Über mehr als zwei Dekaden galt Mali als ein Erfolgsmodell demokratischer Transformation auf dem afrikanischen Kontinent. In den Rankings der Demokratieforschung wies das Land solide Ergebnisse auf.[1] Dieser Ruf gründete sich auf eine 1992 demokratisch gewählte Regierung unter Alpha Oumar Konaré. Mali stand bis dahin unter der Herrschaft des Diktators Moussa Traoré, der Ende 1991 durch einen Militärputsch entmachtet wurde; vom Militär wurde daraufhin eine zivile Regierung eingesetzt. Das Erfolgsbeispiel Malis wurde konsolidiert durch regelmäßige, freie und faire Wahlen, ein Ausscheiden seines Präsidenten Alpha Konaré nach zwei Mandaten – ohne Diskussion um eine Verfassungsänderung zur Verlängerung der Amtszeit – sowie durch vorzeigbare gesetzliche Rahmenbedingungen zur Stärkung demokratischer Institutionen. Malis Dezentralisierungsgesetz war ein Orientierungsmodell für viele, insbesondere westafrikanische Staaten. Das Image Malis und seine internationale Reputation wurden auch durch das Engagement des Präsidenten Alpha Konaré und seines Nachfolgers Amadao Toumani Touré als Konfliktmediatoren in afrikanischen Krisenregionen gestärkt.
Wie die Ereignisse ab Januar 2012 demonstrieren, war Mali jedoch weit davon entfernt, mehr als nur eine Wahldemokratie zu sein. Die staatliche Kontrolle und Herrschaftsgewalt im nördlichen Teil des Landes war nur rudimentär ausgeprägt. Eine politische Lösung für die Autonomiebestrebungen der dort beheimateten Tuareg wurde nie ernsthaft verfolgt. Bereits 2011 hatte die Entführung französischer Touristen durch die Organisation al-Qaïda au Maghreb islamique (AQMI) für Aufsehen gesorgt und die Infiltrierung des Nordens durch Terrorgruppierungen offenbart.
Kollaps der Befehlsstruktur
Mit dem Militärcoup im März 2012, der nicht nur die demokratisch gewählte Regierung Malis zu Fall brachte, sondern auch zu einem Kollaps der gesamten Kontroll- und Befehlsstruktur der Streitkräfte führte, etablierten sich im Norden des Landes die AQMI sowie die radikalislamistischen Kräfte Ansar Dine („Verteidiger des Glaubens“) und Mouvement pour l’Unicité et le Jihad en Afrique de l’Ouest (MUJAO). Neben diesen islamistischen Extremisten destabilisierten auch die bewaffneten und für eine Unabhängigkeit des Nordens eintretenden Tuareg-Gruppen, der Haut Conseil pour l’Unité de l’Azawad (HCUA) und das Mouvement Arabe de l’Azawad (MAA), das Land. Nachdem die französische Intervention „Operation Serval“ den Norden Anfang 2013 weitgehend von den extremistischen Terrorgruppierungen hatte befreien können, kam es im Juni 2013 zu einem vorläufigen Waffenstillstandsabkommen (Ouagadougou), welches es ermöglichte, dass im August 2013 Wahlen stattfinden konnten. Obgleich damit zwei Meilensteine des Übergangs zu einem demokratischen System erreicht wurden – Wiederherstellung der Kontrolle über den Norden und landesweite Wahlen –, bleibt die Lage in Mali weiterhin instabil. So gelang es nicht, den im vorläufigen Abkommen vorgesehenen inklusiven Dialog zwischen bewaffneten Rebellen und der Regierung voranzubringen; außerdem vernichteten die Angriffe auf den Premierminister während seines Besuches in Kidal am 17. Mai 2014 und der darauffolgende Vergeltungsschlag der malischen Armee das bis dahin Erreichte: Vor den Auseinandersetzungen in Kidal war die staatliche Autorität sukzessive in die zuvor besetzten Gebiete zurückgekehrt. In Gao und Timbuktu hatten rund fünfzig Prozent der Präfekten und Sub-Präfekten ihre Arbeit wieder aufgenommen, in Kidal waren es allerdings nur zwanzig Prozent. De facto galt Kidal weiterhin als „No-go-Area“. Zurzeit besitzt die malische Regierung keine Kontrolle über den Norden, und die Rebellen konnten bis auf wenige Hundert Kilometer an die Zentren Timbuktu und Gao heranrücken. Das Waterloo der malischen Armee wirkte sich desaströs auf die Moral der Truppen aus und ermöglichte den Rebellen den Zugriff auf Waffen und Munition.
Schutz der Zivilbevölkerung
Angesichts der sicherheitspolitischen Lage Malis wird weiterhin ein internationales Engagement notwendig sein. Malische Truppen sind nur bedingt in der Lage, ihren Gegner erfolgreich abzuwehren. Die EU-Trainingsmission EUTM-Mali leistet einen essenziellen Beitrag zur Stärkung der Kapazitäten in den Bereichen operationeller und organisatorischer Kommandostrukturen. Sie berät bei Logistik, Personalführung, Nachrichtenbeschaffung und Operationsplanung.[2] Eine Ausbildung der malischen Armee für den Kampfeinsatz gegen Rebellen sieht EUTM-Mali allerdings nicht vor. Die UN-Mission MINUSMA besitzt ein Mandat unter Kapitel VII der UN-Charta, bei dem der Schutz der Zivilbevölkerung im Zentrum steht, das heißt: Von UN-Seite wird es keine gemeinsamen militärischen Operationen mit dem malischen Militär geben. Der UN-Sicherheitsrat verweist in der jüngsten Mandatsverlängerung sogar ausdrücklich auf den Rückgriff auf französische Truppen zum Schutz von MINUSMA-Angehörigen.[3] Damit bleibt Frankreich nolens volens für die malische Regierung ein Garant der Sicherheit und Stabilität im Land.
Legionäre aus dem libyschen Bürgerkrieg
Die Sicherheitsherausforderungen Malis haben sowohl einen entwicklungspolitischen als auch einen sicherheitspolitischen Aspekt. Zum einen ließ es eine führungsschwache Regierung in Bamako zu, dass die aus dem libyschen Bürgerkrieg zurückkehrenden bewaffneten „Legionäre“ sich in den Norden zurückziehen konnten. Zum anderen blieb die Kontrolle des Territoriums durch eine bewusst schwach gehaltene malische Armee stets hinter den Anforderungen zurück. Gleichermaßen vernachlässigten die meisten malischen Regierungen den Norden und enttäuschten die Bevölkerung durch leere Versprechungen. Die Krise offenbarte allerdings auch, dass sich die entwicklungspolitischen Probleme des Landes nicht nur auf den Norden beschränken, sondern das gesamte Land betreffen.
Bei den Wahlen im Juli und August 2013 wurde Ibrahim Boubacar Keita mit einer überwältigenden Mehrheit von 77,62 Prozent zum Staatspräsidenten gewählt und erhielt bei Wahlbeteiligungen von 48,98 Prozent (erste Runde) und 44,41 Prozent (zweite Runde) eine zufriedenstellende Legitimierung. Angesichts der schwierigen Sicherheitslage waren Beobachter davon ausgegangen, dass ein weitaus geringerer Anteil der Bevölkerung an den Wahlen teilnehmen würde.
Regierung im Vertrauenssturz
Obgleich die Krise nochmals deutlich gemacht hatte, wie dringend Mali Regierungsreformen benötigt, fehlte der Regierung von Präsident Keita der Elan oder auch der politische Wille, diese anzustoßen. Im April 2014 traf aufgrund der blockierten Reformen sogar Premierminister Oumar Tatam Ly zurück. In der Bevölkerung hat die politische Klasse gänzlich an Vertrauen eingebüßt. Der Mangel an staatlichen Leistungen, aber auch der skandalöse Kauf eines Flugzeuges für den Präsidenten für dreißig Millionen Euro führten zu einer Abkehr der Bevölkerung von der Regierung und seitens des IWF zum Einfrieren der nächsten Tranche an Finanzhilfen. Die schwache Opposition (22 Abgeordnete von 147) stellt dabei keine glaubwürdige Alternative dar und offenbart den gleichen Mangel an moralischer Orientierung.
Um das Vertrauen der Bevölkerung in den politischen Prozess zurückzugewinnen, wird eine neue Generation von Politikern dringend benötigt! Dazu ist es notwendig, die dezentralen Strukturen zu reformieren und zu beleben. Über Jahrzehnte galt Mali im afrikanischen Kontext als Erfolgsbeispiel für Dekonzentration, doch wurden die vorhandenen Konzepte nie wirksam implementiert und insbesondere im Norden Staatsgewalt zu keinem Zeitpunkt effektiv ausgeübt. Die für den 26. Oktober geplanten Kommunalwahlen stellen daher eine einzigartige Möglichkeit dar, den Prozess wieder in Gang zu setzen und die Bindung zwischen Staat und Bürger durch eine „politique de proximité“ zu stärken.
Der insbesondere für den Norden Malis unabdingbare Versöhnungsprozess wird gegenwärtig lediglich durch punktuelle zivilgesellschaftliche Eigeninitiativen befördert. Sollte es auf der Makroebene zu einem Friedensvertrag kommen, wird es auf der kommunalen Mikroebene notwendig werden, zum einen die Spannungsfelder und relevanten Akteure zu identifizieren und Letztere in einen lokalen Versöhnungsprozess einzubinden. Zum anderen müsste die Bevölkerung über die Inhalte des Abkommens gezielt informiert werden. Dies sind die Arbeitsaufträge an politische Stiftungen, die die Konrad-Adenauer-Stiftung in Kooperation mit ihren lokalen Partnern wahrnimmt.
Informationsvermittlung und Sensibilisierung bei gesellschaftspolitisch relevanten Themen sind die Felder, auf denen politische Stiftungen einen Beitrag zu Konsolidierung leisten können. Darüber hinaus gilt es, das Vertrauen in politische und staatliche Autoritäten wieder herzustellen, das heißt, die entkoppelte Elite wieder in Dialog mit der Bevölkerung zu bringen, sodass die Entscheidungsträger wieder aufgerufen werden, sich gegenüber den Menschen zu verantworten. Zum anderen bedeutet dies, dass die Bevölkerung bewusst von ihren Möglichkeiten der politischen Partizipation Gebrauch macht. Austauschforen für Abgeordnete und Vertreter politischer Parteien auf lokaler Ebene sind hierbei ebenso ein Mittel wie eine Wählersensibilisierung für die bevorstehenden Kommunalwahlen. Da die Vertrauenskrise in der Bevölkerung nicht allein die staatlichen Instanzen mit ihrer politischen Klasse umfasst, sondern insbesondere auch das Militär betrifft, müssen seine Vertreter in die Dialogprozesse integriert werden. Vertrauen schaffen lässt sich dabei freilich nicht nur durch Dialogforen. Es geht auch um veränderte Verhaltensweisen und ein neues Selbstverständnis der Militärs. In diesem Kontext werden Trainingseinheiten zum Selbstbild des Soldaten in Anlehnung an das Konzept „Bürger in Uniform“ zu einer Ausbildungskomponente.
Trotz der strukturellen Ursachen des Konflikts in Mali besitzt dieser seit 2012 auch eine regionale Dimension. Diese erfordert es, dass sicherheitspolitische Diskussionen und die Entwicklung von Lösungsansätzen nicht nur mit nationalen Akteuren erfolgen. Es muss ein Austausch mit Nachbarstaaten, insbesondere mit Mauretanien, Algerien, dem Niger, Burkina Faso und der Elfenbeinküste erfolgen, in den außerdem die für den Sahel strategisch relevanten Staaten Tschad, Libyen, Nigeria und der Senegal einzubeziehen sind. Trotz der steigenden Verantwortungsbereitschaft afrikanischer Staaten und dem Wunsch, sich selbst für die Beilegung regionaler Konflikte zu engagieren, haben die Krisen sowohl in der Zentralafrikanischen Republik wie auch in Mali gezeigt, dass die Kapazitäten hierfür noch viel zu schwach ausgeprägt sind. Da auch die seit Langem auf Ebene der Afrikanischen Union diskutierte African Standby Force noch nicht realisiert werden konnte, werden internationale Interventionen zur Stabilisierung eines Landes – wie etwa Mali – weiterhin notwendig bleiben. Europa engagiert sich nicht zuletzt, um den grenzüberschreitenden Problemen Migration und Terrorismus zu begegnen; deshalb sollte ein sicherheitspolitischer Dialog nicht nur in der Region, sondern auch zwischen den Sahel-Staaten und europäischen Entscheidungsträgern stattfinden. Lösungsansätze können nur dann formuliert werden und weiterführen, wenn Fachexperten, Zivilgesellschaft und politische Entscheidungsträger sowie Angehörige des Militärs sich kontinuierlich austauschen.
Andrea Ellen Ostheimer, geboren 1970 in Groß-Umstadt, Leiterin des Teams Afrika, Hauptabteilung Europäische und Internationale Zusammenarbeit der Konrad-Adenauer-Stiftung.
[1] Noch in der Ausgabe des Bertelsmann Transformationsindex BTI 2012 (Berichtszeitraum bis 2011) erhielt Mali den positiven Statusindex von 6,09. [www.bti-project.de/fileadmin/Inhalte/reports/2012/pdf/BTI%202012%20Mali.pdf, 07.07.2014.] Auch im Freedom House Ranking erhielt Mali noch eine ausgesprochen positive Bewertung von 2,5 (auf einer Skala von 1 = best bis 7 = worst).
[2] www.eeas.europa.eu/csdp/missions-and-operations/eutm-mali/index_en.htm, 07.07.2014.
[3] UNSCR 2164, 25.06.2014.