Asset-Herausgeber

von Emmanuel Alloa

Die Krise der Repräsentation und der Verlust transformativer Öffentlichkeiten

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„Sonnenlicht ist das beste Desinfektionsmittel; elektrisches Licht die wirkungsvollste Polizei.“ Was der US-amerikanische Bundesrichter Louis Brandeis bereits 1913 zum Ausdruck brachte, ist heute zur Selbstverständlichkeit geworden: Wo Transparenz herrscht, verschwinden viele Probleme wie von Zauberhand. Transparenz steht allgemein für das Versprechen vollkommener Durchsichtigkeit, für das Aufräumen mit unklaren Verhältnissen, okkulten Mächten und dunklen Machenschaften, aber darüber hinaus auch für den Kampf gegen alle Abläufe, die hinter den Kulissen und bei verschlossenen Türen stattfinden und damit von Anbeginn unter Verdacht stehen müssen, den Absicherungen von Partikularinteressen zu dienen. Kein Tag vergeht, ohne dass neue Transparenzforderungen artikuliert werden: Ein Recht auf Transparenz wird in so unterschiedlichen Bereichen gefordert wie in der Finanzwelt, im Sport, in der Ernährungsindustrie, der Medizin, den Medien oder natürlich auch in der Politik. Die Idee der Selbstmoralisierung durch Transparenz geht auf einen Denker zurück, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Theorie des gläsernen Managements vorlegte: Jeremy Bentham. Je genauer wir beobachtet werden, so der britische Philosoph und Begründer des Utilitarismus, desto besser benehmen wir uns auch. Bentham, der am Beispiel des von seinem Bruder Samuel entworfenen panoptischen Gefängnisses die Vorzüge einer auf absoluter Einsehbarkeit beruhenden Verwaltung erläutert, verwendet folgende Metapher: Die Tore aller öffentlichen Einrichtungen sollten für alle Neugierigen weit offen stehen – sie stellen die große offene Versammlung des Weltgerichts dar.

 

Terror des Authentischen

 

In Jeremy Benthams Metapher kommt die gleiche Vorstellung zum Ausdruck, die auch bei Louis Brandeis nachwirkt, nämlich, dass fragwürdige Absichten nach Möglichkeit das Tageslicht meiden und sich eher im Zwielichtigen einrichten. Es ist wohl kein Zufall, wenn düstere Absichten, verhülltes Geschacher und heimliche Machenschaften allesamt im optischen Register der Dunkelheit angesiedelt werden. Wer nicht offen auf die Bühne tritt, muss zwangsläufig unter Verdacht stehen, nicht im Interesse des Gemeinwohls zu handeln, sondern vielmehr Finsteres im Schilde zu führen. In Benthams Fadenkreuz steht das alte Programm der sogenannten arcana imperii, das Regelwerk geheimer Praktiken, die der Souverän anwenden kann, um sein unmündiges Staatsvolk zu lenken. Wer das Zwielichtige abschafft – so die Vorstellung –, minimiert auch die Gründe für Zwietracht, zumindest aber für die Heuchelei. Allgemein geht es darum, die Politik im Hinterzimmer abzuschaffen: Wenn etwas verhandelt wird, soll das auf offener Bühne geschehen, auf einer Bühne, deren Bühnenhaftigkeit und Inszeniertheit jedoch geleugnet wird.

Dass Transparenz heute quer durch das politische Spektrum hindurch zum Konsensfaktor geworden ist, sagt viel über die Ängste einer Zeit aus, die sich selbst für postideologisch hält. Es ist bezeichnend, dass die mediale Zurüstung von Lebensbereichen und die apparative Kolonisierung unseres Erfahrungsraums umgekehrt immer größere Wünsche nach Unmittelbarkeit und real time nach sich ziehen. Das Transparenzideal geht dabei, wie zu argumentieren sein wird, mit einem neuen sozialen Konformismus Hand in Hand, der sich auch als Terror des Authentischen charakterisieren lässt. Im Hintergrund steht ein altes Thema: die Kritik der Repräsentation als Kritik des Spektakels.

Völlig neu sind die Zweifel an repräsentativen politischen Ordnungen nicht. Seit jeher steht die Repräsentation unter Verdacht, das Repräsentierte anders darzustellen, als es in Wirklichkeit ist, wenn es sich von sich selbst her zeigen würde. Unter dem Stichwort der Spektakelkritik wurde gegen jene Verstellung angekämpft, im Namen einer Rückkehr zu mehr Authentizität. Grundsätzlich geht es stets um die Einführung einer Zweiteilung, einer dualistischen Verdopplung: Auf der einen Seite gibt es das Offenbare, auf der anderen die eigentliche Kraft; hier die Inszenierung, dahinter die Hinterbühne, hier das Vermeintliche, dahinter die eigentlichen Drahtzieher. Kaum verwunderlich also, dass die Forderung nach mehr Transparenz stets auch mit der Forderung nach Authentizität einhergeht: Es geht darum, mit der Doppelmoral aufzuräumen und mit einem nur vorgegaukelten Diskurs, hinter dem sich in Wirklichkeit anderes verbirgt. So der Facebook-Gründer Mark Zuckerberg, der dem Spiel mit Identitäten den Kampf angesagt hat: „Die Zeiten, in denen man seinen Kollegen eine Persönlichkeit präsentieren kann und Freunden eine andere, sind vorbei. Zwei oder mehr Identitäten zu haben, zeugt von einem Mangel an Integrität.“ Durch vermehrte Ausweiskontrollen will das soziale Netzwerk wieder Vertrauen in die Nutzerprofile schaffen. Dass dadurch Dissidenten in Ländern wie China oder dem Iran, die sich durch solche Profile dem Staatsapparat entzogen, in lebensgefährliche Situationen gebracht werden, wird freilich nie thematisiert.

 

Unmittelbarkeitsphantasien

 

Das Transparenzideal, das heute geradezu unangefochten zum letztgültigen Konsensmotiv geworden ist, lebt von jenem Dualismus, den es zu bekämpfen beansprucht. Es geht darum, dort ein Kontinuum herzustellen, wo bislang die Dinge getrennt liefen, und buchstäblich gleichzusetzen, was abgegrenzt blieb. Wir rühren an ein entscheidendes Moment der Transparenzlogik: Es geht um die Einrichtung einer Durchlässigkeit, wobei gerade jene aktive Einrichtung verneint wird. Dass Transparenz hergestellt werden muss, dass sie das Ergebnis einer Produktion ist, kann wiederum nicht zum Thema gemacht werden, wenn man nicht erneut in Gefahr geraten will, zu denjenigen zu gehören, die Zwischeninstanzen und damit Möglichkeiten der Verfälschung einführen. Im Gegenteil: Das Prinzip der Transparenz widersetzt sich der Idee der Gemachtheit, in der immer schon die Gefahr der Machenschaften schlummert. Genau darin wird Transparenz zur Falle.

Die Verdachtsmaschine ist dabei wesentlicher Bestandteil der Argumentation. Könnte nicht auf die potenzielle Bedrohung durch die Hinterbühne verwiesen werden: Die Transparenzforderung verlöre einiges an Attraktivität. Nicht nur Verschwörungstheoretiker bedienen sich des Arguments; angesehene Theoretiker tun dies gleichermaßen: In Bezug auf die gegenwärtige politische Situation warnt der viel diskutierte Polittheoretiker Colin Crouch vor massiven Transparenzdefiziten. Zwar würden in der Postdemokratie weiterhin Wahlen abgehalten, doch diese seien nichts anderes als „politische Inszenierung“, in deren Schlagschatten dafür die „reale Politik hinter verschlossenen Türen“ gemacht würde (Colin Crouch: Postdemokratie, übersetzt von Nikolaus Gramm, Frankfurt am Main 2008, S. 10). Die Zurückweisung der Repräsentation verbindet sich mit einer Verteidigung der transparenten Unmittelbarkeit, welche mehr Aufrichtigkeit verspricht, und zwar nicht nur im politischen Bereich, sondern auch in der Privatwirtschaft – empirische Auswertungen von Jahresansprachen etwa von Geschäftsführern internationaler Firmen belegen, dass transparency und authenticity gegenwärtig die zwei beliebtesten Schlagwörter sind.

Die Forderung nach einem Ende des Spektakels und nach einem Ende der Ästhetisierung – kurzum: nach einer Moralisierung der Verhältnisse – läuft darauf hinaus, jedem Akteur einen eindeutigen Platz zuzuweisen und von ihm eine endgültige Positionierung zu verlangen. In diesem Sinne ist Transparenz weniger Voraussetzung denn Verunmöglichung von Kritik. Wenn Kritik bedeutet, Unterscheidungen vornehmen zu können, Trennlinien aufzuzeigen, Differenzen kenntlich zu machen und das Nichtidentische hervorzukehren, dann muss eine Pluralität von Rollen möglich sein, eine Vielzahl von Positionen. Das theatrale oder ästhetisierende Moment ist, allen Neopuritanern zum Trotz, untilgbar; eine erscheinungsfreie Politik würde geradewegs auf ihre eigene Abschaffung zusteuern. Hierbei eignet dem Scheinwerferlicht der Transparenz, von dem Louis Brandeis und Julian Assange sprechen, ein eigentümlicher Status, denn als Medium der Aufdeckung ist dieses Moment nötig und misslich zugleich, weil es selbst wieder eine Form von Intervention darstellt, wo doch eigentlich das Versprechen einer Abschaffung aller äußeren Eingriffe im Raum steht. Der Prozeduralismus der Transparenzregime hat mit dem geburtsbedingten Problem zu kämpfen, dass es hier um Verfahren geht, die selbst nichts mehr bewirken dürfen, ohne sich dem Verdacht auszusetzen, selbst wiederum parteiisch zu sein: Dinge, Personen und Situationen sollen so ins Licht gerückt werden, wie sie waren, bevor überhaupt Licht auf sie fiel. Diese neue Bühne der Öffentlichkeit, die ihre eigene Theatralität verleugnet, bedarf einer entsprechenden Reflexion.

 

Hypertransparenz und Blindheit

 

„Wer nichts zu verbergen hat, hat nichts zu befürchten“, so das Mantra im Transparenzdiskurs, und dieser Logik entsprechend gilt es, durch fortwährende Selbstenthüllung unter Beweis zu stellen, dass kein Winkel unausgeleuchtet bleibt. Der freiwillige Anschluss der Individuen an Kommunikationsnetzwerke wird symbolisch honoriert und durch andauernde Reizbestätigung unterhalten. Doch zugleich besagt das transparentistische Mantra, dass es nichts geben soll, was es zu verbergen gäbe. Das Wissen um Massenüberwachung führt zu neuen, flächendeckenden Formen der (Selbst-)Zensur: In vorauseilendem Gehorsam fügt sich der gläserne Bürger mutmaßlichen Konformitätserwartungen und verschreibt sich neuen Imperativen von Unauffälligkeit. Der Hypertransparenz, die sich auf der einen Seite breitmacht, steht eine immer umfangreichere Blindheit auf der anderen entgegen. Beide Entwicklungen führen zu einer Erosion eines öffentlichen Raums der kritischen Auseinandersetzung.

Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang das Wikileaks-Motto „Privatheit für die Schwachen, Transparenz für die Mächtigen“ (Privacy for the weak, transparency for the powerful). Auf den ersten Blick hat man es, wenn an die Rechenschaftspflicht der Entscheidungsträger erinnert wird, mit einer Re-Aktualisierung einer aufklärerischen Forderung für das 21. Jahrhundert zu tun. Der Schein trügt jedoch, denn hier wird nicht von den Entscheidungen und ihren Relevanzbereichen her argumentiert, sondern aus einem Machtgefälle heraus, das zumindest teilweise auch ökonomisch motiviert wird. Wenn Wikileaks eine messerscharfe Trennlinie zwischen verschiedenen Trägern von Rechten zieht, dann muss die Frage erlaubt sein, von welchem Standpunkt aus eine solche Trennlinie gezogen wird. Wo Privatheitsrechte oder Transparenzanforderungen an Einzelpersonen geknüpft werden, findet eine unheilvolle Personalisierung des Rechts statt, ganz zu schweigen davon, dass grundlegende Personenrechte jenen Individuen verweigert werden, die etwa politische Ämter bekleiden. Gegen eine solche, weithin arbiträre Auseinanderdividierung der Gesellschaft, aber auch gegen jene Formen von liberalem Paternalismus, der Individuen vorschreibt, welche Lebensbereiche sie ein für alle Mal privat zu halten haben, ist es an der Zeit, die Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem neu zu definieren.

 

Die unvermeidliche Theatralität von Demokratie

 

Die Verteidigung eines unantastbaren Innenreichs, in das kein öffentliches Scheinwerferlicht jemals fallen darf, ist schon aus historischer Sicht überaus problematisch. In Bezug auf Frauenrechte etwa lässt sich nachweisen, dass die Verfestigung von Privatheitsdiskursen im 19. und 20. Jahrhundert vielfach dazu führte, patriarchale Ordnungsgefüge weiter zu verfestigen, insofern davon ausgegangen wurde, dass das, was zwischen vier Wänden passierte, niemanden sonst etwas anging. „Das Private ist politisch“ – dieses Motto, das ebenfalls mit dem Second-wave-Feminismus verbunden ist, war ein Versuch, die Aufmerksamkeit auf die Tatsache zu lenken, wie gewaltsam das Private sein kann; wenn etwa Sex in der Ehe unter allen Umständen als eine rein private Angelegenheit anzusehen wäre, gäbe es keinerlei Möglichkeit, gegen häusliche Gewalt oder Vergewaltigungen in der Ehe vorzugehen. Anders formuliert: Die Grenzziehung zwischen dem, was öffentlich, und dem, was privat ist, sollte weder im Ermessen des Individuums liegen noch einer gesellschaftlichen Institution überlassen werden, sondern stellt eindeutig eine politische Angelegenheit dar, die als solche kollektiven Aushandlungsprozessen unterzogen werden muss.

Jenseits des transparentistischen Konformismus, aber auch der Verteidigung einer fest abgegrenzten Privatsphäre geht es vielmehr darum, heute wieder Bereiche zu verteidigen, in denen freier und spielerischer mit Selbstzuweisungen umgegangen werden kann. Es muss möglich sein, sich in bestimmten Praktiken üben zu können und sich in Kollektiven gemeinschaftlich zu betätigen, ohne dass dadurch unmittelbar Berufschancen verspielt oder Zukunftsperspektiven verschlossen werden; unterschiedliche Dimensionen von Unauffälligkeit sind für unterschiedliche Regionen unseres Selbst nötig. In Anbetracht der Rechenfähigkeit von Big Data, die in der Lage sind, auch anonymisierte Datensätze durch Querverbindungen treffsicher entsprechenden Endnutzern wieder zuzuweisen, ist die Fähigkeit, derlei Dimensionen voneinander zu entkoppeln, dringlicher denn je.

Es muss möglich sein, dass nicht jeder künftige Arbeitgeber unser gesamtes vorheriges Leben überschaut und in jede, jemals getätigte Äußerung Einblick nehmen kann. Nicht nur aus Gründen des Datenschutzes, sondern weil es möglich sein muss, dass wir nicht auf ewig mit dem- oder derjenigen übereinstimmen müssen, die wir einmal waren. Gegen die neue existenzielle Metrik und das biographische Ranking, gegen die flächendeckende Verdatung unserer Leben eröffnet die Möglichkeit, sich einer festgelegten und endgültigen Zuschreibung zu entziehen, verteidigungswerte Freiräume für alternative Prozesse der Subjektivierung. Probehandeln ist nicht nur in der frühkindlichen Entwicklung ein entscheidendes Moment; in jedem Alter bleibt Theatralität als das Ausprobieren alternativer Seins-, Wahrnehmungs- und Handlungsweisen eine maßgebliche Bedingung für das Offenhalten von Existenz. Nur unter dieser Voraussetzung können Individuen, aber auch Demokratien tatsächlich transformativ sein.

 

Emmanuel Alloa, Professor für Ästhetik und Kunstphilosophie, Universität Freiburg (Schweiz).

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