Die Partei „Demokratische Allianz“ (DA) ist plötzlich da. Im (fiktiven) „Freistaat“ hat sie die absolute Mehrheit errungen. Statt in den Landtag eilt der Wahlsieger Dominik Arndt (DA) ins Haus der Bundespressekonferenz, wo ihn Theo Koll mit ersten Fragen zu seiner neuen Rolle empfängt. Doch Arndt dementiert jede Rolle, schließlich spiele er nichts, sondern sei ganz er selbst. „Ich bin ich“, jetzt sei er einfach da, der Vertreter eines neuen „Wir“, der im vollbesetzten Saal viele Hände von Unbekannten schüttelt. Einer von euch, will er signalisieren, das abgehängte Volk da draußen ist plötzlich zur neuen Gemeinschaft geworden – und alle anderen sind nun Außenseiter. Bis auf den Ort der Handlung und den bekannten ZDF-Moderator ist natürlich alles erfunden. Das Theaterstück Ein Volksbürger hat der Jurist und Journalist Maximilian Steinbeis verfasst und im Haus der Bundespressekonferenz inszeniert. Diese „politische Farce“, so der Untertitel, reagiert auf die Farce, die eine reale Mehrheitspartei am 26. September 2024 im Thüringer Landtag aufgeführt hat. Ein populistischer Führer demonstriert im Stück maximale Selbstermächtigung, Aussetzung parlamentarischer Regeln, Unterdrückung freier Berichterstattung und Anspruch auf Deutungshoheit. Diese mögliche Verkehrung des mutigen Selbstdenkers bei Immanuel Kant zum radikalen Querdenker unserer Zeit, vom Kämpfer der Aufklärung für Gewaltenteilung, Meinungsfreiheit und Mitbestimmung zum Volkstribun der Gemeinschaft gegen das politische Establishment, gehört auch zum Gegenstand eines klugen Essays des Philosophen Ralf Konersmann.
Den Buchtitel Außenseiter nutzte Howard S. Becker bereits 1963 für seine Sociology of Deviance und der Germanist Hans Mayer 1975 für sein Hauptwerk mit der These, die bürgerliche Aufklärung habe an Juden, Homosexuellen und Frauen versagt.
Konersmanns aktuellere „Grammatik des Sozialen“ mag diesen Vorgängern einiges verdanken. Gegenüber dem amerikanischen Soziologieprofessor Becker und dem Literaturwissenschaftler Mayer argumentiert Konersmann jedoch als Begriffs- und Ideenhistoriker. Als Mitherausgeber des Historischen Wörterbuchs der Philosophie schrieb er einmal einen Aufsatz über Die Metapher der Rolle und die Rolle der Metapher. Den Populisten im Theaterstück hätte das gut erfasst. Indem dieser Vertreter des neuen „Wir“ nämlich behauptet, keine Rolle zu spielen, gibt er sich selbst die Pose eines erwählten Außenseiters, der sich ermächtigt, der andersdenkenden Mehrheitsgesellschaft die Außenseiterrolle zuzuweisen.
Nostrozentrik, Egozentrik, Exzentrik
Das Wort ‚Außenseiter‘ „sagt, wie es ist“, meint Konersmann: Etwas steht außerhalb oder an der Seite und wird durch die Endung ‚r‘ zur Figur. Diese Position bestimmen diejenigen, die sich drinnen befinden und das Sagen haben. Außenseiter – etwa Rebellen, Individualisten, Bohemiens, Dandys, Unangepasste – wurden zu manchen Zeiten bewundert; zu anderen dominierte eher die „emphatische Kollektivität“ des Wir, die „Nostrozentrik“ über die Egozentrik und Exzentrik. Die Abweichung von der Norm ist so zum Verdachtsfall geworden.
Für die Beobachtung des Außenseiters im Sozialen und Intellektuellen wählt Konersmann die „ungebundene Darstellungsform des Essays“. In der philosophischen Theoriebildung gilt sie als randständig, seit Michel de Montaigne verspricht sie gegenüber dem rein systematischen, an Prämissen und Schlussfiguren orientierten Denken aber besonderen Erkenntnisgewinn. So verhält es sich auch mit diesem Buch. Wenn Außenseiter sich etwa mit Jean-Jacques Rousseau viel auf ihr Anderssein zugutehalten, verdienen sie auch eine Betrachtung, die über die beengenden Grenzen von dezimalen Gliederungen und Schubladendefinitionen hinausgeht. Wie Rousseau sein Ich in Die Bekenntnisse schonungslos als überindividuelle Wahrheit offenlegt, so ist auch die Gewissheit des Sokrates vom eigenen Nichtwissen gegenüber dem Orakel radikal. Beide stehen außerhalb, machen Autoritäten das Recht streitig, über sie zu urteilen. Sie beweisen der Mehrheit einen starken Charakter: Ecce homo. Rousseaus „Ich der Bekenntnisse ist sich selbst sein Grund“. An diesem Punkt und nicht erst mit Maxim Billers für sich selbst reklamierten „Ich-Zeit“ beginnt Konersmanns Geschichte. Für ihn leitet der trotzige Rousseau die Moderne als „das Zeitalter der Außenseiter“ ein. Der Begriff ‚Outsider‘ kommt erst etwas später (um 1800) im englischen Pferdesport auf und gelangt um 1900 ins Deutsche.
Außenseiter im Sport versuchen, zum Hauptfeld aufzuschließen und qua Fitness weiter nach vorn zu dringen. Der politische Populist erreicht das nicht durch sportlichen Wettkampf, sondern durch Konformität, als Sprachrohr einer gleichgesinnten Gemeinschaft. Außenseiter, gedacht als Wir-Kollektiv, das plötzlich die Mehrheit zur Minderheit erklärt. Oder man spielt überhaupt nicht mit und steigt bewusst aus. Bei Thomas Hobbes sichert Konkurrenz jedem einen spezifischen Platz in der bürgerlichen Gesellschaft – oder besiegelt den Ausschluss, als „misfit“ im unvernetzten Abseits. Aus dem so gestuften Raum des Sozialen treten die besten Köpfe hervor; in Raffaels Gemälde Die Schule von Athen wird Diogenes – undogmatisch, mit einem einzigen Blatt in der Hand, allein unter anderen Philosophen – zum frühen Sinnbild von Kants Autonomiegedanken.
Als Außenseiter erscheint, wer die Glaubenssätze und Normen einer Gesellschaft hinterfragt. Für die meisten Philosophen sollte das gelten. Antisthenes, dem sich Diogenes anschloss, gehört im 4. Jahrhundert vor Christus zu den ersten, die Ethos nebst Kultur über Politik stellen. Gesetze der Tugend rangieren für ihn vor den Gesetzen des Staates. Überhaupt sei sich der Weise selbst genug. Nicht nur Rousseau wird das später wiederholen. Das Lachen, das den Sterngucker Thales beim Sturz in den Brunnen trifft, haben Philosophen für ihre selbstgewählte Sonderstellung nicht verdient. Unabhängige Denkformen bleiben auch dann produktiv, wenn sie sozial ausschließen. Auch in Platons Höhlengleichnis kann man dem hypothetischen Lichtsucher nach draußen folgen oder sich grundsätzlich mit Sokrates und Seneca um geistige Überwindung des Gewohnten bemühen. Heute stimmt indes die Forschungspolitik gern in den Spott der Thrakerinnen über das weltfremde, scheinbar nutzlose Denken der Philosophen ein und kürzt den Geisteswissenschaften die Mittel. Das ist verordnetes statt selbst gewähltes Außenseitertum.
Außen und Innen
Konersmanns Überlegungen zeichnen ein ambivalentes Bild des Außenseiters in unserer Zeit. Der Schutz von Minderheiten kann in Konflikt mit Interessen der Mehrheit geraten, Vielfalt eröffnet neue Perspektiven auf die Einheit, die individuelle Freiheit mag unter dem Gebot der allgemeinen Gleichheit leiden. Teilt man in der Thales-Anekdote eher die Sicht der praktisch zupackenden Thrakerinnen oder verteidigt man das gar nicht so weltfremde Interesse des auf die Sterne blickenden Astronomen? Sympathisiert man mit dem Common Sense und dem berechtigten Anspruch einer anschaulichen Populärwissenschaft oder begründet man die Notwendigkeit einer abstrakten Spezialforschung, die etwa die Natur in bloße Zahlenreihen übersetzt? Plädiert man mit Montaigne für eine erfahrungsgeleitete „Schule der Welt“ oder verharrt man lieber in der „Engstirnigkeit“ des schulphilosophischen „scholastischen Weges“?
Wohin der so klug fragende, flanierend denkende und überaus elegant schreibende Ralf Konersmann unsere Aufmerksamkeit lenken will, scheint klar. Als Aufklärer kann er sich für den stets optimistisch bleibenden Außenseiter Candide begeistern, ohne deshalb die pragmatische Antwort auf die durch Katastrophen satirisch infrage gestellte Metaphysik zu leugnen: Vielleicht ist bei Voltaire der Mensch ja tatsächlich für die Arbeit und nicht für die Muße gemacht, wie Candides Lehrer Pangloß einwendet. Die moderne Gesellschaft bedarf der intentionellen Außenseiter (wie Hans Mayer sie nennt), die mutig von normierten Erwartungen und Gewohnheiten abweichen, um unkonventionell, originell und risikofreudig zu denken und zu schaffen. Ihre Bedeutung hebt Konersmann stark hervor. Auf Opfer der Ausgrenzung geht er kaum ein; und auf selbst ermächtigte „Volksbürger“ wie in dem eingangs erwähnten Theaterstück nur am Rande. Neue Führer, die sich als Stimme gesellschaftlich abgehängter Außenseiter aufspielen und von außen die politische Macht im Zentrum ergreifen wollen, wären den Förderern des Geistes bei Konersmann jedoch entschieden entgegenzustellen. Denn vor diesen Feinden unserer Demokratie ist zu warnen.
Alexander Košenina, geboren 1963 in Würzburg, Professor für Deutsche Literatur des 17. bis 19. Jahrhunderts, Leibniz Universität Hannover. Er schreibt regelmäßig für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“.