Auf die Frage „Warum braucht Europa Italien?“ könnte man mit Evelyn Hamanns legendärer Frau Hoppenstedt aus dem berühmten Loriot-Sketch antworten: „Da regt mich ja schon die Frage auf!“ Denn wäre Europa ohne Italien überhaupt Europa? Eine tautologische Frage! Aber auch eine Steilvorlage. Man hält inne, betrachtet die drei Hauptbestandteile und überlegt, wie sie zueinander in Beziehungen stehen. Was ist Europa? Was ist Italien? Und wie soll man „brauchen“ verstehen?
Fangen wir beim letzten an: „Brauchen“ ist ein starkes Wort; es rührt an die Existenz, es meint nicht kontingente Gründe. Also schaut man nicht auf jene Motive, die aus dem zufälligen Gestern und Heute der europäischen Vertragssituation heraus pragmatisch nahelegen, dass Italien halt dazugehört, sondern auf das „Eigentliche“, was Europa begründet und idealiter ausmacht. Aber was ist das? Europa zu definieren, haben sich Menschenüber Jahrtausende bemüht. Immer, wenn man es festlegen will, scheint es sich zu verflüchtigen. Das gilt politisch, monetär, geografisch, territorialstrategisch, religiös, ökonomisch, kulturell. Das gilt für die Frage, wer dazugehört und wer nicht, wo die Grenzen sind. Das gilt für die Frage, wozu Europa gut sein soll: Sicherung von Frieden, Wohlstand, Wahrung eines Mitspracherechts in der früher bipolaren und jetzt multipolaren Welt, Modell für Menschenwürde und soziale Gerechtigkeit oder Methode zur Erhaltung der Nationalstaaten? Alles zusammen? Die europäischen Verträge deklinieren ganz unterschiedliche „Europas“ durch. Im Brüsseler Rahmen werden die einzelnen europäischen Partner funktional bestimmt, und in dieser Konstruktion hat Italien seinen Platz und wird „gebraucht“.
Mit der europäischen Architektur der Nachkriegszeit erschöpft sich die Frage nach Europas Sinn und „Identität“ jedoch nicht. Um diese Identität wird gefeilscht, nicht nur an den Rändern. Identität gilt manchen als hässliches I-Wort, stets im Verdacht, irgendwie nach Exklusion zu trachten. Aber ohne Identität kein Subjekt und ohne Subjekt kein vernünftiger Wille, kein politischer Wille und auch keine ökonomische Ratio. Die Jahre der Krise haben gezeigt, dass es schwer bis unmöglich ist, sich auf gemeinsame Ziele, Anstrengungen und solidarische Leistungen zu verständigen, wenn nicht klar ist, wer das Subjekt „Wir“ ist, für das all dies geschehen soll.
Janus auf dem Sprungbrett
Hier kommt Italien ins Spiel. Wenn Europa nämlich ein Subjekt sein will, das sich Gedanken darüber machen kann, was es ist und welche gemeinsamen Projekte es anpacken könnte, dann verdankt es dies seiner Biografie, an deren Narrativ Italien mitwirkt, seit überhaupt von Europa gesprochen wird – und zwar sowohl in dem Erzählstrang über die alte europäische Kulturtradition als auch in dem Kapitel der zeitgenössischen Einigungspolitik nach 1945. Zu Europa gehören beide. Europa ist identisch mit seiner Geschichte oder besser: mit seinen Geschichten. Diese können und müssen dann zum Sprungbrett für großartige Vorhaben in der Zukunft werden, aber ohne den Kopf des Janus, der zugleich zurück und nach vorn blickt, geht gar nichts.
Deshalb kann sich die Antwort auf die Frage „Warum braucht Europa Italien?“ nicht mit ökonomischen Argumenten zufriedengeben, zum Beispiel mit dem Hinweis auf die Tatsache, dass Italien die drittgrößte Wirtschaft in der Eurozone ist, „too big to let fail“. Gewiss gilt auch in Europa: „It’s the economy, stupid!“ Aber wollten die Europäer nicht gerade etwas mehr sein als
„bloß“ ein prosperierender Wirtschaftsraum? Ebenso wenig befriedigt der geostrategische Hinweis, dank Italien besitze Europa einen verlängerten Arm ins Mittelmeer, denn auch dann wäre Italien eben bloß funktional interessant, und das heißt bekanntlich: austauschbar.
Dolce Vita
Der Blick der Europäer auf sich selbst, auf ihre eigene Biografie, riskiert, auf dem Niveau des European Song Contest zu verharren. Die europäischen Nationen könnten in die Logik der alten Völkerschauen verfallen: Jede führt vor, was sie Einzigartiges zu Europas Glanz beigetragen hat. In einer solchen Logik spielt Italien in der europäischen Champions League zweifellos ganz vorn mit. Von der etruskischen Zeit bis zu Renzo Piano bietet Italien eine ununterbrochene Kette kultureller und künstlerischer Meisterwerke, die allenthalben rezipiert und nachgeahmt worden sind. Die Arbeiten der italienischen Malerei, Bildhauerei, des Designs und der Architektur von Weltrang lassen sich gar nicht zählen. In der Musik, im Film haben italienische Künstler unerreichte Meisterschaft bewiesen. Und man muss natürlich all die Erfindungen der italienischen Lebensart hinzunehmen, bei denen gerade die Deutschen ins Schwärmen geraten: Küche, Mode und schöne Autos. Leonardo, Michelangelo, Pizza, Nutella und Dolce Vita … Aber was ist an einer solchen Revue nationaler Spitzenleistungen europäisch?
Italien bietet darauf zwei Antworten, die zugleich europäische Wege aufzeigen: Zum einen erweist sich die italienische Geschichte als eine Art Europa en miniature. Denn die Dichte und Fülle der weltweit einmaligen Kulturleistungen verdankt sich der Dichte der Kommunikation, der Inszenierung und der Konkurrenz, der Vernetzung auf vergleichsweise kleinem Raum. Sprichwörtlich ist die Rede von den „hundert Italien“: Italien bedeutet unendliche Vielfalt, selbstverständlich auch schwere Konflikte, aber eben eine ununterbrochene Geschichte des intensiven Austauschens, Konkurrierens, Abguckens, Imitierens, Bessermachen-Wollens.
Hineinnehmen, überzeugen, adaptieren
Die zweite Antwort hängt mit der ersten zusammen. Die italienische Kultur vermeidet scharfe Schnitte und Brüche. Nichts ist irreversibel. Geschmeidigkeit und Flexibilität sind hohe Tugenden. In Italiens politischer Kultur wurde eine große europäische Technik erfunden und unendlich verfeinert: die gemeinsame Suche nach konzilianten, entwicklungsoffenen und zugleich pragmatischen Formeln, die niemanden das Gesicht verlieren lassen und maximale Partizipation gestatten. Egal ob man es „Politik der Mitte“ (Alcide de Gasperi) oder „Öffnung nach links“ (Aldo Moro) oder nach deutschem Vorbild „Große Koalition“ (Enrico Letta) nennt – der Grundgedanke ist, dass ein Gemeinwesen davon lebt, dass ein möglichst breiter Kreis von Mitspielern berücksichtigt und der extremistische Rand so schmal wie möglich gehalten wird. Diese politische Begabung wirkt manchmal in ihrem disziplinierten Willen zum Kompromiss langweilig, und dann betreten tolldreiste Spektakelmacher wie Silvio Berlusconi die Politbühne.
Aber es ist kein Zufall, dass der einzige, der Berlusconi jemals in demokratischen Wahlen besiegt hat und den der Mailänder Unternehmer fürchtete wie keinen anderen Gegner, ein typischer unspektakulärer Kompromisspolitiker alter christlich demokratischer Prägung wie Romano Prodi ist, der an seiner Seite den unaufgeregten Tommaso Padoa-Schioppa hatte. Deren politische Begabung des Hineinnehmens, Vereinnahmens, Überzeugens, Adaptierens ist, so scheint es, die andere Seite der genialen Kultur-Begabung Italiens und eben Europas. Darum braucht Europa Italien.
Christiane Liermann Traniello, geboren 1960 in Bonn, Wissenschaftliche Referentin, Villa Vigoni – Deutsch-Italienisches Zentrum für Europäische Exzellenz, Loveno di Menaggio (Italien).