Asset-Herausgeber

Gestaltung: StanHema

Die Suche nach dem Allgemeinen

von Jens Hacke

Warum die Demokratie nicht ohne Einsatzbereitschaft der Bürger funktioniert

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In stabilen liberalen Demokratien wirkte die Diskussion über den gesellschaftlichen Zusammenhalt lange Zeit wie ein Luxusproblem. Wenn es den Bürgerinnen und Bürgern gutgeht, scheint die Suche nach gemeinschaftsbildenden Kräften eher gefährlich: Die Beschwörung jedweder kollektiven Identität weckt den Verdacht, andere ausschließen zu wollen; der Appell an Gemeinsinn erscheint ebenso lästig wie überflüssig. Von Opferbereitschaft und Patriotismus zu sprechen, weckt allenfalls unruhige Geister einer dunklen Vergangenheit. Eine oft karikierte liberale Position, dass an alle gedacht ist, wenn jeder an sich denkt, gefällt den Selbstoptimierern und homines oeconomici des neoliberalen Zeitalters.

„Wohlstand für alle“ war schon in Wirtschaftswunderzeiten zur Formel der Erwartung eines stetig steigenden Lebensstandards avanciert, die das zivilisierend-pazifizierende Moment des Konsums mitdachte – ein alter wirtschaftsliberaler Traum. Das Faszinosum der „unsichtbaren Hand“ sorgte für eine Art prästabilierter Harmonie, denn die Verfolgung des Eigeninteresses, vermittelt durch Marktkräfte, fügt sich zum Wohle aller. Auch wenn diese Überlegung evidentermaßen nie so ganz aufging, konnte sie doch einige Plausibilität für sich beanspruchen. In der Tat ist der Markt ein erstaunliches Instrument zur Herstellung von Balance und zur Befriedigung der Nachfrage. Die Epoche der Systemkonkurrenz im Kalten Krieg gab dieser Überzeugung Rückenwind. Aber der Markt ist eben ein Instrument, kein natürliches Prinzip. Schon in den 1920er-Jahren hatte John Maynard Keynes das absolute Vertrauen in den Markt als Voodoo-Glauben enttarnt, denn die Kosten eines darwinistischen Wettbewerbs um Innovation und Preise, das Scheitern von Projekten, die damit einhergehende Verschwendung von Ressourcen – diese wenig ökonomischen Faktoren werden im vermeintlich vernunftbasierten Marktmodell kaum erfasst.

 

Dünner Firnis der Zivilisation

 

Zudem wird die Gesellschaft eben nicht nur von rationalisierbaren Bedürfnissen gelenkt: Sie wird ebenso beherrscht von Erwartungen, Hoffnungen und Ängsten, von der Sehnsucht nach Zusammengehörigkeit und dem Wunsch nach individueller Freiheit und Selbstbestimmung. Wir erleben es dieser Tage. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist in seinen Folgen noch kaum abzuschätzen, und die Erfahrung, dass der Firnis der Zivilisation dünn und brüchig ist, wird zur existenziellen Verunsicherung. Überrascht und auch ergriffen erleben wir die patriotische Wehrhaftigkeit der Ukrainer, die verbindende Kraft des Nationalgefühls und des Freiheitsstrebens – die Selbstverständlichkeit, mit der Hunderttausende ihr Leben für die Landesverteidigung aufs Spiel setzen. Tausende haben es bereits verloren. Sprach ein deutscher Politiker in den 1990er-Jahren von der „Nation als Schicksalsgemeinschaft“, setzte er sich dem Verdacht aus, am rechten Rand zu fischen. Für die Ukraine ist diese Feststellung heute lediglich eine objektive Situationsbeschreibung – und erinnert im Übrigen daran, dass Nationalbewusstsein, Freiheitsdrang und Demokratie im 19. Jahrhundert eng verbunden waren. Dass die Ukrainer darüber hinaus nach Europa und in die Europäische Union streben, ist nicht nur Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen geschuldet, sondern belegt den Appeal einer politischen Kultur der Freiheit, die im ehemals sogenannten freien Westen selbst erst wieder in ihren Fundamenten begriffen werden muss.

Der Soziologe Andreas Reckwitz hat uns über die „Gesellschaft der Singularitäten“ aufgeklärt, welcher der Sinn für das Allgemeine zunehmend abhandengekommen ist. Damit pointiert er eine Entwicklung, die in der politischen Theorie schon seit Langem Anlass zu besorgter Reflexion gab – zuletzt im etwas stiefmütterlich rezipierten Kommunitarismus. Wie ist einer zunehmenden Individualisierung zu begegnen? Lässt sich in hochgradig arbeitsteiligen und differenzierten Gesellschaften Gemeinsinn überhaupt noch nachhaltig fördern?

 

„Grenzen der Gemeinschaft“

 

Das politische Denken der Moderne kreist unaufhörlich um den Antagonismus von Gesellschaft und Gemeinschaft. Ein antitotalitärer Impuls führte mit guten Gründen dazu, die „Grenzen der Gemeinschaft“ (Helmuth Plessner) enger zu ziehen und vor einem ideologisch entflammten Kollektivismus links oder rechts eindringlich zu warnen. Es ist darum kaum verwunderlich, dass demokratische Politik defensiv bleibt, wenn es um gemeinschaftsstiftende Werte und Rhetoriken geht. Bei uns taucht schnell das Gespenst der „Volksgemeinschaft“ auf. In einer postheroischen Gesellschaft werden klassische republikanische Ideale eher befremdet zur Kenntnis genommen – oder sie taugen allenfalls für politische Sonntagsreden. Schon John F. Kennedys Formel „Fragt nicht, was euer Land für euch tun kann – fragt, was ihr für euer Land tun könnt!“ würde heute vermutlich eher verschrecken als begeistern. Der Republikanismus des sozialdemokratischen Staatsrechtlers Hermann Heller, der zum zehnten Verfassungstag der Weimarer Republik zur Verteidigung der Freiheit aufrief – „wenn es sein muß mit der Waffe in der Hand“ –, zeugt von einem lang abhandengekommenen Geist demokratischer Wehrhaftigkeit.

Dementsprechend gilt in der Politik seit Langem die Maxime, die Bürgerinnen und Bürger in erster Linie vor Zumutungen zu bewahren. Jeder noch so vorsichtig vorgetragene Appell an gemeinsame Verantwortung kann sich als Bumerang erweisen. Angela Merkels „Wir schaffen das“ im Sommer 2015 ist vermutlich der eindrücklichste Beleg dieser Entwicklung. Die Tendenz, mögliche Einschränkungen in sich anbahnenden Krisen sofort mit Geldausschüttungen abzufedern, kann dann fast schon absurde Züge annehmen: Abwrackprämien, Pandemiepauschalen und Tankrabatte befördern die Vollkasko-Mentalität eines Gemeinwesens, dessen Bürgerinnen und Bürgern gar nicht mehr zugetraut wird, einen politischen Sinn zu entwickeln oder zu Einsichten in die Konsequenzen krisenhafter Verläufe zu gelangen. Dabei werden die Kompetenzen und der Einsatzwillen in der Bevölkerung gründlich unterschätzt und Potenziale verschenkt. Dies zeigt die Bereitschaft zur Flüchtlingshilfe 2015, in den Folgejahren und 2022 ebenso wie das weitgehende Unverständnis gegenüber dem Gießkannenprinzip von Energiegeldern, die von den meisten überhaupt nicht benötigt werden, ja ihnen angesichts des Leids in der Ukraine teils eher fehl am Platz scheinen.

Warum kein Tempolimit, warum keine gemeinschaftlichen Einsparungsanstrengungen fossiler Energieträger? Ein jahrelanges Buhlen um die gesellschaftliche Mitte, in der ja bekanntlich die Wahlen gewonnen und die bei Laune gehalten werden soll, hat den Sinn dafür vernebelt, was die Mehrheit der Bevölkerung zu leisten imstande wäre. Maß, Mitte, Vernunft und Verlässlichkeit werden dann zu Chiffren einer Politik, die Führung umdeutet in Administration und Risikomanagement, das eigentlich immer zu spät kommt und allenfalls auf den Druck der Demoskopie reagiert. Überzeugungsarbeit und das Erklären von Maßnahmen finden nur noch rückwärtsgewandt statt und verzichten auf jede Gestaltungskraft.

Odo Marquards Maxime „Vernünftig ist, wer den Ausnahmezustand vermeidet“ bleibt eine kluge Leitlinie demokratischer Politik. Aber die Demokratien des Westens sind dazu aufgefordert, die Bedrohungen der Ordnung mitzudenken und Normalitätsgewissheiten nicht einzufrieren. Man sollte es dieser Tage nicht bei Selbstbezichtigungen liberaler Blindheit belassen. Aus Selbstkritik und Fehlerkorrektur ist in der Geschichte des Westens (um Heinrich August Winklers zu Unrecht kritisierte, normativ notwendige Identitätsformel bewusst zu gebrauchen) immer wieder die Fähigkeit zur Erneuerung erwachsen. Der Westen muss und kann erklären, wofür er steht: Freiheit, Menschenrechte, eine Kultur der Toleranz, ja auch der Kampf gegen Armut und Ungleichheit sind keine Sprechblasen, sondern feste Überzeugungen. Sie geben Orientierung bei der Bestimmung des Allgemeinen, das eben über die simplen Sicherheits- und Wohlstandsbedürfnisse des Einzelnen hinausgeht.

 

Pluralistische Ordnung ist kein Perpetuum Mobile

 

In der amerikanischen Debatte haben kritische Liberale wie Richard Rorty oder Mark Lilla die Linke früh dafür gescholten, die soziale Frage und das Allgemeine zugunsten von identity politics vernachlässigt zu haben. Es wäre zu billig, die Linke allein für den Verlust gesellschaftlicher Solidaritätsbeziehungen verantwortlich zu machen, denn die Zurückhaltung, neben bürgerlichen Freiheiten auch Pflichten zu thematisieren und über das Alltägliche hinaus Diskussionen über das Gemeinwohl anzustoßen, betrifft die Volksparteien insgesamt. Sie sind eben nicht lediglich die Advokaten einer um ihren Besitzstand besorgten Mitte, sondern sollten Foren bieten, um die Gesellschaft insgesamt gerechter, sozialer und lebenswerter zu gestalten – als Gemeinschaftsanstrengung im Sinne aller Bürgerinnen und Bürger.

„Never let a good crisis go to waste“, wusste Winston Churchill, und in diesem Sinne bieten auch die derzeitigen Katastrophenszenarien das Potenzial, nachhaltige Lernerfahrungen zu befördern und sich der existenziellen Grundlagen der Freiheit bewusst zu werden, um sie zu schützen und zu kräftigen. Es ist wahr: Das Gemeinwohl kann im Pluralismus der liberalen Gesellschaft als Resultante der verschiedenen Interessengruppen verstanden werden; eine ideologische Monopolisierung seiner Inhalte führt in den Totalitarismus. Jedoch ist die pluralistische Ordnung kein Perpetuum mobile, das auf ideelle Energiezufuhren, Konflikte und alternative Programmatiken verzichten kann. „Das Gemeinwohl kommt nicht von selbst“, formulierte Dolf Sternberger 1961, „sondern man muss es wollen.“ Der Aristoteliker Sternberger scheute sich nicht, vom „allgemeinen Besten“ zu sprechen. „Nur eine moralische Gesinnung“ könne die Institutionen tauglich machen, „das allgemeine Beste zu befördern“. Eine solche Haltung ist von keiner politischen Elite zu erwarten, wenn sie nicht den Mut hat, sich insgesamt auf bürgerliche Tugenden zu stützen. Wie es scheint, sind Sternbergers basale Einsichten alles andere als altmodisch, vielmehr weiterhin aktuell.

 

Jens Hacke, geboren 1973 in Bonn, seit 2020 Professur für Vergleichende Politische Kulturforschung (Vertretung), Universität der Bundeswehr München.

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