Asset-Herausgeber

Die Zukunft der Wirtschafts- und Währungsunion

von Christian Calliess

Bausteine eines Package Deals zur Reform des Euroraums

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Mit der weltweiten Finanzkrise und der durch sie befeuerten Krise im Euroraum wurde deutlich, dass der mit dem Vertrag von Maastricht 1992 angestoßene Euroraum ein „Schönwetterraum“ geblieben ist, der auf stürmische Zeiten nicht genügend vorbereitet war und es – trotz aller Reformbemühungen der vergangenen Jahre – auch noch nicht ist. Es hat sich gezeigt, dass die bloße Koordinierung der nationalen Wirtschaftspolitiken nicht ausreicht, um die aufgrund der bestehenden monetären und wirtschaftlichen Verflechtungen in einer Währungsunion notwendige wirtschaftspolitische Anpassung an die gemeinsame Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) zu ermöglichen. Der regelbasierte Ansatz im Bereich der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) stößt aus Gründen der Praktikabilität und aus politischen Gründen oftmals an seine Grenzen. Es gilt, daraus Konsequenzen zu ziehen, ohne dabei den regelbasierten Ansatz aufzugeben. Ergänzend dazu sollte eine Mischung aus institutioneller Kontrolle und finanziellen Anreizen angestrebt werden.

Jede Reform der Wirtschafts- und Währungsunion hat sich an den vertraglichen Leitprinzipien zu orientieren. Zu diesen Leitprinzipien gehören nicht nur die genannten Verfassungsprinzipien der Solidarität, der Subsidiarität und der Demokratie, sondern auch die spezifischen vertraglichen Leitprinzipien der Wirtschafts- und Währungsunion, konkret die der Stabilität und Konditionalität. Sie definieren den Rahmen, in den sich jeder Reformvorschlag in einem fruchtbaren Zusammenspiel mit den jeweils anderen Leitprinzipien einpassen muss.

Stabilitätsprinzip ist Geschäftsgrundlage

Zunächst könnten im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspakts mitgliedstaatliche Ausgaben, die mit der Umsetzung vorab definierter europapolitischer Prioritäten korrespondieren oder aus diesbezüglichen nationalen Sonderbelastungen resultieren, stärker berücksichtigt werden.

Ganz in diesem Sinne könnten auch die bestehenden europäischen Strukturfonds im Rahmen des anstehenden Mehrjährigen Finanzrahmens (MFR) nach 2019 in der Weise neu ausgerichtet werden, dass nicht nur die Einhaltung rechtsstaatlicher Mindeststandards gefordert ist, sondern auch die Umsetzung von im Rahmen des Europäischen Semesters identifizierten Strukturreformen durch finanzielle Anreize unterfüttert wird.

Die Wirtschafts- und Währungsunion ist vertraglich als Stabilitätsgemeinschaft konstruiert. Das Stabilitätsprinzip ist – wie das Bundesverfassungsgericht bereits in seinem Maastricht-Urteil zu Recht hervorgehoben hat – ihre Geschäftsgrundlage. Im Lichte dieses Prinzips ist Solidarität erlaubt und – zumindest aus europarechtlicher Sicht – sogar geboten, wenn die Stabilität des Euroraums in seiner Gesamtheit gefährdet ist. Jedwede solidarische Hilfen sind aber nur zulässig, wenn sie dazu dienen, die durch einen Mitgliedstaat gefährdete Stabilität des Euroraums wiederherzustellen. An dieser Stelle kommt dem Konditionalitätsprinzip eine Brückenfunktion zu, indem es das Zusammenspiel von Stabilitäts- und Solidaritätsprinzip ausgestaltet. Konditionalität gewährleistet, dass finanzielle Hilfen allein dazu dienen, Reformen zu ermöglichen, die mittelfristig die Stabilität des Euroraums gewährleisten.

Unter dem Aspekt wechselseitiger Solidarität ist es deswegen legitim, wenn die Europäische Union (EU) grundlegende Reformprozesse in den Mitgliedstaaten in Ergänzung eines regelbasierten Ansatzes durch finanzielle Anreize unterstützt und erleichtert, diese dann aber an die Einhaltung von vereinbarten Bedingungen, Auflagen und Regeln koppelt.

Zunächst kann dem Prinzip der Konditionalität dadurch entsprochen werden, dass jedweder Zugang zu Instrumenten der Solidarität an die Einhaltung der Regeln der Wirtschafts- und Währungsunion (konkret an den Stabilitäts- und Wachstumspakt, das Europäische Semester sowie die Mindeststandards der Rechtsstaatlichkeit) gekoppelt ist.

Insoweit Finanzmittel aus den genannten Fonds zur Umsetzung von politischen Prioritäten oder Reformen an einen Mitgliedstaat f ließen, ist eine konkrete Vereinbarung zwischen Mitgliedstaat und EU in Form eines Partnerschaftsabkommens zu schließen.

No-bail-out-Klausel

Institutionen der Kontrolle (etwa in Form eines Netzwerks Europäischer Wettbewerbs- und Stabilitätsräte oder vermittelt über einen Europäischen Währungsfonds) müssen von der Politik unabhängig agieren können. Ihre auf Expertise gestützte Bewertung dient primär dazu, die demokratisch legitimierten politischen Entscheidungsträger (sei es die Kommission, die Eurogruppe, ein Europäischer Wirtschafts- und Finanzminister oder eine Europäische Wirtschaftsregierung) begründungspflichtig und rechtfertigungspflichtig zu machen.

Die Abweichung von ihrer Bewertung sollte im politischen Prozess an qualifizierte Mehrheiten oder sogar Einstimmigkeit in den politischen Organen geknüpft werden. In jedem Fall stellen ihre Bewertungen eine solide und robuste Grundlage für die am Finanzmarkt zu treffenden Entscheidungen dar, wodurch die Rolle der No-bail-out-Klausel gestärkt würde.

Im Bereich institutioneller Kontrolle geht es nicht nur um Aufsicht, sondern auch um ein verbessertes „Ownership“ hinsichtlich der notwendigen Reformen in den Mitgliedstaaten. In diesem Rahmen müssen Verfahren der Zusammenarbeit entwickelt werden, die vom Informationsaustausch bis hin zu einer fachlichen, personellen oder technischen Unterstützung durch die europäische Ebene – etwa nach dem Vorbild des Structural Reform Support Service (SRSS) der Europäischen Kommission – reichen können.

Im Prinzip der Subsidiarität spiegelt sich zunächst das Prinzip der Eigenverantwortlichkeit. Letztere spielt vor allem mit Blick auf die mitgliedstaatliche Haushaltspolitik und damit die Budgethoheit der nationalen Parlamente eine maßgebliche Rolle. Im Staaten- und Verfassungsverbund der EU geht es ebenso wenig wie in der Wirtschafts- und Währungsunion um die Zentralisierung der Wirtschafts- und Fiskalpolitik. Vielmehr geht es um eine europäische Überformung nationaler Politiken und eine graduell abgestufte Verzahnung dieser mit der europäischen Ebene. Insoweit kommt es auf die verhältnismäßige Ausgestaltung an.

Beschränkung der Haushaltssouveränität

Werden die rechtsverbindlichen Stabilitätskriterien durch einen Euromitgliedstaat verletzt, können die zuständigen europäischen Institutionen verbindliche Vorgaben für die sparsamere Gestaltung seines Haushalts machen, sofern diese abstrakt bleiben und nicht konkrete Eingriffe in bestimmte nationale Haushaltstitel einfordern.

Demgegenüber sind sogar konkrete Vorgaben im Hinblick auf diejenigen Mitgliedstaaten der Eurozone zulässig, deren Haushaltssituation sich so weit von den für alle Eurostaaten verbindlichen Stabilitätskriterien entfernt hat, dass Nothilfen aus dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) erforderlich werden. Denn ein überschuldeter Mitgliedstaat, der unter den ESM schlüpft (sogenannter Programmstaat), hat nur noch die Wahl zwischen einem Staatsbankrott und der Inanspruchnahme von Nothilfen aus dem ESM. Mit der Entscheidung für die an Auflagen geknüpften Nothilfen aus dem ESM willigt der Empfängerstaat so gesehen autonom in eine Beschränkung seiner Haushaltssouveränität ein.

Kleine Vertragsänderung

Im Zuge einer Reform des Euroraums, die zu einer stärkeren Europäisierung der Wirtschafts- und Fiskalpolitik führt, kann demokratische Legitimation nicht allein durch das Europäische Parlament vermittelt werden. Mit Blick auf ihr Budgetrecht („Königsrecht“) sollten die nationalen Parlamente in jenen Politikfeldern eingebunden werden, die von der erforderlichen Übertragung neuer Kompetenzen (zum Beispiel in den Bereichen Fiskal-, Wirtschafts- und Sozialpolitik) auf die europäische Ebene betroffen sind. Insoweit gibt es verschiedene Varianten, die von einem aufschiebenden Vetorecht nationaler Parlamente bis hin zu einer Dritten Kammer oder einer Kombination dieser beiden Varianten reichen können.

Die Erfahrung des Verfassungsentwurfs von 2004 und des Vertrages von Lissabon 2009 haben gezeigt, dass eine umfängliche Vertragsrevision politisch schwer zu verwirklichen ist. Jedoch bedarf es mit Blick auf die nachhaltige Krisenfestigkeit des Euroraums keiner großen Revision der Verträge nach dem Vorbild des Vertrags von Lissabon. Vielmehr könnte nach dem Vorbild der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986, mit der das Weißbuch zur Vollendung des Binnenmarktes rechtlich und institutionell flankiert wurde, eine kleine Vertragsänderung vorbereitet werden, die aufgrund ihres technischen und die gegenwärtigen Verträge allein im Bereich der Wirtschafts- und Währungsunion vervollständigenden Charakters ohne die Notwendigkeit eines Verfassungskonvents und daher wohl auch ohne Referenden in den Mitgliedstaaten durchgeführt werden könnte.

Der vorliegende Beitrag beruht auf verschiedenen Papieren, die in den Sitzungen einer Reflexionsgruppe der Konrad-Adenauer-Stiftung zur Zukunft der Wirtschafts- und Währungsunion über das Jahr 2016 bis zum Juni 2017 vom Verfasser vorgestellt und zur Diskussion gestellt wurden. Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Auffassung des Verfassers wieder und bindet in keiner Weise die Institution, der er angehört.

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Christian Calliess, geboren 1964 in Düsseldorf, Professor für Öffentliches Recht und Europarecht an der Freien Universität Berlin (seit 2015 beurlaubt), Rechtsberater des European Political Strategy Center (EPSC) des Präsidenten der Europäischen Kommission.

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