Diese Möglichkeit, die ja nicht allen zur Verfügung steht, habe ich als äußerst heilsam und hilfreich erlebt.

Die Schutzmaßnahmen dieser Zeit sind für sehr viele Menschen sehr belastend, für einige wirken sie sogar bedrohlich. Manche halten es daheim nicht mehr aus und wollen demonstrieren für ihre Freiheitsrechte.

In hohem Maße erfahre ich von vielen positiven Facetten dieser Schutzmaßnahmen und Einschränkungen, die sehr intensive Gespräche am Krankenbett bewirken. Immer wieder gibt es den Zuruf „Bleiben Sie gesund!“ oder „Gott schütze Sie und Ihre Lieben!“ oder „Geben Sie gut auf sich acht!“. Ich nehme sehr stark wahr, wie der Glaube an Gott, an die Dimension zwischen Himmel und Erde eine große Tragkraft hat, und das betrifft die Menschen unterschiedlichster Religionen und Konfessionen. Die Kranken erwarten von uns Seelsorgern ein Zeugnis unseres Glaubens, der Zuversicht und Hoffnung, ja sogar, dass es Wege aus der Krise gibt, dass wir Antworten haben auf die ungelösten Rätsel des menschlichen Daseins: Was ist der Mensch, was ist Sinn und Ziel unseres Lebens, was brauchen wir, was ist uns wichtig? Wohin geht der Weg? Woher kommt all das Leid?

So viel unsagbare Geheimnisse unserer Existenz, so viele Fragen, die jeden Menschen bewegen: am deutlichsten wohl in Krankheitsfällen und bei Ängsten vor Infektionen. Und ich fühle mich an die Geschichte vom Seesturm erinnert. Alles ist in Aufruhr, in Wallung geraten. Schwer auszuhalten! Jesus fragte sie: „Warum habt ihr solche Angst? Habt ihr noch keinen Glauben?“ Da kam jemand, der zumindest die Angst und die Not der Jünger gesehen hat, der sie ernst genommen hat. Und dadurch tritt Ruhe ein! In der zitierten Bibelstelle heißt es weiter: „Da ergriff sie große Furcht und sie sagten zueinander: ‚Was ist das für ein Mensch, dass ihm sogar der Wind und der See gehorchen?‘“ (Mk 4,41). Ein Mensch ist notwendig, der diese Not teilt, der aus der Wallung Ruhe werden lässt. Genau dazu möchte Seelsorge helfen. Seelsorge kann nicht den Tod abhalten. Aber Seelsorge kann helfen, mit solchen Situationen besser umzugehen.

Die Worte von Wolfgang Schäuble möchte ich nochmals in ihrer Aussage betonen: „Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen.“ Bei Seelsorge geht es darum, die Würde des Menschen auch in seiner Zerbrechlichkeit bewusst zu halten – dem Menschen Ansehen zu geben! Ein Patient kam zu uns, nachdem schon einige Krisenwochen durchgestanden waren. Er berichtet von seinem Erleben, wie gut das Pflegepersonal sich mit der speziellen Situation arrangiere. Dabei würde es wohltuende Ruhe verbreiten, oft auch trotz zeitlichem Druck. Die überaus freundliche Zugewandtheit betitelte er sogar mit innerer Fröhlichkeit.

Mittlerweile sind viele Wochen einer überaus bewegenden Zeit vergangen, die ich zumeist als große Anspannung aller Mitarbeitenden und Patienten erlebt habe. Stationen mussten geräumt werden, und die Angst ging um: Wann wird der Höhepunkt der Pandemie erreicht sein, wann wird bei uns der große „Corona-Ansturm“ kommen?! Wird ein Ende absehbar sein, und wird es bald Hoffnung auf Lockerung geben? Im Krankenhaus erlebe ich ein sehr gutes Krisenmanagement-Team als äußerst hilfreich, wodurch Vertrauen und Rückhalt gegeben werden.

Seelsorge wirkt am besten, wenn sie eingebunden ist in ein multiprofessionelles Team. Seelsorge ist systemrelevant, nicht nur in Coronazeiten, denn Hoffnung brauchen Menschen zu jeder Zeit!

 

Schwester Theresa-Maria Neuhaus, 1953 in Münster (Westfalen), seit fünfzehn Jahren hauptamtliche Seelsorgerin im Franziskus-Krankenhaus in Berlin.

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