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von Annegret Kramp-Karrenbauer

Die CDU Deutschlands auf dem Weg zu einem neuen Grundsatzprogramm

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Vor zwei Jahren haben wir auf vielerlei Weise an die Reformation vor 500 Jahren erinnert. Und in zwei Jahren findet ein weiteres Jubiläum statt, das eng mit der Reformation verbunden ist: 1521 hat Martin Luther auf der Wartburg bei Eisenach in nur wenigen Wochen das Neue Testament übersetzt; 1534 lag Luthers Übersetzung der gesamten Bibel vor. Es handelte sich zwar nicht um die erste Übersetzung der Bibel ins Deutsche, aber es war wohl die einflussreichste.


Zeit seines Lebens feilte Luther immer wieder an seiner Übersetzung. Und die Geschichte der Lutherübersetzung führt uns vor Augen, dass über die Jahrhunderte hinweg immer wieder neue Anpassungen vorgenommen wurden – bis in die jüngste Zeit. Das zeigt: Nicht nur die Übersetzung in eine andere Sprache ist eine große Herausforderung, auch der Sprachwandel kann neue Übersetzungen notwendig erscheinen lassen.

 
Nun ist die Übersetzung der Bibel aufgrund der Bedeutung des Gegenstandes alles andere als trivial. Luther selbst hat hierfür eigens eine Schrift herausgegeben: den Sendbrief vom Dolmetschen. Selbstverständlich blieben die Fragen des Übersetzens nicht nur auf die biblischen Texte beschränkt. In den vergangenen Jahrhunderten wurde viel geistige Kraft in die theoretischen Grundlagen des Übersetzens investiert. So stammt von Friedrich Schlegel der Satz: „Um aus den Alten ins Moderne vollkommen übersetzen zu können, müsste der Übersetzer desselben so mächtig sein, dass er allenfalls alles Moderne machen könnte; zugleich aber das Antike so verstehn, dass ers nicht bloß nachmachen, sondern allenfalls wiederschaffen könnte.“


Nun mögen uns in Zeiten des Google-Übersetzers manche solcher Überlegungen als sehr hochtrabend, wenn nicht gar überflüssig erscheinen. Aber Übersetzungsprogramme bleiben immer an der Oberfläche der reinen Information. Insofern wird auch in Zukunft das menschliche Nachdenken und Nachspüren des Geistes immer ein wichtiger Teil des Übersetzens bleiben.


Was hat das nun alles mit dem neuen Grundsatzprogramm der Christlich Demokratischen Union Deutschlands (CDU) zu tun? Auch der Prozess zur Erarbeitung eines neuen Grundsatzprogramms ist ein Nachdenken und Nachspüren. Macht der Sprachwandel Neuübersetzungen bisweilen notwendig, so gilt das auch für politische Grundsätze angesichts eines historischen und technologischen Wandels, den wir allerorten erleben können. Daher muss man sich die Erarbeitung eines neuen Grundsatzprogramms als eine große Übersetzung vorstellen. Anders gesagt: Es geht nicht um neue Grundsätze; es geht um die Übersetzung nach wie vor bestehender Werte und Grundsätze für die Gegenwart und Zukunft.


In diesem Sinne ist die Arbeit an einem neuen Grundsatzprogramm ein gemeinsames großes Übersetzungswerk. Es geht um die Übersetzung unserer Grundsätze angesichts der Herausforderungen der Zukunft und um den Geist unserer Grundsätze, wie dieser auch angesichts künftiger Entwicklungen lebendig bleibt und Orientierung bietet. Deshalb kann es bei einem neuen Grundsatzprogramm nicht einfach nur um Rückbesinnung als Selbstzweck gehen. Die Rückbesinnung auf die eigenen Werte und Grundsätze muss einem Zweck dienen – und zwar der Zukunftsfähigkeit eben dieser Grundsätze. Deshalb habe ich vor ziemlich genau einem Jahr – noch als CDU-Generalsekretärin – einen Artikel über das Grundsatzprogramm in einem Magazin der Konrad-Adenauer-Stiftung mit dem Titel überschrieben: „It’s the future, stupid!“ Denn genau darum geht es. Und wenn wir uns vor Augen führen, welche Entwicklungen sich allein in diesem einen Jahr ergeben haben, dann wird deutlich, wie dringend wir eine Übersetzung unserer Grundsätze in die Zukunft hinein benötigen: Die Klimapolitik bekam vor allem durch engagierte Jugendliche eine ganz neue Dynamik. Wir haben infolge permanenter Vertragsverletzungen durch Russland das Ende des historischen Washingtoner Vertrags über nukleare Mittelstreckensysteme (INF-Vertrag) erlebt. Aus China erreichten uns Meldungen über einen menschlichen Klon; in Japan dürfen inzwischen tierische Embryonen ausgetragen werden, deren Zellmaterial menschliche Stammzellen hinzugefügt wurden. Wir erlebten weitere Verschiebungen in der internationalen Zusammenarbeit; Deutschlands Bündnisfähigkeit und seine Rolle auf dem internationalen Parkett lösen Debatten über die Verteidigungsausgaben aus. Die Europawahlen ergaben eine Zusammensetzung des neuen Europäischen Parlaments, die den Abschied von einer dort jahrzehntelang geübten parlamentarischen Mehrheitsbildung markiert. Auch sind wir im vergangenen Jahr um die Erfahrung einiger digitaler Shitstorms reicher geworden. Und ob nun die Existenz von E-Scootern in deutschen Städten zu den grundlegenden Veränderungen zu zählen ist, will ich dahingestellt sein lassen – dass sich Mobilität verändert, steht jedoch außer Zweifel.


Zukunftsfähigkeit und Orientierung


Angesichts dieser ausgewählten und vieler weiterer Beispiele stelle ich in vielen Gesprächen immer wieder fest: Es gibt eine Sehnsucht nach Orientierung – innerhalb der CDU, aber auch in der gesamten Gesellschaft. Wenn die CDU keine Antworten auf die eigene innerparteiliche Sehnsucht geben kann, dann vermag sie auch keine Antworten auf die Sehnsucht nach Orientierung vieler Deutscher zu geben. Deshalb kommt dem Grundsatzprogrammprozess die wichtige Funktion zu, Zukunftsfähigkeit und Orientierung miteinander zu verbinden.


Was heißt das nun konkret? Ich möchte dies an einem Beispiel verdeutlichen: Vor einigen Wochen erinnerten wir in der CDU an den Beschluss der Düsseldorfer Leitsätze vor siebzig Jahren. Sie begründeten das unumstößliche Bekenntnis der Christdemokratie zur Sozialen Marktwirtschaft. Als ich mir in Vorbereitung dieses Jubiläums diese Leitsätze noch einmal zur Hand nahm, spürte ich schnell: Da geht es für uns heute nicht um rückblickendes Erinnern. Nein, diese Leitsätze haben auch unter völlig veränderten Rahmenbedingungen weiterhin viel zu sagen. Sie sind hochaktuell, aber wir müssen sie für die Gegenwart und Zukunft übersetzen. Der Geist der Düsseldorfer Leitsätze schuf nicht nur die Chancen für das Wirtschaftswunder in der Bundesrepublik; dieser Geist kann auch die Chancen für den Wohlstand im 21. Jahrhundert schaffen. Dafür müssen wir diese Leitsätze aber so übersetzen, dass ihr Geist lebendig bleibt und neue Kraft entfalten kann.


So lesen wir in den Leitsätzen: „Monopole und Träger marktwirtschaftlicher Macht sind einer institutionell verankerten, unabhängigen und nur dem Gesetz unterworfenen Monopolkontrolle unterworfen.“ Was bedeutet ein solcher Grundsatz angesichts von Internetriesen wie Amazon, Google oder Facebook? Was bedeutet eine nur dem Gesetz unterworfene Monopolkontrolle, wenn Gesetze eines Nationalstaates bei international agierenden Konzernen mit Geschäftssitz irgendwo im Ausland keine Wirkung mehr entfalten können? Die Düsseldorfer Leitsätze weisen uns den Weg, dass wir eine viel stärkere internationale Monopolkontrolle brauchen. Auf europäischer Ebene sind wir hier bereits viele wichtige Schritte gegangen. Diesen Weg müssen wir fortsetzen und um internationale Vereinbarungen verbreitern.


Ein anderes Beispiel: „Technik und Wissenschaft sind mit Nachdruck zu fördern. Sie schaffen neue Bedürfnisse und Arbeitsmöglichkeiten. Sie senken Gestehungskosten.“ Nicht nur in der aktuellen Debatte um einen effektiven Klimaschutz, sondern auch mit Blick auf den digitalen Wandel ist es von essenzieller Bedeutung, diesen Leitsatz wieder mit Leben zu füllen. Angesichts vieler Verbotsdebatten und weitverbreiteter Fortschrittsskepsis muss es die CDU sein, die das Vertrauen in Innovationen als wichtiges Merkmal einer funktionierenden Sozialen Marktwirtschaft stärkt. Denn Forschung, Entwicklung, Innovationen und neue Produkte sind die Voraussetzungen dafür, dass technologischer Wandel nicht zu weniger, sondern zu mehr Jobs führt und unseren Wohlstand auch in Zukunft sichert.


Mit Mut und Optimismus in die Zukunft


Was vor siebzig Jahren galt, gilt auch heute: Technik und Wissenschaft schaffen neue Arbeitsmöglichkeiten. Diesen Grundsatz mit Leben zu füllen, bedeutet: Wir müssen weg von einer angstgeleiteten Debatte über Jobverlust durch Digitalisierung hin zu einer optimistischen Chancendebatte kommen. Da hilft es nichts, nur sorgenvoll auf bestehende Jobs zu schauen; wir müssen immer auch die Tätigkeiten im Blick haben, von denen wir heute noch gar keine Ahnung haben. Technik und Wissenschaft sind nicht nur im hochqualifizierten Bereich ein Jobmotor; sie ziehen auch viele neue Berufsfelder nach sich. Denn der genannte Leitsatz sagt auch aus, dass Technik und Wissenschaft neue Bedürfnisse schaffen. Aus diesen neuen Bedürfnissen entstehen auch neue Jobs. Wenn also andere über Digitalisierung als Jobkiller reden, dann muss es die CDU sein, die diesem Pessimismus – der nichts mit dem Geist der Sozialen Marktwirtschaft zu tun hat – mit Optimismus und Zukunftshoffnung entgegentritt.


Die Düsseldorfer Leitsätze stellen außerdem fest: „Eine gerechte Verteilung der wirtschaftlichen Erträge und eine soziale Gesetzgebung müssen aus den vermögenslosen Schichten unseres Volkes in großem Umfang besitzende Eigentümer machen.“ Angesichts mancher hyperventilierender Enteignungsdebatten und grassierender Umverteilungsphantasien ist dieser Leitsatz hochaktuell. Es ist irrsinnig, wenn Vermögensbildung in Form von Immobilien, Unternehmensbeteiligungen oder Aktien verteufelt oder zumindest verdächtig gemacht wird. Statt gegen Eigentümer sozialpopulistisch zu Felde zu ziehen, sollte eine „soziale Gesetzgebung“ das ausdrückliche Ziel verfolgen, Vermögensbildung zu einem erwünschten und realistischen Ziel zu erklären.


Ein letztes und grundlegendes Beispiel: „Die Soziale Marktwirtschaft kann nur verwirklicht werden, wenn sie das Vertrauen aller Schichten des Volkes besitzt, d. h. wenn Unternehmer, Arbeiter, Angestellte und Verbraucher aktiv an ihrer Durchführung beteiligt werden.“ Vertrauen ist auch heute die entscheidende Voraussetzung für das Funktionieren unserer Sozialen Marktwirtschaft. Dieses Vertrauen zu stärken, ist angesichts globaler Wirtschaftsverflechtungen eine besondere Herausforderung. Nur wenn es gelingt, die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft auch nach außen offensiv zu verteidigen, kann Vertrauen wachsen. Dafür braucht Deutschland im Verbund mit seinen europäischen Partnern ein starkes Gewicht. Dieses Gewicht werden wir nicht durch schöne Worte erreichen, sondern nur als starker Markt mit entsprechendem Einfluss. Deshalb sind Handelsabkommen, Wettbewerbsfähigkeit und Marktmacht von entscheidender Bedeutung, wenn wir bei den Spielregeln für eine globale Wirtschaft noch mitreden wollen.


Kurzum: Eine Übersetzung der Düsseldorfer Leitsätze in Gegenwart und Zukunft ist zwingend erforderlich und wichtiger Bestandteil der Arbeit an einem neuen Grundsatzprogramm. Aber selbstverständlich reduziert sich die Übersetzungsarbeit nicht auf die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft. Da geht es um ethische Fragen in Zeiten des rasanten medizinischen Fortschritts; um Zusammenhalt in Zeiten einer immer pluraler werdenden Gesellschaft; um unseren Blick auf die internationale Ordnung und die Bündnisfähigkeit Deutschlands; um Generationengerechtigkeit im Sinne finanzieller und natürlicher Ressourcen; um neue Sicherheitsbedrohungen und die Antwort eines starken und handlungsfähigen Rechtsstaats; um Rechte und Pflichten des Bürgers dem Staat gegenüber; um das richtige Zusammenspiel von Freiheit und Verantwortung; um die eigene Identität, die Chancen erfolgreicher Integration und die Anforderungen an eine humane und gleichzeitig rechtsstaatliche Asyl- und Flüchtlingspolitik.


Zuhören, diskutieren, entscheiden


Es zeigt sich: Die CDU hat sich mit der Erarbeitung eines neuen Grundsatzprogramms auf den Weg einer großen Übersetzungsleistung begeben. Begonnen hat sie im vergangenen Jahr mit meiner Zuhör-Tour. Aus diesen Gesprächen sind Leitfragen entstanden. Antworten hierauf werden derzeit in den Parteigliederungen und Vereinigungen diskutiert und als Ergebnis der Debatte eingereicht. Hieraus entsteht ein erster Entwurf des neuen Grundsatzprogramms, mit dem ich im kommenden Jahr erneut durch die gesamte CDU ziehen werde, um ihn mit allen Mitgliedern zu diskutieren. Auf einem Parteitag im Jahr 2020 soll das neue Grundsatzprogramm dann beschlossen werden. Mit diesem Prozess folgen wir dem Dreischritt: zuhören – diskutieren – entscheiden.


Besonders am Herzen liegt mir auf diesem Weg die intensive, offene und kontroverse Debatte innerhalb unserer Partei. Wie bei der Übersetzung eines Textes bietet auch hier allein der Prozess schon einen Mehrwert: Die Suche nach den treffenden Worten ist die Suche nach der richtigen Übertragung unserer bleibenden Werte und Grundsätze. Und diese Suche ist umso erfolgreicher, je mehr sich daran beteiligen und je mehr wir uns dabei austauschen. Deshalb habe ich bereits im vergangenen Jahr immer wieder betont: Der Weg hin zu einem neuen Grundsatzprogramm kann nur ein gemeinsamer Weg sein, ein Weg der gesamten CDU Deutschlands. Es geht um gemeinsames Ringen, um gemeinsames Debattieren, um gemeinsamen Austausch. Die Vorstellung einer Grundsatzkommission, die vor sich hin arbeitet und dann den Mitgliedern etwas zur Entscheidung vorlegt, würde das unglaubliche Potenzial, das unglaubliche Wissen und die unglaubliche Erfahrung, die in unserer CDU stecken, konterkarieren.


Mit ihren über 400.000 Mitgliedern ist die CDU Deutschlands einer der größten Thinktanks im Lande. Allein welche Ideen schon im vergangenen Jahr in dieser Denkfabrik aus Debatten heraus entstanden sind, macht Mut für die kommenden Jahre. Jede Unterstützung, jedes Mitdenken, jeder konstruktive Debattenbeitrag ist dabei willkommen. Deshalb bin ich der Konrad-Adenauer-Stiftung im Allgemeinen und der Zeitschrift Die Politische Meinung im Besonderen dankbar, dass sie die CDU mit vielen Anregungen auch bei der Arbeit an einem neuen Grundsatzprogramm unterstützen.


Diesen Dank verbinde ich mit dem Wunsch, dass uns das große Übersetzungswerk so gelingt, dass unsere christdemokratischen Werte und Grundsätze auch heute und morgen Orientierung geben können. Ich erhoffe mir ein Grundsatzprogramm, das unsere Werte und Grundsätze zum Leuchten bringen wird – und zitiere Gotthold Ephraim Lessing: „Die Treue eines Übersetzers wird zur Untreue, wann er seine Urschrift dadurch verdunkelt.“



Annegret Kramp-Karrenbauer, geboren 1962 in Völklingen, 2011 bis 2018 Ministerpräsidentin des Saarlandes, seit Dezember 2018 Vorsitzende der Christlich Demokratischen Union Deutschlands, seit Juli 2019 Bundesministerin der Verteidigung.

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